Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 V 163



99 V 163

51. Auszug aus dem Urteil vom 21. März 1973 i.S. Bundesamt für
Sozialversicherung gegen Stäuble und AHV-Rekurskommission des Kantons
Zürich Regeste

    Gebrauch des Hilfsmittels (Art. 16 Abs. 1 IVV). Periodischer
Ableseunterricht in Zusammenhang mit der Abgabe von Hörapparaten
an Erwachsene ist im Gesetz nicht vorgesehen. Die einschlägige
Verwaltungspraxis ist von der Rechtsprechung nicht auszuweiten.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Im vorliegenden Falle ist nicht streitig, ob die alljährliche
konzentrierte Ableseschulung anlässlich der sogenannten Zentralkurse des
BSSV für den Beschwerdegegner notwendig und wertvoll ist. Denn Wert und
Notwendigkeit dieser Kurse sind unbestritten, zumal sie den Teilnehmern
die Kontaktnahme mit ihrer Umwelt und die Eingliederung in das Erwerbsleben
erleichtern. Zu beurteilen ist dagegen die Rechtsfrage, ob ein Versicherter
unter bestimmten Voraussetzungen von Gesetzes wegen einen Rechtsanspruch
darauf habe, dass die Invalidenversicherung alljährlich die Kosten eines
solchen zweiwöchigen Ablesekurses als individuelle Leistung übernehme.

Erwägung 2

    2.- Unter den allgemeinen Voraussetzungen des Art. 8 Abs. 1
IVG gewährt die Invalidenversicherung die im Gesetz vorgesehenen
Eingliederungsmassnahmen; laut Art. 8 Abs. 3 IVG bestehen diese
im wesentlichen in Massnahmen medizinischer und beruflicher Art,
in Sonderschulung sowie in der Abgabe von Hilfsmitteln und - sofern
eine der gesetzlichen Massnahmen durchgeführt wird und die besonderen
Voraussetzungen erfüllt sind - in der Ausrichtung von Taggeldern.

    Der Ableseunterricht ermöglicht und fördert zur Kompensation des
trotz apparativer Versorgung beeinträchtigten Gehörs die visuelle
Aufnahme der Sprache sowie - in funktionellem Zusammenhang damit -
die Verbesserung der eigenen Sprechqualität; durch ständiges Üben muss
die Ablesefähigkeit auf der Höhe gehalten werden. Das Sehvermögen wird
somit durch eine pädagogische Massnahme dem Zweck dienstbar gemacht,
das auditiv ungenügende Perzeptionsvermögen visuell zu kompensieren und
damit insgesamt zu einem für die Verständigung hinreichenden Aufnahme-
und Ausdrucksvermögen zu gelangen.

    Es versteht sich von selbst, dass dieser Unterricht nicht unter die
medizinischen Eingliederungsmassnahmen eingeordnet werden kann; denn damit
wird nicht mittels medizinischer Heilanwendungen eine Krankheit oder ein
Gebrechen angegangen (vgl. Art. 12 IVG, Art. 2 IVV).

    Es handelt sich beim anbegehrten Ableseunterricht auch nicht um eine
Eingliederungsmassnahme beruflicher Art, wie sich aus den Art. 15 bis 18
IVG ohne weiteres ergibt.

    Obschon der Ableseunterricht an sich eine Schulungsmassnahme darstellt,
kann. er dem erwachsenen Beschwerdegegner offensichtlich auch nicht
im Rahmen der Leistungen der Invalidenversicherung unter dem Titel der
Sonderschulung gewährt werden, weil diese ausschliesslich Minderjährigen
zusteht (Art. 19 IVG).

    Demnach bleibt einzig zu prüfen, ob der Ableseunterricht Bestandteil
der in der Abgabe von Hilfsmitteln bestehenden Eingliederungsmassnahmen
sei.

Erwägung 3

    3.- Setzt der Gebrauch eines Hilfsmittels, auf welches der Versicherte
gemäss Art. 21 IVG in Verbindung mit Art. 14 IVV Anspruch hat, eine
besondere Schulung des Versicherten voraus, so übernimmt die Versicherung
nach Art. 16 Abs. 1 IVV deren Kosten. Das Bundesamt für Sozialversicherung
hat im gegenwärtigen Verfahren die geltende Verwaltungspraxis betreffend
die von der Invalidenversicherung zu übernehmende Schulung (spezielles
Hörtraining und Ableseunterricht) bei der erstmaligen Abgabe von
Hörgeräten unter Hinweis auf Rz. 122 des Kreisschreibens über die Abgabe
von Hilfsmitteln (gültig ab 1. Januar 1969) und deren Handhabung in
Einzelfällen dargestellt. Das besondere Hörtraining wird bei erstmaliger
Abgabe eines Hörgerätes gegebenenfalls mit Ableseunterricht kombiniert.

    Diese Verwaltungspraxis erscheint als grosszügig, hält sich aber
gemäss Beschluss des Gesamtgerichtes vom 11. Januar 1973 im Rahmen der
gesetzlichen Bestimmungen der Art. 21 Abs. 4 IVG und 16 Abs. 1 IVV. Ein
weitergehender und wiederholter Ableseunterricht lässt sich dagegen nicht
unter die Vorschriften über die Abgabe von Hilfsmitteln und die besondere
Schulung zum Gebrauch des Hilfsmittels subsumieren. Die Versicherten haben
eben zu Lasten der Invalidenversicherung nicht zum vorneherein auf jede
mögliche und zweckmässige Eingliederungsmassnahme Anspruch, sondern nur
auf die im Gesetz ausdrücklich aufgezählten, praktisch allerdings sehr
umfangreichen Massnahmen.

    Schliesslich weist das Bundesamt für Sozialversicherung mit Recht
auf die indirekten Leistungen der Invalidenversicherung auf dem Wege
der Subventionierung der Dachorganisationen der privaten Invalidenhilfe
hin; diese Ordnung begünstigt auch den einzelnen Teilnehmer der - unter
diesem Titel mitfinanzierten - Zentralkurse des Bundes schweizerischer
Schwerhörigen-Vereine.