Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 IV 170



99 IV 170

36. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 24. Juli 1973 i.S. Engel
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden. Regeste

    Art. 32 Abs. 1 SVG, Art. 4 Abs. 1 VRV. Bemessung der Geschwindigkeit
nach der Sichtweite.

    Der Fahrzeugführer hat im Bereiche einer durch ungeeignete Signale
gekennzeichneten Baustelle nicht zum vorneherein damit zu rechnen, dass
die mit Bitumen bespritzte Fahrbahn über Nacht ohne Splitt belassen wird.

Sachverhalt

    A.- 1. - Im Herbst 1971 wurde die Nationalstrasse 13 bei Hinterrhein
mit einem neuen Strassenbelag versehen. Auf der in südlicher Richtung
führenden, ganz rechts liegenden Fahrspur war am 9. September 1971 der
neue Belag bereits aufgetragen worden, während die Überholspur, auf die
der Richtung San Bernardino rollende Verkehr ausgangs der langgezogenen
Rechtskurve vor dem sogenannnten Wyberstutz mittels Leitkegel geleitet
wurde, für den am folgenden Tag auszuführenden Belagseinbau mit
Bitumen bespritzt worden war. 500 Meter vor Beginn dieser Baustelle
war die Höchstgeschwindigkeit auf 80 km/h signalisiert. 300 Meter
vor der Baustelle befanden sich links und rechts der Strasse Signale,
die die Höchstgeschwindigkeit auf 60 km/h begrenzten und auf die im Gang
befindlichen Bauarbeiten (Signal Nr. 113) aufmerksam machten. Zu Beginn der
Rechtskurve vor dem "Wyberstutz" stand nochmals das Signal Nr. 113. Rund
150 Meter vor dem mit Bitumen überspritzten Strassenstück war das Signal
Nr. 105 (Schleudergefahr) aufgestellt, an dem eine gelb aufleuchtende
Baustellenlampe hing. Wegen des Absatzes bei Beginn des bereits eingebauten
Belagsstreifens war zusätzlich das Signal Nr. 106 (Querrinne) angebracht.

Erwägung 2

    2.- Am 9. September 1971, um 19.30 Uhr, fuhr Stöckli am Steuer seines
Personenwagens von Splügen in Richtung San Bernardino. Im Bereiche der
mit Bitumen überspritzten Fahrbahn am sogenannten Wyberstutz geriet sein
Fahrzeug ins Schleudern, stiess mit dem linksseitigen Rohrzaun zusammen
und kam quer zur Fahrbahn zum Stehen. Nach diesem Unfall stellte sich
Stöckli vor seinen Wagen, um nachfolgende Fahrzeugführer auf das Hindernis
aufmerksam zu machen. Kurz darauf fuhr Engel mit seinem Personenwagen
von Splügen herkommend auf die Unfallstelle zu. Nach der Rechtskurve
gewahrte er das die Fahrbahn versperrende Fahrzeug und den davor
stehenden Stöckli. Engel bremste sofort, konnte aber nicht verhindern,
dass sein Fahrzeug gegen Stöcklis Wagen stiess. Da dessen Lenker nicht
von der Stelle gewichen war, wurde er zwischen den beiden Fahrzeugen
eingeklemmt. Dabei erlitt er Verletzungen, denen er am 21. September
1971 erlag.

    B.- Am 10. November 1972 sprach der Kreisgerichtsausschuss Rheinwald
Engel der fahrlässigen schweren Körperverletzung schuldig und belegte
ihn mit Fr. 500.-- Busse.

    Auf Berufung der Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden hin sprach
der Kantonsgerichtsausschuss dieses Kantons Engel am 19. Februar 1973
der fahrlässigen Tötung schuldig und büsste ihn mit Fr. 200.--

    C.- Engel führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt
Freisprechung von Schuld und Strafe.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

    Die Vorinstanz führt im angefochtenen Entscheid aus, Engel habe den
Zusammenstoss trotz sofortiger Bremsung nach Gewahrwerden des Fahrzeuges
Stöckli nicht vermeiden können; er sei demzufolge mit einer den gegebenen
Strassenverhältnissen nicht angepassten Geschwindigkeit gefahren, sonst
hätte er rechtzeitig vor dem Hindernis anhalten können.

    Diese Betrachtungsweise bedarf einer näheren Prüfung. 300 Meter vor
Beginn der fraglichen Baustelle befanden sich links und rechts der Strasse
Signale, die einerseits die Höchstgeschwindigkeit auf 60 km/h begrenzten
und anderseits die im Gang befindlichen Bauarbeiten anzeigten. Ungefähr
150 Meter vor dem mit Bitumen bespritzten Strassenstück waren die
Signale "Schleudergefahr" und "Querrinne" aufgestellt. Nach Auffassung
der Vorinstanz machten diese Signale den Angeklagten darauf aufmerksam,
dass er schlechte Strassenverhältnisse antreffen werde. In der Tat musste
der Beschwerdeführer anhand der angebrachten Signale mit einer durch eine
Baustelle hervorgerufenen Behinderung der Durchfahrt rechnen. Indessen war
die erwähnte Signalisation ungeeignet, auf so ungewöhnliche Verhältnisse
hinzuweisen, wie sie tatsächlich bestanden. Durch die Leitkegel wurde der
Verkehr auf nur eine Fahrspur eingeengt. Es ist durchaus unüblich, in einem
solchen Fall die freie Spur mit öligem Bitumen zu spritzen und ohne Splitt
über Nacht zu belassen. Erforderte der Arbeitsablauf ein solches Vorgehen,
so mussten entsprechende zusätzliche Vorsichtsmassnahmen getroffen
werden; dies umsomehr, als nach allgemeiner Erfahrung dunkelfarbige
Gegenstände bei Nacht nur schwer erkennbar sind (BGE 97 IV 165) und
mit der Möglichkeit gerechnet werden musste, dass sich bei Regen die
übrige Fahrbahn dunkel verfärben und deshalb von der gefährlichen
Stelle kaum sichtbar unterscheiden werde. Der Beschwerdeführer hatte
deshalb - entgegen der Auffassung der Vorinstanz - auf die besonders
schwierigen Verhältnisse nicht gefasst zu sein, zumal die vor der
Baustelle signalisierte Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h lediglich eine
normale Behinderung erwarten liess. Dass die tatsächlichen Verhältnisse
das Mass der sonst bei Strassenbauarbeiten anzutreffenden Behinderung
weit überstiegen, ergibt sich auch aus der Feststellung der Vorinstanz,
wonach das Fahrzeug Stöckli zumindest teilweise wegen der mit Bitumen
belegten Fahrbahn schleuderte. Dem Beschwerdeführer war deshalb bei der
gegebenen Signalisation nicht zuzumuten, seine Fahrweise zum vornherein
auf diesen besonderen Strassenzustand einzustellen.