Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 III 41



99 III 41

9. Auszug aus dem Entscheid vom 5. September 1973 i.S. B. und M. Regeste

    Art. 8 Abs. 2 SchKG. Anspruch eines Dritten auf Einsichtnahme in die
den Schuldner betreffenden Protokolle des Betreibungs- und Konkursamtes.

    Das Recht eines Dritten auf Einsichtnahme in die den Schuldner
betreffenden Protokolle des Betreibungsamtes gemäss Art. 8 Abs. 2 SchKG
besteht so lange, als das Betreibungsamt gestützt auf die Verordnung des
Bundesgerichts über die Aufbewahrung der Betreibungs- und Konkursakten vom
14. März 1938 verpflichtet ist, die fraglichen Akten aufzubewahren. Ist
zwischen dem Dritten und dem Schuldner ein Erbteilungsprozess hängig,
darf dieses Recht auf Einsichtnahme nicht auf die Zeit nach Eröffnung
des Erbganges beschränkt werden.

Sachverhalt

                      Gekürzter Tatbestand:

    A.- Die am 13. August 1958 verstorbene Frau M. und ihr am 13. Dezember
1967 verstorbener Ehemann hinterliessen acht gesetzliche Erben,
welche alle ihre Nachkommen sind. Zum Nachlass der Mutter gehörte ein
landwirtschaftliches Heimwesen, das von einem der gesetzlichen Erben,
H. M., bewirtschaftet wird. Da der Vater die Hälfte der Erbschaft zur
Nutzniessung wählte, ging die Liegenschaft in das Gesamteigentum der
Nachkommen über.

    H. M. erhob am 29. April 1968 eine Erbteilungsklage, die heute noch
pendent ist und mit der er Anrechnung eines Lidlohnes und die Zuteilung des
landwirtschaftlichen Heimwesens an ihn verlangte. Im Laufe des Prozesses
liess er das Gesuch um Zuteilung des Heimwesens fallen und beantragte nur
noch Feststellung und Teilung des Nachlasses der Mutter unter Anrechnung
seines Lidlohnanspruches. Die übrigen Geschwister verlangen Feststellung
und Teilung der Nachlässe von Vater und Mutter. Der Anteil des H. M. am
unverteilten Erbschaftsvermögen wurde in den Jahren 1971 und 1972 in
verschiedenen gegen ihn laufenden Betreibungen gepfändet.

    B.- Am 6. Dezember 1972 stellten die beiden Erben M.  B.-M. und
W. M. beim zuständigen Betreibungsamt das Gesuch, es sei ihnen
vollständige Einsicht in die gegen H. M. gerichteten Betreibungen und
Kopierung aller Dokumente zu gewähren, die sie zur Vervollständigung der
Prozessurkundensammlung benötigten. Mit Schreiben vom 11. Dezember 1972
teilte ihnen der Betreibungsbeamte mit, das Interesse an einer solchen
Einsicht- und Kopienahme sei nicht in genügender Weise dargetan. Er
forderte sie daher auf, entweder diesen Interessennachweis zu leisten
oder eine Bestätigung des H. M. beizubringen, wonach sie zur Einsichtnahme
berechtigt seien.

    Gegen diese Verfügung des Betreibungsbeamten reichten die beiden
Erben M. B.-M. und W. M. bei der unteren kantonalen Aufsichtsbehörde über
Schuldbetreibung und Konkurs Beschwerde ein. Diese hiess die Beschwerde
am 14. Februar 1973 teilweise gut und wies das Betreibungsamt an, den
Beschwerdeführern Einsicht in die H. M. betreffenden betreibungsamtlichen
Protokolle und Akten in folgendem Umfang zu gewähren:

    -  ab 13. August 1958 in die Unterlagen gemäss Art. 2 der Verordnung
des Bundesgerichts über die Aufbewahrung der Betreibungs- und Konkursakten
vom 14. März 1938,

    - in die Akten der letzten zehn Jahre vom Datum der Einsichtnahme an
gerechnet, soweit es sich um Akten im Sinne von Art. 3 dieser Verordnung
handle und

    - in die Akten der letzten fünf Jahre vom Datum der Einsichtnahme an
gerechnet, soweit es sich um Akten im Sinne von Art. 4 dieser Verordnung
handle.

    Die Aufsichtsbehörde wies das Betreibungsamt sodann an, den
Beschwerdeführern gegen Vergütung der betreibungsamtlichen Gebühren
von den angeführten Akten Abschriften oder Photokopien auszuhändigen,
soweit sie dies wünschten, wobei sie es dem Betreibungsbeamten überliess,
die Anordnung der Kopienahme zu organisieren.

    C.- Gegen diesen Beschluss der untern Aufsichtsbehörde führte
H. M. Rekurs an die obere kantonale Aufsichtsbehörde über Schuldbetreibung
und Konkurs. Auch M. B.-M. und W. M. fochten den Entscheid der untern
Aufsichtsbehörde mit einem Rekurs an.

    Die obere Aufsichtsbehörde vereinigte die beiden Rekurse und wies
sie mit Entscheid vom 6. Juli 1973 ab. In Ergänzung von Dispositiv
Ziffer 2 des angefochtenen Beschlusses wies sie das Betreibungsamt an,
den beiden Erben M. B.-M. und W. M., gegebenenfalls nach Leistung eines
entsprechenden Kostenvorschusses, ausschliesslich Einblick in die den
Miterben H. M. betreffenden Eintragungen in den Betreibungsprotokollen
und Betreibungsakten zu gewähren und ihnen von diesen Auszüge zu geben,
wobei ihnen das Amt gestatten könne, die Kopienahme dieser Auszüge und
Akten selber in seinen Amtsräumen vorzunehmen. Die Aufsichtsbehörde
fügte die Bemerkung an, diese Einsicht dürfe auch in allenfalls trotz
Verstreichens der Aufbewahrungsfristen gemäss Art. 2 bis 4 der Verordnung
des Bundesgerichts über die Aufbewahrung der Betreibungs- und Konkursakten
hinaus noch vorhandene, nicht ausgeschiedene Akten gewährt werden.

    D.- Die beiden Erben M. B.-M. und W. M. erheben Rekurs an die
Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichts und beantragen,
den Entscheid der obern Aufsichtsbehörde aufzuheben und ihnen vollständige
Einsicht in alle ihren Miterben H. M. betreffenden Akten des zuständigen
Betreibungsamtes ohne jede zeitliche Einschränkung zu gewähren.

    Das Bundesgericht heisst den Rekurs teilweise gut und ändert
den angefochtenen Entscheid in dem Sinne ab, dass der Anspruch der
Rekurrenten auf Einsichtnahme in die H. M. betreffenden Eintragungen in
den Betreibungsprotokollen und Betreibungsakten und auf die Gewährung
von Auszügen aus denselben nicht auf die Zeit nach dem 13. August 1958
beschränkt ist.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Gemäss Art. 8 Abs. 2 SchKG kann jedermann, der ein Interesse
nachweist, die von den Betreibungs- und Konkursämtern geführten Protokolle
einsehen und sich Auszüge aus ihnen geben lassen. Erforderlich ist nach
der Rechtsprechung ein besonderes und gegenwärtiges Interesse (BGE 94 III
45 Erw. 1 und 93 III 6 Erw. 1 mit Hinweisen). Dieses Interesse braucht
nicht notwendigerweise finanzieller Natur zu sein; vielmehr genügt ein
rechtliches Interesse anderer Art (BGE 52 III 75). Ein strenger Nachweis
des Interesses darf vom Gesuchsteller nicht verlangt werden, sondern die
Einsicht ist ihm zu gewähren, wenn ernsthafte Indizien das Bestehen des
Interesses wahrscheinlich machen (BGE 93 III 6 Erw. 1, 58 III 120 und 52
III 78/79). Die Tatsache, dass zwischen dem Gesuchsteller und der Person,
in deren Akten er Einsicht nehmen will, ein Prozess hängig ist, genügt,
um das Interesse darzutun (BGE 91 III 96 und 58 III 120). Das Recht,
die Akten einzusehen und sich daraus Auszüge geben zu lassen, besteht
so lange, als die Betreibungsämter verpflichtet sind, die Register und
Protokolle aufzubewahren (BGE 58 III 120).

    Der Vorinstanz ist beizupflichten, dass im vorliegenden Fall ein
solches besonderes Interesse der beiden Rekurrenten an der Einsichtnahme
in die ihren Miterben H. M. betreffenden Register und Protokolle des
zuständigen Betreibungsamts gegeben ist. Zwischen den Rekurrenten und ihrem
Miterben ist ein Erbteilungsprozess pendent. Zum umstrittenen Nachlass
gehört die Liegenschaft, welche H. M. bewirtschaftet. Er ist daher im
Besitz von Nachlassgegenständen. Im Prozess verlangt er eine Ausgleichung
im Sinne von Art. 633 ZGB, woraus zu entnehmen ist, dass er seinen
Eltern, den Erblassern, im gemeinsamen Haushalt seine Arbeitsleistung
zugewendet hat. Es sind gegen ihn zahlreiche Betreibungen im Gange,
und sein Anteil am unverteilten Erbschaftsvermögen ist gepfändet. Dass
die beiden Rekurrenten daher ein erhebliches rechtliches Interesse daran
haben, in die Register und Protokolle des Betreibungsamts, soweit sie
den Miterben H. M. betreffen, Einsicht zu nehmen und sich daraus Auszüge
geben zu lassen, ist offenkundig. Und zwar besteht dieses Recht auf
Einsicht- und Kopienahme so lange, als das Betreibungsamt gestützt auf
die Verordnung des Bundesgerichts über die Aufbewahrung der Betreibungs-
und Konkursakten vom 14. März 1938 verpflichtet ist, die betreffenden
Akten aufzubewahren (BGE 58 III 119/120). Hat das Betreibungsamt auch
nach Ablauf dieser Fristen die entsprechenden Akten nicht vernichtet,
so ist es ihm nicht verwehrt, den Rekurrenten auch dann noch Einsicht und
Kopienahme zu gewähren, allerdings ohne dass diese einen diesbezüglichen
Anspruch geltend machen können. Die Vorinstanz hat somit den Entscheid
der untern Aufsichtsbehörde mit Recht in diesem Sinne ergänzt.

    Die beiden kantonalen Aufsichtsbehörden haben indessen in ihren
Entscheiden das Recht der Rekurrenten auf Akteneinsicht und Kopienahme
noch weiter eingeschränkt, indem sie erklärten, in die Unterlagen gemäss
Art. 2 der Verordnung des Bundesgerichts vom 14. März 1938 sei die
Einsicht erst ab 13. August 1958, d.h. vom Todestage der Erblasserin
an zu gewähren. Gemäss Art. 607 Abs. 3 ZGB haben die Miterben bei der
Teilung genauen Aufschluss zu geben über ihren allfälligen Besitz
von Erbschaftssachen und über ihre allfälligen Schulden gegenüber
dem Erblasser. Darüber hinaus haben sie einander nach Art. 610 Abs. 2
ZGB über ihr Verhältnis zum Erblasser alles mitzuteilen, was für die
gleichmässige Verteilung der Erbschaft in Berücksichtigung fällt. Ihrem
Zweck entsprechend bezieht sich diese Auskunftspflicht nicht bloss auf
den Nachlass. Sie erstreckt sich auch auf Zuwendungen unter Lebenden,
die möglicherweise zur Ausgleichung nach Art. 626 ff. ZGB zu bringen
sind oder der Herabsetzung nach Art. 527 ZGB unterliegen und daher
gleichfalls die Teilung beeinflussen (BGE 90 II 372 und 59 II 129).
Daraus ergibt sich, dass die Pflicht des H. M., seinen Miterben bezüglich
der Nachlassgegenstände Auskunft zu erteilen, zwar erst entstehen konnte,
als der Erbgang eröffnet wurde, dass sie sich aber auf Tatsachen
beziehen kann, die schon vor dem Tode der Erblasserin eingetreten
sind (vgl. ESCHER, N. 10 zu Art. 607 und N. 2 und 3 zu Art. 610 ZGB;
TUOR/PICENONI, N. 9 zu Art. 607 und N. 5 zu Art. 610 ZGB). Nachdem im
vorliegenden Fall der Miterbe H. M. im Haushalt seiner Eltern lebte und
bei der Bewirtschaftung des Heimwesens seiner Mutter mitwirkte, haben die
Rekurrenten ein erhebliches Interesse daran, in Register und Protokolle
des Betreibungsamts Einsicht zu nehmen, die sich auf die Zeit vor dem
Tode der Erblasserin beziehen. Das Recht auf Einsicht- und Kopienahme
ist daher nicht erst ab 13. August 1958 zu gewähren. Indessen ist es auf
jeden Fall an die Fristen gebunden, die in der genannten Verordnung des
Bundesgerichts über die Aufbewahrung der Betreibungs- und Konkursakten
in Art. 2 bis 4 aufgestellt sind. Wie bereits ausgeführt, darf das
Betreibungsamt aber den Rekurrenten auch Einsicht geben in Akten, die
nach Ablauf der Aufbewahrungsfrist noch nicht vernichtet worden sind.