Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 V 120



99 V 120

40. Urteil vom 22. Mai 1973 i.S. Balmer gegen Krankenkassen-Verein
St. Moritz und Versicherungsgericht von Graubünden Regeste

    Parteivertretung.

    -  Die kantonalrechtliche Beschränkung der Parteivertretungsbefugnis
auf Rechtsanwälte im Krankenversicherungsprozess ist nicht
bundesrechtswidrig (Art. 30bis KUVG).

    - Dagegen ist es überspitzt formalistisch, das von einem Nichtanwalt
eingelegte Rechtsmittel ohne jede Verbesserungsmöglichkeit von der Hand
zu weisen (Art. 4 BV).

Sachverhalt

    A.- Mit Verfügung vom 18. Juli 1972 hob der Krankenkassen-Verein
St. Moritz die Mitgliedschaft von Balmer infolge Verletzung der
Anzeigefristen auf.

    B.- Balmer liess durch E.B., Sekretär des Bau- und Holzarbeiter-
Verbandes der Schweiz, Beschwerde führen mit dem Antrag, die
Ausschlussverfügung sei aufzuheben.

    Das Versicherungsgericht von Graubünden trat durch Entscheid vom
9. Oktober 1972 auf die "Klage" nicht ein mit der Begründung, gemäss
Art. 14 der Verordnung über die Organisation und das Verfahren des
kantonalen Versicherungsgerichts gelte für das Verfahren vor diesem Gericht
subsidiär die Zivilprozessordnung (ZPO). Mangels einer Bestimmung über die
Parteistellvertretung in der Verordnung gelte Art. 39 ZPO, wonach vor einem
Kollegialgericht als Parteivertreter nur handeln könne, wer im Besitze
eines bündnerischen Fähigkeitsausweises für Rechtsanwälte sei. Das KUVG
schreibe keine andere Regelung vor. Da E.B. nicht patentierter Rechtsanwalt
sei, könne er vor dem Versicherungsgericht, das ein Kollegialgericht
sei, nicht als Parteivertreter handeln. Ein Gesuch um Zulassung zur
Parteivertretung im Einzelfall, das er gemäss Art. 39 Abs. 3 ZPO an den
Gerichtspräsidenten hätte richten können, habe er auch nicht gestellt.

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt
Balmer durch Rechtsanwalt lic. iur. P. beantragen, der Entscheid des
Versicherungsgerichts von Graubünden sei aufzuheben und die Sache sei
zur materiellen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Es wird im
wesentlichen geltend gemacht, das Versicherungsgericht habe mit seinem
Nichteintretensentscheid Art. 4 BV verletzt, weil dieses Urteil einem im
Ergebnis zum Unrecht führenden überspitzten Formalismus das Wort rede,
der durch keine schutzwürdigen Interessen zu rechtfertigen sei und die
Durchsetzung des materiellen Rechts ohne sachlich vertretbare Gründe
vereitle. Der Formfehler hätte innert Frist leicht behoben werden
können; denn gemäss der Praxis des Verwaltungsgerichts des Kantons
Graubünden würden nicht legitimierte Parteivertreter auf ihre mangelnde
Vertretungsbefugnis hingewiesen und aufgefordert, dem Gericht innert
bestimmter Frist ein Vertretungsgesuch nachzureichen.

    Während das Versicherungsgericht von Graubünden auf eine Vernehmlassung
verzichtet und lediglich die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
beantragt, schliesst der Krankenkassen-Verein St. Moritz auf Bestätigung
des kantonalen Entscheides.

    Das Bundesamt für Sozialversicherung enthält sich eines Antrages,
weil nur prozessuale Fragen streitig seien. Das Amt weist indessen auf
EVGE 1965 S. 223 hin, wonach eine kantonalrechtliche Beschränkung der
Parteivertretungsbefugnis auf Rechtsanwälte im Militärversicherungsprozess
keine Verletzung des in Art. 56 Abs. 1 lit. a MVG enthaltenen Grundsatzes
darstelle, was zufolge materieller Uebereinstimmung mit dem KUVG
(Art. 30bis Abs. 3 lit. a) auch für den Krankenversicherungsprozess
gelten müsse. Eine Abweisung der Beschwerde im Sinne dieser Rechtsprechung
hätte allerdings die sozialversicherungsrechtlich peinliche Folge, dass
eine nach der Praxis des Eidg. Versicherungsgerichts ganz offensichtlich
bundesrechtswidrige Ausschlussverfügung aus rein prozessualen Gründen
gemäss Art. 30 Abs. 4 KUVG in formelle Rechtskraft erwüchse.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Es sind keine Versicherungsleistungen streitig, weshalb das
Eidg. Versicherungsgericht nur zu prüfen hat, ob der vorinstanzliche
Richter Bundesrecht verletzt, sein Ermessen überschritten oder es
missbräuchlich gehandhabt hat oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt
offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher
Verfahrensbestimmungen festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung
mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

Erwägung 2

    2.- Das erstinstanzliche Beschwerdeverfahren in
Krankenversicherungssachen gehört dem kantonalen Prozessrecht an,
muss aber den m Art. 30bis Abs. 3 KUVG aufgestellten Mindestvorschriften
genügen. Nach lit. f dieser Bestimmung ist das Recht, sich verbeiständen zu
lassen, gewährleistet. Das Gesetz enthält indessen keine Vorschriften
über die Vertretungsbefugnis. In EVGE 1965 S. 223 entschied das
Eidg. Versicherungsgericht, dass in Militärversicherungssachen
die Vertretungsbefugnis vor dem kantonalen Versicherungsgericht dem
kantonalen Recht unterworfen sei. Die kantonalrechtliche Beschränkung der
Vertretungsbefugnis auf den Anwaltsstand verstosse namentlich nicht gegen
die bundesrechtlichen Prozessvorschriften des MVG. Diese Ordnung muss
angesichts der in diesem Zusammenhang im wesentlichen übereinstimmenden
Art. 56 MVG und 30bis KUVG auch in Krankenversicherungssachen gelten.

Erwägung 3

    3.- a) Der Beschwerdeführer erblickt im vorinstanzlichen Entscheid
jedoch einen gegen Art. 4 BV verstossenden überspitzten Formalismus.
Auf diese Rüge ist einzutreten; denn mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
kann auch geltend gemacht werden, dass die letzte kantonale Instanz
im angefochtenen Entscheid bei der Anwendung kantonalen Rechts die
Bundesverfassung verletzt habe (BGE 92 I 336 Erw. 2, 96 I 89, 184,
98 I b 333 Erw. 1a, 99 V 55; GYGI, Verwaltungsrechtspflege und
Verwaltungsverfahren im Bund, S. 134 Ziff. 3.4.).

    b) Für das Verfahren vor dem bündnerischen Versicherungsgericht gilt
die Verordnung über die Organisation und das Verfahren des kantonalen
Versicherungsgerichts vom 28. November 1949 und für das Verfahren vor
dem Verwaltungsgericht das Gesetz über die Verwaltungsgerichtsbarkeit im
Kanton Graubünden vom 9. April 1967. Vor beiden Instanzen - namentlich
bezüglich der Stellvertretung - gilt subsidiär die ZPO (Art. 14 der
zitierten Verordnung und Art. 22 des Verwaltungsgerichtsgesetzes). Gemäss
Art. 39 Abs. 1 ZPO kann jeder Handlungsfähige seine Rechtsstreitigkeiten
vor Gericht entweder selbst führen oder sich hiezu eines Rechtsvertreters
bedienen, der über einen Fähigkeitsausweis für Rechtsanwälte verfügt. Auf
begründetes Gesuch kann der Gerichtspräsident auch Personen, die zwar nicht
im Besitze des Fähigkeitsausweises für Rechtsanwälte sind, im übrigen
aber die Voraussetzungen dieses Artikels erfüllen, im Einzelfall zur
Vertretung vor den Gerichtsbehörden zulassen (Abs. 3). Laut Abs. 4 muss,
wer als Rechtsvertreter auftritt, handlungsfähig sein, in bürgerlichen
Ehren und Rechten stehen und einen guten Leumund geniessen.

    Von dieser Möglichkeit scheint das Verwaltungsgericht laut der m den
Akten liegenden Auskunft des Präsidenten des Versicherungsgerichts vom
4. Januar 1973 regelmässig auf dem Formularwege - unter Ansetzung einer
lotägigen Frist - Gebrauch zu machen. Die Praxis des Kantonsgerichts -
das Versicherungsgericht ist laut dem angefochtenen Entscheid identisch mit
dem Kantonsgerichtsausschuss - ist in dieser Beziehung offenbar schwankend.

    Im vorliegenden Fall ist das Versicherungsgericht ohne Gewährung
einer Verbesserungsmöglichkeit auf die von E. B., der nicht im Besitze
des Fähigkeitsausweises für Rechtsanwälte ist, für Balmer eingereichte
Beschwerde nicht eingetreten. Es fragt sich, ob ein Anspruch auf eine
Verbesserungsmöglichkeit besteht. Da diese Frage die Anwendung kantonalen
Rechts betrifft, kann sie vom Eidg. Versicherungsgericht nur unter dem
beschränkten Gesichtspunkt der Willkür überprüft werden.

    c) Nach der Rechtsprechung verstösst ein durch die Praxis eingeführtes
oder im Gesetz aufgestelltes Formerfordernis dann gegen Art. 4 BV, wenn
es sich durch kein schutzwürdiges Interesse rechtfertigen lässt und die
Durchsetzung des materiellen Rechts ohne sachlich vertretbaren Grund
erschwert (BGE 96 I 318 und 95 I 4 Erw. 2 mit Hinweisen).

    Das schutzwürdige Interesse der grundsätzlichen Beschränkung
der Vertretungsbefugnis auf Anwälte besteht im wesentlichen in der
Gewährleistung einer juristisch und moralisch einwandfreien Vertretung
im Interesse der vertretenen Partei einerseits und einer einwandfreien
Prozessführung im öffentlichen Interesse klarer und zweckmässiger
Rechtsfindung anderseits. Die gesetzliche Ordnung des Art. 39 Abs. 1
ZPO als solche lässt sich somit auf ernsthafte sachliche Gründe stützen
und verstösst nicht gegen Art. 4 BV. Das schliesst indessen nicht aus,
dass ihre Anwendung im Einzelfall einen überspitzten Formalismus bedeuten
kann. Ein solcher liegt vor, wenn die Einhaltung der Vorschrift von Art. 39
ZPO, sich durch einen Anwalt vertreten zu lassen bzw. um die Gewährung der
Vertretungsbefugnis in Sonderfällen durch einen Nichtanwalt zu ersuchen,
durch das Versicherungsgericht in so rigoroser Weise durchgesetzt wird,
dass dem Rechtsuchenden keine Gelegenheit geboten wird, den Formmangel
innert einer Nachfrist zu verbessern. So verhält es sich im vorliegenden
Fall. Das Interesse des Beschwerdeführers, trotz des Formmangels vom
Rechtsmittelweg nicht ausgeschlossen zu werden, ist unverhältnismässig
bedeutungsvoller und schutzwürdiger als das Interesse an der Vermeidung
einer geringfügigen Verzögerung des Verfahrens bei Gewährung einer
Nachfrist. Dies trifft jedenfalls im Sozialversicherungsprozess zu,
der kraft der gesetzlichen Vorschriften den Parteien die Beschreitung
des Rechtsweges möglichst erleichtern will.

    d) Da der angefochtene Entscheid nach dem Gesagten gegen Art. 4
BV verstösst, ist er aufzuheben. Die Sache wird an die Vorinstanz
zurückgewiesen, die dem Beschwerdeführer eine kurze Nachfrist anzusetzen
hat entweder zur Vornahme der Prozesshandlung persönlich oder zur
Bevollmächtigung eines zugelassenen Anwalts oder schliesslich zur
Bevollmächtigung eines Nichtanwalts, der die Voraussetzungen für eine
allfällige Zulassung zur Parteivertretung im Einzelfall nach Art. 39
Abs. 3 ZPO besitzt...

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: In Gutheissung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des Versicherungsgerichts
von Graubünden vom 9. Oktober 1972 aufgehoben. Die Sache wird im Sinne
der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.