Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 V 136



99 V 136

43. Urteil vom 21. Dezember 1973 i.S. Boller gegen Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt und Versicherungsgericht des Kantons Zürich
Regeste

    Unfallbegriff (Art. 67 KUVG).

    Merkmal des aussergewöhnlichen äussern Schadensfaktors.

Sachverhalt

    A.- Als Betriebassistent der Firma Hefti AG, chemische Fabrik, hatte
Hans Boller für die periodische Beheizung der Lagertanks zu sorgen. Zu
diesem Zweck muss er ein hängend montiertes Dampfventil betätigen.
Dieses Ventil befindet sich etwa 3-4 m über dem Boden, weshalb zu
seiner ordentlichen Bedienung eine besonders konstruierte Stange und
eine Leiter zur Verfügung stehen. Diese beiden Hilfsmittel waren am
Morgen des 2. Februar 1972 nicht unmittelbar zur Stelle, als der bei der
Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) versicherte Hans Boller
das Ventil zu betätigen hatte. Wie schon wiederholt zuvor bestieg er die
Rohrleitungen und andern Einrichtungen der Heizungsanlage, hielt sich
mit der rechten Hand an einer Leitung fest und versuchte mit der linken
Hand das nunmehr etwa auf Kopfhöhe befindliche Ventilrad von rund 12 cm
Durchmesser zu drehen. Da die Spindel vorher frisch gedichtet worden war,
liess sich das Handrad nicht bewegen. Er versuchte deshalb, es ruckartig
zu lösen, indem er mit dem Mittel-, Ring- und Kleinfinger eine Radspeiche
fasste. Nach wiederholten Versuchen spürte er in den drei Fingern einen
stechenden Schmerz, als wären sie eingeklemmt. Nun gab er sein Vorhaben
auf. Wieder am Boden angelangt, stellte er fest, dass die drei Finger
weiss waren und sich trotz Massierens nicht mehr normal färbten.

    Da die Schmerzen nicht verschwanden, erstattete die Arbeitgeberfirma
der SUVA am 8. März 1972 Unfallanzeige. Chefarzt Dr. L. stellte anhand
einer Arteriographie "verminderte arterielle Durchblutung der Mittel-
und Endphalanx am linken Mittelfinger bei partieller Obliteration der
Aa. digitales palmaris propriae" fest; auch am 4. und 5. Strahl beständen
partielle Verschlüsse dieser Arterien; die arterielle Gefässversorgung
dieser Phalangen sei jedoch ausreichend. Für PD Dr. Sch. war es "nicht
ganz klar", ob die arterielle Durchblutungsstörung am dritten Strahl
links und in geringem Mass auch am 4. und 5. Strahl mit dem Trauma des
Drehens eines Hahns in Zusammenhang zu bringen sei; vielleicht habe sich
dadurch ein vorbestandener Schaden verstärkt. Chefarzt Dr. S. bestätigte
in seinem gutachtlichen Bericht gegenüber der SUVA die bereits erwähnte
Diagnose und vertrat die Auffassung, dass "die vom Versicherten geäusserten
Beschwerden und die objektiven Befunde sicher auf das angeschuldigte
Ereignis zurückzuführen" seien, die festgestellten Veränderungen
hätten vorbestanden und seien am ehesten als arterielle Thrombosen der
Fingerarterien zu deuten; die Veränderungen "dürfen sicher zu 50% für
die Folgen des erwähnten Ereignisses angenommen werden".

    Mit Verfügung vom 4. Dezember 1972 verneinte die SUVA ihre
Leistungspflicht, weil sich nichts ereignet habe, was als Unfall im Sinn
der Rechtsprechung gelten könnte.

    B.- Hans Boller focht diese Verfügung beim Versicherungsgericht des
Kantons Zürich an und beantragte, die SUVA sei zu verpflichten, für den
Schadenfall vom 2. Februar 1972 die gesetzlichen Leistungen zu erbringen.

    Die Vorinstanz hat die Beschwerde am 18. Mai 1973 abgewiesen, da das
schädigende Ereignis vom 2. Februar 1972 mangels einer "ungewöhnlichen
äussern Einwirkung" nicht als Unfall im Rechtssinn gewertet werden könne.

    C.- Mit der gegen diesen Entscheid gerichteten
Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt Hans Boller sein vorinstanzliches
Rechtsbegehren erneuern. Zu dessen Begründung wird im wesentlichen
ausgeführt: Das Merkmal des mehr oder weniger ungewöhnlichen äussern
Faktors sei, weil ungenau und dem Gedanken der obligatorischen
Unfallversicherung widersprechend, fallen zu lassen. Abgesehen davon sei
die Ungewöhnlichkeit des äussern Faktors hier vorhanden gewesen. Die
überraschende Feststellung des Beschwerdeführers, dass das Ventilrad
sperrte, verbunden damit, dass er aus betrieblichen Gründen rasch
habe handeln müssen, verleihe dem Sperren des Rades bzw. dem Versuch,
dieses zu lockern, besondere Bedeutung und lasse die Ungewöhnlichkeit
des Vorfalles deutlich in Erscheinung treten. Auch die Tatsache, dass
der Beschwerdeführer bei seiner Tätigkeit keinen festen Boden unter den
Füssen gehabt, sondern auf einer Rohrleitung gestanden habe und sich
habe festhalten müssen, stemple das Ereignis zum besondern Vorfall. Der
entscheidende aussergewöhnliche Faktor liege gerade darin, dass der
Versicherte beim Versuch, das Ventilrad zu drehen, Mittelhand, Daumen und
Zeigefinger nicht habe gebrauchen können und die übrigen Finger isoliert
zwischen zwei hartkantige, gusseiserne Radspeichen habe quetschen und
mit diesen ruckartig habe ziehen müssen...

    Die SUVA beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- In ständiger, von der Lehre anerkannter Rechtsprechung
qualifiziert das Eidg. Versicherungsgericht als Unfall die plötzliche,
nicht beabsichtigte schädigende Einwirkung eines mehr oder weniger
ungewöhnlichen äussern Faktors auf den menschlichen Körper (BGE 98 V 166,
97 V 2; EVGE 1966 S. 138 und 1963 S. 18; MAURER, Recht und Praxis der
schweizerischen obligatorischen Unfallversicherung, S. 86). Zuweilen ist
es schwierig, zu entscheiden, ob eine Gesundheitsschädigung die Folge
eines Unfalles oder aber einer Krankheit ist. Dies gilt insbesondere
für gewisse typische Gesundheitsschäden, die erfahrungsgemäss auch
als alleinige Folge von Krankheit, insbesondere von vorbestandenen
degenerativen Veränderungen eines Körperteils innerhalb eines durchaus
normalen Geschehensablaufes auftreten können. In derartigen Fällen müssen
die Merkmale des Unfallbegriffs besonders deutlich erfüllt sein. Vor
allem muss die unmittelbare Ursache der Schädigung unter besonders
sinnfälligen Umständen (z.B. Ausgleiten, Schlag) gesetzt worden sein;
denn das Begriffsmerkmal der Aussergewöhnlichkeit bezieht sich nach
der Definition des Unfalles nicht auf die Wirkung des äussern Faktors,
sondern nur auf diesen selber (EVGE 1969 S. 24, 1966 S. 138, 1956 S. 90,
1946 S. 32; unveröffentlichte Urteile vom 28. Januar 1970 i.S. Kummer,
27. Januar 1969 i.S. Givel, 29. Juni 1954 i.S.

    Schöni; MAURER S. 98 ff.). Diese Aussergewöhnlichkeit ist nicht schon
dann gegeben, wenn die Gesundheitsschädigung bei einer etwas ungewohnten,
der zu verrichtenden Arbeit aber angepassten Körperstellung (z.B. Knie-,
Hock- oder Kriechstellung) erfolgt (vgl. die grundlegenden Urteile in
EVGE 1932 S. 48 und 55).

    Das Eidg. Versicherungsgericht sieht sich nicht veranlasst, diese
bewährte Praxis zu ändern.

Erwägung 2

    2.- Es gehörte zu den üblichen Aufgaben des Beschwerdeführers,
das Ventilrad je nach den Temperaturverhältnissen zu handhaben. Dazu
äusserte er sich gegenüber dem Inspektor der SUVA wie folgt: "Früher
jede Woche 3 bis 4 mal das gleiche Rad auf die gleiche Weise geöffnet
bzw. geschlossen." Allerdings sei das Rad bis kurz vor dem Ereignis
vom 2. Februar 1972 für die praktische Handhabung zweckmässiger montiert
gewesen. Dem Versicherten standen aber Hilfsmittel zur Verfügung. So hätte
er eine Leiter benützen können, die jedoch am betreffenden Morgen aus
einer Entfernung von rund 200 m hätte herangeholt werden müssen und die
er offenbar selten benützte. Ferner stand ihm eine Bedienungsstange zur
Verfügung, mit der er vom Boden aus das Ventil hätte öffnen und schliessen
können. Diese Stange war aber aus unerklärlichen Gründen an jenem Morgen
nicht unmittelbar griffbereit. Indessen braucht für die Beurteilung des
vorliegenden Falles, weil unerheblich, nicht weiter geprüft zu werden,
weshalb sich der Beschwerdeführer keines der beiden Hilfsmittel bedient
hat. Es steht nämlich fest, dass er das Handrad des Ventils vorher
wiederholt auf demselben Weg erreicht hat wie am 2. Februar 1972. Es
war für den Versicherten also nichts Ungewohntes, über Gestänge und
Rohrleitungen zum Ventil hinaufzuklettern, um dieses betätigen zu können.

    Der Beschwerdeführer mag dann überrascht worden sein, als er
feststellte, dass das Rad sich nicht wie sonst üblich ohne weiteres
drehen liess, sondern blockierte, weil es anscheinend vorher vom
Betriebsschlosser "gestopft" und zu stark angezogen worden war. Darauf
versuchte er mindestens noch einmal, wahrscheinlich aber auch mehrere
Male das Rad ruckartig in Bewegung zu setzen. Seine Bemühungen blieben
erfolglos. Hingegen traten die geklagten Schmerzen mit den später ärztlich
erhobenen Befunden auf. In dieser ruckartigen Bewegung mit drei Fingern
der linken Hand kann nichts Aussergewöhnliches erblickt werden. Auch die
Form und die Grösse des Handrades, dessen Speichen anscheinend kantig
und so klein sind, dass sie sich nur mit drei Fingern fassen lassen,
haben nichts Aussergewöhnliches an sich. Aussergewöhnlich war lediglich
die durch das Ziehen bedingte schädigende Einwirkung jener Speiche auf
die drei innerlich betroffenen Finger. Wie bereits dargelegt, bezieht
sich aber das Merkmal der Aussergewöhnlichkeit nur auf den äussern Faktor
selber und nicht auch auf dessen Wirkung auf den menschlichen Körper.

    Fehlt es somit an einem aussergewöhnlichen Faktor, der auf den
Beschwerdeführer eingewirkt hätte, so kann der Vorfall vom 2. Februar
1972 nicht als Unfall im Sinn des KUVG qualifiziert werden. Demzufolge war
die SUVA befugt, Leistungen für die Folgen des Ereignisses vom 2. Februar
1972 zu verweigern...

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: Die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.