Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 IV 63



99 IV 63

13. Urteil des Kassationshofes vom 18. April 1973 i.S. Wirth gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen. Regeste

    Art. 238 Abs. 2, 18 Abs. 3 StGB.

    Fehlerhafte Bedienung eines Eisenbahnstellwerks durch einen
Stationslehrling, dessen Verhalten infolge besonderer sachlicher und
persönlicher Umstände nicht als pflichtwidrig unvorsichtig gewertet
werden kann.

Sachverhalt

    A.- Wirth, der am 14. April 1971 die Abschlussprüfung als
Stationslehrling bestanden hatte, trat am darauffolgenden Tag seinen Dienst
auf der Station Mörschwil an. Nach einer zweitägigen Einführung versah er
am 17. April 1971 zum ersten Mal den Stationsdienst allein. An diesem Tag
fuhr der Zug Nr. 140 (München-Zürich), der mit dem Personenzug Nr. 3171
(St. Gallen-Rorschach) in Mörschwil kreuzen musste, mit einiger Verspätung
durch die genannte Station. Daraufhin stellte Wirth die Ausfahrt für
den Personenzug 3171 irrtümlich aus Gleis 3 statt aus Gleis 2 her. Als
er den Fehler bemerkte, stellte er das auf Fahrt stehende Ausfahrsignal
wieder in die Haltestellung zurück und löste die Fahrstrasse mit der
Notauflösung auf. Dann übergab er dem Lokomotivführer des Zuges 3171
den schriftlichen Abfahrbefehl und fertigte den Zug bei geschlossenem
Ausfahrsignal ab. Da die Weiche 5 bei der Einstellung der Fahrstrasse aus
Gleis 3 in Schutzstellung gelaufen war, mit andern Worten, die Bahn auf
ein Stumpengeleise geöffnet hatte, und diese Stellung mit der Rücknahme
der Fahrstrasse auf Gleis 3 nicht automatisch in die Ausgangsstellung
zurückgeschaltet wurde, was Wirth übersah, fuhr der Personenzug 3171
auf das kurze Stumpengeleise, wobei die Lokomotive trotz einer von ihrem
Führer sogleich vorgenommenen Schnellbremsung mit allen vier Achsen über
das Gleisende hinausfuhr. Hierbei entstand Sachschaden für ca. Fr. 17
000.--. Ausserdem wurden drei Personen leicht verletzt.

    B.- Mit Urteil vom 4. Mai 1972 bestrafte die Gerichtskommission
Rorschach Wirth wegen fahrlässiger Störung des Eisenbahnverkehrs mit
einer bedingt vorzeitig löschbaren Busse von Fr. 200.--.

    Eine vom Gebüssten gegen diesen Entscheid eingelegte Berufung wies
das Kantonsgericht St. Gallen am 22. Januar 1973 ab.

    C.- Wirth führt Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt Freisprechung
von Schuld und Strafe.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Dass der Tatbestand des Art. 238 Abs. 2 StGB objektiv erfüllt ist,
war schon vor Kantonsgericht nicht mehr streitig. Zur Entscheidung steht
denn auch vor Bundesgericht einzig die Frage, ob dem Beschwerdeführer
Fahrlässigkeit und damit ein strafrechtlich erhebliches Verschulden zur
Last falle.

Erwägung 2

    2.- Fahrlässig handelt nach Art. 18 Abs. 3 StGB, wer die Folgen seines
Verhaltens aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht bedacht oder darauf
nicht Rücksicht genommen hat. Pflichtwidrig ist die Unvorsichtigkeit,
wenn der Täter die Vorsicht nicht beachtet, zu der er nach den Umständen
und nach seinen persönlichen Verhältnissen verpflichtet ist. Wo es sich
um das Verhalten von Bahnbeamten handelt, sind für die Beantwortung der
Frage, ob jenes pflichtgemäss oder pflichtwidrig war, insbesondere die
internen Dienstvorschriften von Belang (s. BGE 79 IV 169; 88 IV 103,
109 E. 2; 96 IV 3). Damit ist freilich nicht gesagt, dass jeder Verstoss
gegen solche Vorschriften, der zur Verletzung oder Tötung eines Menschen
oder zu einer Störung des Eisenbahnverkehrs führt, den Vorwurf der
Fahrlässigkeit rechtfertige. Das trifft nur zu, wo die Vorsicht, welche
der Täter nicht beachtet hat, objektiv geboten und subjektiv zumutbar war
(BGE 88 IV 103/4).

Erwägung 3

    3.- Nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz hat Wirth
zunächst von zwei nebeneinander befindlichen Tasten die falsche betätigt
und damit die Fahrstrasse aus Gleis 3 statt aus Gleis 2 geöffnet. Diese
Fehlschaltung hatte zur Folge, dass die Schutzweiche 5 automatisch
auf Ablenkung gestellt wurde. Nachdem Wirth den Fehler bemerkt hatte,
entschied er sich von zwei möglichen Korrekturen für die weniger
zeitraubende, aber aussergewöhnlichere, indem er einen schriftlichen
Abfahrtsbefehl ausstellte. Dabei vergass er, dass die Schutzweiche
immer noch auf Ablenkung gestellt war. Er unterliess es ferner, vor
dem Erteilen des schriftlichen Fahrbefehls das Stellwerktableau zu
prüfen und eine sogenannte Rangierfahrstrasse einzustellen, wodurch die
Weichen automatisch richtig gestellt worden wären. Dadurch hat Wirth
objektiv gegen die Vorschrift in Ziff. 47.3 des Fahrdienstreglements
R 310.1 verstossen, welche eine Prüfung verlangt, ob die Weichen und
Rangiersignale richtig stehen, bevor ein Einfahr- oder Ausfahrsignal auf
Fahrt gestellt, die Zustimmung zur Ein- oder Ausfahrt erteilt und der
Abfahrbefehl gegeben wird. Der Beschwerdeführer stellt diesen von der
Vorinstanz festgehaltenen Fehler nicht in Abrede. Dagegen bestreitet er,
fahrlässig gehandelt zu haben.

    Es ist somit zu prüfen, ob die Wirth unterlaufenen Fehler gleichzeitig
auch - wie die Vorinstanz annimmt - ein schuldhaftes Verhalten im
strafrechtlichen Sinne darstellen. Als strafrechtliche Fahrlässigkeit
kann dem Täter nur das angerechnet werden, was unter den Tatumständen von
ihm bei Anwendung der gebotenen Vorsicht und bei Berücksichtigung seiner
Kenntnisse und Erfahrungen erwartet werden durfte. Die strafrechtliche
Sanktion muss da Halt machen, wo die Grenzen der menschlichen
Leistungsfähigkeit an sich oder der persönlichen Voraussetzungen
erreicht oder überschritten werden. Gerade beim Eisenbahnbetrieb mit
seinen komplizierten technischen Abläufen können Situationen entstehen,
in denen eine Ordnungsvorschrift verletzt wird, ohne dass aber bereits
von einem strafrechtlich relevanten fahrlässigen Verhalten gesprochen
werden kann. In dieser Hinsicht sind im vorliegenden Falle mehrere vor
der Tat bzw. Unterlassung des Beschwerdeführers liegende sachliche und
persönliche Umstände zu berücksichtigen.

    Wirth hatte zwar drei Tage vor dem Unfall die Lehrabschlussprüfung
mit Erfolg bestanden. Er war aber immer noch Lehrling und befand sich
dementsprechend in der Ausbildung. Dennoch hatte er am 17. April den
Dienst völlig allein zu leisten, ohne Instruktor oder einen zweiten,
voll ausgebildeten Stationsbeamten.

    Von besonderer Bedeutung ist, dass Wirth während seiner Ausbildung
das sog. Domino-Stellwerk, wie es die Station Mörschwil aufweist,
nur theoretisch kennen gelernt, aber nie praktisch daran gearbeitet
hatte. Das erste Lehrjahr absolvierte er in einer Station, wo Weichen
und Signale durch Betätigung einzelner Schalter in die richtige Stellung
gebracht werden. Im zweiten Lehrjahr arbeitete er an einem Stellwerk,
wo dieselben Manöver durch Hebel ausgeführt werden. In beiden Stationen
waren also Weichen und Signale einzeln zu betätigen und deren Stellung
an derjenigen der Schalter bzw. Hebel abzulesen. Beim Domino-Stellwerk
dagegen werden einzelne Fahrstrassen eingestellt, wobei dann automatisch
alle erforderlichen Weichen und Signale richtig gestellt werden, ohne
dass der Beamte dies kontrollieren müsste. Wird jedoch versehentlich
die falsche Fahrstrasse betätigt, dann kann sie zwar durch Notauflösung
wieder aufgelöst werden, doch ist es nicht möglich, nun einfach durch
Betätigung der richtigen Taste die ursprünglich vorgesehene Fahrstrasse
herzustellen. Hiezu bedarf es besonderer Massnahmen, die im Normalbetrieb
nicht vorkommen.

    In Mörschwil war Wirth während nur 2 Tagen jeweils in einem Früh- und
Spätdienst am Domino-Stellwerk eingeführt worden, bevor ihm am 17. April
1971 der Abfertigungsdienst allein übertragen wurde. Die Vorinstanz
behauptet nicht, dass es während des zweitägigen Einführungsdienstes zu
Verspätungen oder Störungen gekommen sei, oder dass der instruierende
Beamte mit Wirth übungsmässig gleiche oder ähnliche Situationen
durchgenommen habe, wie sie dann am 17. April aufgetreten sind. Die
Feststellung im angefochtenen Urteil, Wirth habe sich auf der Station
Mörschwil sicher gefühlt, konnte sich daher bloss auf die Handhabung unter
normalen Bedingungen beziehen. Er hatte vor dem Unfall keine Gelegenheit,
sich in einer solchen Ausnahmesituation zurechtfinden zu müssen.

    Als Wirth den verspäteten Zug Nr. 3171 abfertigen sollte, stellte er
versehentlich die falsche Fahrstrasse her. Er entdeckte seinen Fehler
sofort und betätigte die Notauflösung. Sein erster Fehler führte daher
nicht zu einer Gefährdung i.S. von Art. 238 StGB.

    Dass er dann bei der ungewöhnlichen Massnahme, die zur richtigen
Abfertigung des Zuges an sich tauglich war, nicht mehr an die falsche
Stellung der Schutzweiche 5 dachte und daher deren Stellung nicht durch
einen Blick auf das Stellwerktableau kontrollierte, war ein Fehler, der
sich aus der Ausnahmesituation erklärt. Es galt, den bereits verspäteten
Zug rasch abzufertigen und zu diesem Zweck aussergewöhnliche Massnahmen
zu ergreifen, wofür Wirth jegliche Erfahrung abging. Zudem befand er
sich wegen des vorausgehenden Fehlers und der drängenden Zeit in einer
besonderen Spannung; um so mehr, als er dabei völlig auf sich allein
gestellt war. Diese momentane Überforderung führte dazu, dass die Weiche
5 seiner Aufmerksamkeit entging. Für ein aus den Umständen erklärliches
menschliches Versagen und gegen die Annahme, der Beschwerdeführer
habe die ihm nach seinen persönlichen Verhältnissen zumutbare Vorsicht
pflichtwidrig ausser Acht gelassen, spricht auch sein allgemein guter
dienstlicher Leumund.

    Diese Auffassung deckt sich auch mit derjenigen des Eidg. Verkehrs-
und Energiewirtschaftsdepartements, das dem Beschwerdeführer hinsichtlich
der Korrektur von Unregelmässigkeiten im Abfertigungsdienst einen
offensichtlichen Mangel an Erfahrung attestiert.

    Fehlt es mithin an einer fahrlässigen Handlung des Wirth, so ist
dieser eines Vergehens nicht schuldig und daher freizusprechen.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Kantonsgerichts St. Gallen vom 22. Januar 1973 aufgehoben und die Sache
zur Freisprechung des Beschwerdeführers an die Vorinstanz zurückgewiesen.