Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 IV 227



99 IV 227

53. Urteil des Kassationshofes vom 19. Oktober 1973 i.S. X. gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau Regeste

    Art. 32 Abs. 1 SVG, 4 Abs. 1 VRV.

    Der Fahrzeugführer genügt dann der Pflicht zur Anpassung der
Geschwindigkeit an die gegebenen Strassen- und Verkehrsverhältnisse,
wenn er die Geschwindigkeit so bemisst, dass er innerhalb der als frei
erkannten Strecke anhalten kann.

Sachverhalt

    A.- X. fuhr am 3. Dezember 1971, um 14.20 Uhr, am Steuer seines
Personenwagens Alfa Romeo auf der Suhrentalstrasse von Oberentfelden
her gegen die Kreuzung mit der Autobahnausfahrt in Kölliken. Als er sich
mit 100 km/h der Einmündung der mit dem Signal Nr. 116 (kein Vortritt)
gekennzeichneten Autobahnausfahrt näherte, fuhr der von Y. gelenkte
Lastwagen Henschel von der Autobahn herkommend gegen die Suhrentalstrasse
und bog, nachdem er seine Geschwindigkeit zunächst auf 12 km/h herabgesetzt
und den Eindruck erweckt hatte, er werde X. den Vortritt lassen, in diese
ein, um nach Oberentfelden zu gelangen. Trotz sofortiger Bremsung prallte
X. mit seinem Fahrzeug in die linke Seite des Lastwagens. Er erlitt
mittelschwere Verletzungen. An den Fahrzeugen entstand beträchtlicher
Sachschaden.

    B.- Das Bezirksgericht Zofingen sprach X. am 29. März 1973 schuldig
des Nichtanpassens der Geschwindigkeit gemäss Art. 32 Abs. 1 SVG und
der mangelnden Vorsicht bei Anzeichen von Fehlverhalten gemäss Art.
26 Abs. 2 SVG und belegte ihn mit einer Busse von Fr. 60.-.

    Mit Urteil vom 26. Juni 1973 sprach das Obergericht des Kantons
Aargau X. frei von der Anschuldigung der Übertretung von Art. 26 Abs. 2
SVG, bestätigte den Schuldspruch in bezug auf Art. 32 Abs. 1 SVG und
setzte die Busse auf Fr. 40.- herab.

    C.- X. führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt
Freisprechung von Schuld und Strafe.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Vorinstanz hat den Beschwerdeführer von der Anschuldigung
der Übertretung der Art. 26 Abs. 2 SVG freigesprochen. Somit wird ihm
nicht vorgeworfen, den Lastwagen zu spät wahrgenommen oder das Fahrzeug
nicht früh genug abgebremst zu haben; nachdem Y. ungefähr 30 m vor der
Einmündung in die Suhrentalstrasse die Geschwindigkeit seines Lastwagens
verlangsamt hatte, durfte der Beschwerdeführer auf die Gewährung des ihm
zustehenden Vortrittsrechts vertrauen.

Erwägung 2

    2.- Es bleibt somit zu prüfen, ob die vom Beschwerdeführer gefahrene
Geschwindigkeit von zirka 100 km/h den Verhältnissen angepasst war. Nach
Art. 32 Abs. 1 SVG ist die Geschwindigkeit stets den Umständen,
insbesondere den Strassen- und Verkehrsverhältnissen anzupassen. Welche
Geschwindigkeit jeweils als angemessen zu gelten hat, ist eine Rechtsfrage,
die das Bundesgericht frei überprüfen kann. Allerdings hängt die
Beantwortung der Frage weitgehend von der Würdigung der örtlichen
Verhältnisse ab, die der kantonale Richter im allgemeinen aus eigener
Wahrnehmung kennt. Diesem muss ein gewisses Ermessen eingeräumt werden,
weil die Angemessenheit einer Fahrweise sich naturgemäss nicht genau
feststellen, sondern bloss abschätzen lässt. Der Kassationshof weicht
daher von der Ansicht der kantonalen Instanzen über die Zulässigkeit
oder Unzulässigkeit einer Geschwindigkeit nur ab, wenn es sich aufdrängt
(BGE 91 IV 142 Erw. 1, 89 IV 102 Erw. 2).

    Sowohl das Bezirksgericht als auch die Vorinstanz gingen nach
durchgeführtem Augenschein an der Unfallstelle davon aus, dass
der Beschwerdeführer zu schnell gefahren sei. Das Obergericht hält
insbesondere dafür, die Geschwindigkeit des X. hätte nicht mehr als 80
km/h betragen dürfen. Es erachtet die vom Beschwerdeführer gefahrene
Geschwindigkeit deshalb als übersetzt, weil einerseits die Sicht auf der
Anfahrstrecke von Oberentfelden her anfänglich gut sei, sich aber mit
zunehmendem Vorrücken gegen die Einmündung hin verschlechtere; anderseits
verlange der Bereich der Autobahnausfahrt angesichts der verschiedenen
Fahrspuren und Abzweigungen und der Gefahr, dass ein Strassenbenützer
unverhofft einen Spurwechsel vornehme, vom Fahrer eine besonders grosse
Aufmerksamkeit. Diese Begründung träfe dann zu, wenn im Zeitpunkt des
Unfalls dichter Verkehr geherrscht hätte oder ein anderes als das von
Y. gelenkte Fahrzeug im Begriff gewesen wäre, die vom Beschwerdeführer
benützte Fahrbahn zu überqueren. Der angefochtene Entscheid enthält aber
keine derartigen Feststellungen. Die Verhältnisse im vorliegenden Fall
unterscheiden sich grundlegend von den in BGE 91 IV 141 ff. beurteilten,
wo am Escher Wyss-Platz in Zürich nicht nur fünf grosse Verkehrsadern und
zudem mehrere Linien der städtischen Verkehrsbetriebe zusammentreffen,
sondern am damaligen Ostermontag um 17.35 Uhr auch sehr starker Verkehr
geherrscht hat, die Übersicht über die Strassen- und Verkehrsverhältnisse
mithin erschwert war. Das ist hier nicht der Fall. Weder liegt eine
Häufung von Verkehrswegen auf gleicher Ebene vor, noch war - ausser
den am Unfall beteiligten Fahrzeugen - das Einmündungsgebiet durch
weitere Strassenbenützer belastet, auf die besonders Rücksicht zu nehmen
gewesen wäre. Die von der Vorinstanz erwähnten Gefahren, mit denen sie die
besonderen Schwierigkeiten hinsichtlich der Befahrung der fraglichen Stelle
darzutun versucht, waren im Zeitpunkt der Kollision somit nicht vorhanden.

    Nicht Rechnung getragen hat die Vorinstanz sodann der in Art. 4
Abs. 1 VRV verankerten Vorschrift, wonach ein Fahrzeugführer der
Pflicht zur Anpassung der Geschwindigkeit an die gegebenen Strassen-
und Verkehrsverhältnisse dann genügt, wenn er die Geschwindigkeit so
bemisst, dass er innerhalb der als frei erkannten Strecke anhalten kann
(BGE 84 IV 106, 89 IV 25, 95 II 579 Erw. b). Frei ist diejenige Strecke,
auf der weder ein Hindernis sichtbar ist noch mit dem Auftauchen eines
solchen gerechnet werden muss. Die von der Vorinstanz festgestellte
Anhaltestrecke des Alfa Romeo betrug 87,18 m. Die Sichtweite des
Beschwerdeführers lag jedoch beträchtlich über diesem Messwert, auch
wenn sie nicht ausnahmslos für die ganze Anfahrtstrecke 200 m ausmachte,
wie die Beschwerde behauptet. Im angefochtenen Entscheid wird nicht
festgestellt, die Sichtweite des Beschwerdeführers habe weniger als
87, 18 m betragen. Dieser konnte demnach sein Fahrzeug innerhalb der
überblickbaren Strecke anhalten. Damit, dass ihm der vortrittsbelastete Y.
den Weg abschneiden werde, musste er nicht rechnen. Er konnte erst zirka
70-75 m vor dem Kollisionsort erkennen, dass der Lastwagen ohne weiteres
in die Suhrentalstrasse einbiegen werde. Vorher bestanden für ihn keine
Anzeichen, aus denen er auf eine Missachtung seines Vortrittsrechts
hätte schliessen müssen. Dass der Beschwerdeführer mit dem Auftauchen
einer anderen Gefahr zu rechnen hatte, ist nicht festgestellt und auch
aus den Akten nicht ersichtlich. Seine Geschwindigkeit war daher der
Sichtweite und den Verkehrsverhältnissen angepasst und infolgedessen
nicht übersetzt. Er ist deshalb von der Anschuldigung der Widerhandlung
gegen Art. 32 Abs. 1 SVG freizusprechen.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das angefochtene Urteil
aufgehoben und die Sache zur Freisprechung des Beschwerdeführers an die
Vorinstanz zurückgewiesen.