Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 V 206



99 V 206

61. Urteil vom 3. Dezember 1973 i.S. D'Aloia gegen Ausgleichskasse des
Kantons Bern und Versicherungsgericht des Kantons Bern Regeste

    Schweizerisch-italienisches Abkommen über Soziale Sicherheit (Art. 8
lit. a). Saisonarbeiter können ihren zivilrechtlichen Wohnsitz in der
Schweiz haben, wenn sie daselbst dauernd zu verbleiben beabsichtigen und
ihre Aufenthaltszeit zur Erlangung einer Ganzjahresbewilligung genügt.

Sachverhalt

    A.- Am 5. Oktober 1971 meldete der italienische Staatsangehörige Mario
D'Aloia seinen am 1. Juli 1969 in der Schweiz geborenen Sohn Pasqualino
bei der Invalidenversicherung und suchte um medizinische Massnahmen sowie
Hilfsmittel nach. Das Kind leidet an den Folgen einer im Dezember 1969
aufgetretenen Säuglingstoxikose. Mit Verfügung vom 30. November 1971
wies die Ausgleichskasse das Begehren ab, da mangels zivilrechtlichen
Wohnsitzes in der Schweiz die versicherungsmässigen Voraussetzungen
gemäss Art. 8 lit. a des schweizerisch-italienischen Abkommens über
Soziale Sicherheit nicht erfüllt seien.

    B.- Gegen diesen Entscheid erhob Mario D'Aloia Beschwerde bei der
kantonalen Rekursinstanz und machte geltend, seit dem 15. Juni 1971
verfüge er über eine Ganzjahresbewilligung.

    Die Vorinstanz veranlasste zusätzliche Abklärungen über den
Zeitpunkt des Eintritts der Invalidität, welche ergaben, dass die
Erkrankung am 8. Dezember 1969 aufgetreten war und am 12. Dezember 1969
eine notfallmässige Überweisung ins Kinderspital Basel notwendig gemacht
hatte. Mit Entscheid vom 27. September 1972 wies das Versicherungsgericht
des Kantons Bern die Beschwerde ab. Zwar sei ausnahmsweise auch
bei Saisonarbeitern Wohnsitz anzunehmen, wenn innert kurzer Zeit
mit der Erteilung einer Ganzjahresbewilligung gerechnet werden
könne. Im Zeitpunkt des Versicherungsfalles hätte Mario D'Aloia bei
rechtzeitiger Gesuchstellung aber noch rund 14 Monate bis zur Erteilung
der Ganzjahresbewilligung warten müssen. Ein solcher Zeitraum könne nicht
als "verhältnismässig kurz" im Sinne der Rechtsprechung gewertet werden.

    C.- Für Pasqualino D'Aloia lässt dessen Vater den kantonalen Entscheid
durch Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Eidg. Versicherungsgericht
weiterziehen. In der Begründung wird ausgeführt, Mario D'Aloia sei
entgegen der Annahme der Vorinstanz nicht erst seit 1966, sondern schon
seit 1957 - mit einem Unterbruch in den Jahren 1962 und 1964 - in der
Schweiz als Saisonnier tätig. Bereits in den Jahren 1969 und 1970 habe
er um eine Ganzjahresbewilligung nachgesucht, ohne jedoch Erfolg zu haben.

    Aus Beilagen zur Beschwerdeschrift geht hervor, dass ein erstes
Gesuch vom 20. November 1969 abgelehnt worden ist, weil der Arbeitgeber
im Sinne der damals geltenden betrieblichen Plafonierungsregelung
keinen offenen Platz in seinem Fremdarbeiterkontingent hatte. Das am
3. November 1970 gestellte zweite Gesuch scheiterte dagegen am Umstand,
dass im damaligen Zeitpunkt die für Umwandlungsfälle festgesetzte Quote
im Rahmen des kantonalen Kontingentes an Ganzjahresbewilligungen bereits
ausgeschöpft war.

    Während die Ausgleichskasse von einer Stellungnahme absieht,
beantragt das Bundesamt für Sozialversicherung Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Streitig ist, ob Pasqualino D'Aloia Anspruch auf
Eingliederungsmassnahmen der schweizerischen Invalidenversicherung
hat. Der Beurteilung dieser Frage ist das seit dem 1. September 1964 in
Kraft stehende schweizerisch-italienische Abkommen über Soziale Sicherheit
vom 14. Dezember 1962 zugrunde zu legen. Laut dessen Art. 8 lit. a haben
minderjährige Kinder italienischer Staatsangehörigkeit Anspruch auf
Eingliederungsmassnahmen, solange sie in der Schweiz Wohnsitz haben und
wenn sie sich unmittelbar vor Eintritt der Invalidität ununterbrochen
während mindestens eines Jahres in der Schweiz aufgehalten haben
oder daselbst entweder invalid geboren sind oder sich seit der Geburt
ununterbrochen aufgehalten haben. Voraussetzung ist in jedem Fall, dass
der Minderjährige Wohnsitz in der Schweiz hat (EVGE 1969 S. 47 ff.).
Gemäss Ziff. 9 des Schlussprotokolls zum erwähnten Abkommen ist der
Ausdruck "Wohnsitz haben" im Sinne des schweizerischen Zivilgesetzbuches
zu verstehen, wonach sich der Wohnsitz grundsätzlich an dem Ort befindet,
an dem sich eine Person mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält
(Art. 23 Abs. 1 ZGB).

    Die für den Leistungsanspruch massgebenden versicherungsmässigen
Voraussetzungen müssen bei Eintritt der Invalidität verwirklicht sein,
d.h. im Zeitpunkt, in welchem der Gesundheitsschaden die für die Begründung
des Anspruchs auf die jeweilige Leistung erforderliche Art und Schwere
erreicht hat (Art. 4 Abs. 2 IVG). Entscheidend ist dabei der Zeitpunkt,
in welchem der Versicherte bzw. dessen Vertreter bei der ihm gebotenen
Sorgfalt erstmals Kenntnis davon bekommt, dass der Gesundheitsschaden
Anspruch auf Leistungen der betreffenden Art geben kann. Bei medizinischen
Eingliederungsmassnahmen entspricht dies dem Zeitpunkt, in welchem solche
Massnahmen erstmals indiziert sind (EVGE 1969 S. 223 f.).

Erwägung 2

    2.- Ausländische Arbeitnehmer, die in der Schweiz auf Grund einer
Saisonbewilligung erwerbstätig sind, vermögen in der Regel keinen
zivilrechtlichen Wohnsitz zu begründen. Die Absicht dauernden Verbleibens
in der Schweiz kann grundsätzlich so lange nicht beachtlich sein, als das
öffentliche Recht die Verwirklichung dieser Absicht langfristig verbietet
(EVGE 1963 S. 22, 1966 S. 60, 1967 S. 30; ZAK 1968 S. 235). Nach der
Rechtsprechung kann bei Saisonarbeitern ausnahmsweise jedoch Wohnsitz
angenommen werden, wenn sie sich mit der Absicht dauernden Verbleibens
in der Schweiz aufhalten und im Zeitpunkt des Versicherungsfalles
die Voraussetzungen für die Umwandlung der Saisonbewilligung in eine
ganzjährige Aufenthaltsbewilligung (vgl. Art. 12 Ziff. 1 des Abkommens
zwischen der Schweiz und Italien über die Auswanderung italienischer
Arbeitskräfte in die Schweiz vom 10. August 1964) bereits erfüllen
oder doch zu erfüllen im Begriffe sind. Im letzteren Fall muss mit
der Erteilung der Jahresaufenthaltsbewilligung innert verhältnismässig
kurzer Frist gerechnet werden können. Noch als "verhältnismässig kurz"
hat das Eidg. Versicherungsgericht eine Wartezeit von 5 (ZAK 1969 S. 508)
bzw. 8 Monaten (EVGE 1966 S. 58 ff.) anerkannt; als zu lang wurde dagegen
eine Frist von 32 Monaten erachtet, da auf derart lange Sicht nicht mit
genügender Verlässlichkeit vorauszusehen sei, ob die Jahresbewilligung
auch tatsächlich erlangt werde (ZAK 1968 S. 237 Erw. 3).

Erwägung 3

    3.- Wie die Vorinstanz richtig darlegt, ist der Versicherungsfall
spätestens am 12. Dezember 1969 eingetreten, als Pasqualino D'Aloia
wegen Kreislaufkollapses in komatösem Zustand notfallmässig ins Basler
Kinderspital verbracht werden musste. Es ist daher zunächst zu prüfen,
ob das Kind in diesem Zeitpunkt seinen zivilrechtlichen Wohnsitz in der
Schweiz hatte. Massgebend ist hiefür, ob dessen Vater in der Schweiz
Wohnsitz hatte (Art. 25 Abs. 1 ZGB).
   a) Verwaltung und Vorinstanz sind davon ausgegangen,
dass Vater D'Aloia erstmals im Februar 1966 in die Schweiz eingereist
ist und deshalb frühestens auf Februar 1971 mit der Erlangung der
Ganzjahresbewilligung rechnen konnte.

    In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird nun aber geltend
gemacht, der Beschwerdeführer sei bereits im Jahre 1957 in die Schweiz
eingereist und - mit zwei Unterbrüchen in den Jahren 1962 und 1964 -
bis heute beim gleichen Arbeitgeber tätig gewesen. Aus den Beilagen
zur Beschwerdeschrift geht hervor, dass schon vor dem Jahre 1971 um die
Erteilung einer Ganzjahresbewilligung nachgesucht wurde, nachdem Mario
D'Aloia die hiefür geltenden Voraussetzungen gemäss Art. 12 Ziff. 1 des
erwähnten Abkommens über die Auswanderung italienischer Arbeitskräfte
erfüllt hatte. Ein erstes, am 20. November 1969 gestelltes Gesuch wurde im
Rahmen der damals geltenden betrieblichen Kontingentierung vom kantonalen
Arbeitsamt abgewiesen. Ein im November 1970 gestelltes Gesuch wurde von der
kantonalen Fremdenpolizei abgelehnt, da die nunmehr kantonal festgesetzte
Umwandlungsquote erschöpft war. Erst auf Grund eines dritten Gesuches
vom 15. Juni 1971 erhielt D'Aloia die Ganzjahresbewilligung.

    Die für die Umwandlung des fremdenpolizeilichen Verhältnisses
geltenden Voraussetzungen waren objektiv bereits bei Eintritt des
Versicherungsfalles gegeben. In jenem Zeitpunkt hatte sich Mario D'Aloia
schon seit mehr als 45 Monaten im Verlaufe der vorangehenden 5 Jahre
in der Schweiz zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit aufgehalten. Er
hatte auch bereits ein Gesuch um Umwandlung der Aufenthaltsbewilligung
gestellt. Dass er die Jahresbewilligung nicht bereits Ende 1969 oder 1970
erhalten hat, ist auf Umstände zurückzuführen, die nicht in der Person des
Beschwerdeführers liegen. Insbesondere seitdem die Zahl der Umwandlungen
kantonal kontingentiert ist, lässt sich im Einzelfall nicht mehr mit
ausreichender Wahrscheinlichkeit voraussehen, in welchem Zeitpunkt der
Saisonnier die Jahresbewilligung tatsächlich erlangen wird. Es stellt
sich daher die Frage, inwieweit an der bisherigen, in EVGE 1966 S. 58 ff.
begründeten Praxis festzuhalten ist, wonach der Wohnsitz ausnahmsweise
bejaht wird, wenn der Saisonnier innert verhältnismässig kurzer Frist
mit der Erlangung der ganzjährigen Aufenthaltsbewilligung rechnen kann.

    Das Gericht gelangt zur Auffassung, von einer Einschränkung der
bisherigen Praxis sei abzusehen. Eine Änderung in dem Sinne, dass künftig
allein auf den tatsächlichen Besitz der Jahresbewilligung abzustellen wäre,
würde es verunmöglichen, der besonderen Situation der Saisonarbeiter
gerecht zu werden. Den tatsächlichen Verhältnissen ist vielmehr in
der Weise Rechnung zu tragen, dass in Fällen wie dem vorliegenden
zivilrechtlicher Wohnsitz in der Schweiz dann anzunehmen ist, wenn die
formalen Voraussetzungen für die Umwandlung der Bewilligung (Aufenthalt
zur Erwerbstätigkeit von 45 Monaten innert 5 Jahren) erfüllt sind und sich
die Absicht dauernden Verbleibens aus den objektiv erkennbaren Umständen
klar ergibt.

    b) Mario D'Aloia ist seit vielen Jahren in der Schweiz erwerbstätig. Er
verfügt über eine eigene Mietwohnung, in welcher er zusammen mit Frau
und Kind lebt. Die Ehefrau ist ebenfalls seit längerer Zeit in der
Schweiz wohnhaft und hat hier ihr Kind Pasqualino geboren. Selbst wenn
sich die übrigen zwei Kinder D'Aloia in Italien aufhalten sollten,
was den Akten nicht mit Sicherheit zu entnehmen ist, besteht kein
Zweifel, dass der Beschwerdeführer schon seit Jahren - namentlich auch im
Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalles - den Mittelpunkt seiner
Lebensbeziehungen in der Schweiz hatte. Es darf auch angenommen werden,
dass sich die Familie mit der Absicht dauernden Verbleibens in der Schweiz
aufhält. Dem steht nicht entgegen, dass der Beschwerdeführer selbst
diese Absicht im Fragebogen der Invalidenversicherungs-Kommission am 5.
Oktober 1971 als "vorläufig" bezeichnet hat. Auch ein vorübergehender
Aufenthalt schliesst die Wohnsitznahme nicht aus, sofern die Absicht
besteht, den Aufenthaltsort auch nur für kürzere Zeit zum Mittelpunkt
der Lebensbeziehungen zu machen (BGE 69 I 12, 79; 69 II 281). Diese
Absicht muss aus den objektiven Umständen jedoch klar erkennbar sein
(BGE 97 II 1 ff.). Nach dem Gesagten kann dies im vorliegenden Fall bejaht
werden. Die Voraussetzungen zur Annahme eines zivilrechtlichen Wohnsitzes
des Beschwerdeführers im Zeitpunkt des zu beurteilenden Versicherungsfalles
sind demnach erfüllt. Da sich das Kind seit der Geburt bis zum Eintritt der
Invalidität ununterbrochen in der Schweiz aufgehalten hat, erfüllt es auch
die weitere, unmittelbar mit seiner Person verbundene versicherungsmässige
Voraussetzung. Pasqualino D'Aloia hat daher grundsätzlich Anspruch auf
Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung. Es wird Sache der
Invalidenversicherungs-Kommission sein, das Leistungsbegehren materiell
zu prüfen.

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: I. Die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen.

    II.  . Die Akten werden zur materiellen Beurteilung des
Leistungsbegehrens an die Verwaltung zurückgewiesen.