Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 IB 436



99 Ib 436

59. Urteil der I. Zivilabteilung vom 13. November 1973 i.S. B. gegen X-AG.
Regeste

    Art. 704 OR, Anwendung auf Anlagefonds.

    1.  Der Anleger ist Gläubiger der Fondsleitung.

    2.  Ist die Fondsleitung eine Aktiengesellschaft, so darf der Anleger
von ihr die Auflegung der Bilanz und der Gewinn- und Verlustrechnung
verlangen, wenn sie diese nicht veröffentlicht.

Sachverhalt

    A.- B. besitzt 72 Anteile eines Anlagefonds, dessen Leitung der X-AG
oblag. Am 26. September 1969 entzog die Eidg. Bankenkommission der X-AG
die Bewilligung zur Geschäftstätigkeit und ernannte die Schweizerische
Treuhandgesellschaft als Sachwalter des in Liquidation stehenden
Anlagefonds.

    Im August 1972 ersuchte B. das Handelsregisteramt der Stadt Zürich
gestützt auf Art. 704 OR, von der X-AG die Bilanz und Gewinnrechnung
zur Einsicht einzufordern. Das Handelsregisteramt wies das Gesuch durch
Verfügung vom 4. September 1972 ab, erklärte sich auf Beschwerde hin
am 16. Oktober aber bereit, die Verfügung zurückzunehmen, wenn B. in
einer neuen Eingabe dartun könne, dass er gegen die X-AG eine Forderung
habe. B. sandte dann dem Handelsregisteramt die Rechenschaftsberichte,
welche die Schweizerische Treuhandgesellschaft über ihre Tätigkeit als
Sachwalter des Anlagefonds für die Jahre 1970/71 und 1971/72 verfasst
hatte. Er machte geltend, aus den Berichten ergebe sich, dass die
X-AG ihre vertraglichen Pflichten in gröbster Weise verletzt habe; er
überlege sich deshalb, ob er gegen sie auf Schadenersatz klagen solle. Das
Handelsregisteramt setzte hierauf der X-AG mit Schreiben vom 6. November
1972 zehn Tage Frist, die letzte von der Generalversammlung genehmigte
Jahresrechnung (Bilanz samt Gewinn- und Verlustrechnung) vorzulegen,
damit B. sie einsehen könne.

    Da die X-AG sich weigerte, der Aufforderung nachzukommen, überwies
das Handelsregisteramt die Sache gemäss Art. 85 Abs. 3 HRegV seiner
Aufsichtsbehörde, der Justizdirektion des Kantons Zürich. Diese wies
das Begehren des B. am 23. März 1973 einstweilen mit der Begründung ab,
nach den Berichten des Sachwalters könnten die Anleger von der X-AG
wahrscheinlich Schadenersatz verlangen; darüber bestehe jedoch zwischen
der Schweizerischen Treuhandgesellschaft und der X-AG ein Prozess;
die Gläubigereigenschaft des B. müsse deshalb nach BGE 78 I 165 ff. als
zweifelhaft betrachtet werden, obwohl die Treuhangesellschaft mit ihrer
Klage Forderungen der Anleger, also auch solche des Gesuchstellers
geltend mache.

    B.- B. führt gegen diesen Entscheid Verwaltungsgerichtsbeschwerde
mit dem Antrag, ihn aufzuheben und die X-AG zur Auflegung der Bilanz
aufzufordern.

    Die Justizdirektion des Kantons Zürich hat eine Vernehmlassung des
Handelsregisteramtes eingereicht, auf einen Antrag aber ausdrücklich
verzichtet. Die X-AG beantragt die Abweisung der Beschwerde, ebenso
das Eidg. Justiz- und Polizeidepartement, das sich den Erwägungen der
kantonalen Registerbehörden "vollumfänglich" anschliesst.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 704 OR hat das Handelsregisteramt von
Aktiengesellschaften, die ihre Gewinn- und Verlustrechnung und Bilanz
nicht veröffentlichen, diese in der von den Aktionären genehmigten Fassung
einzufordern und zur Einsicht aufzulegen, wenn ein Gesellschaftsgläubiger,
der sich als solcher ausweist, es verlangt.

    Im vorliegenden Fall wird von keiner Seite behauptet oder dargetan,
die X-AG habe die Jahresrechnung, deren Auflegung der Beschwerdeführer
verlangt, veröffentlicht. Fragen kann sich daher nur, ob B. Gläubiger
der X-AG sei.

Erwägung 2

    2.- Gemäss Art. 2 Abs. 1 AFG ist der Anlagefonds ein Vermögen, das auf
Grund öffentlicher Werbung von den Anlegern zum Zwecke gemeinschaftlicher
Kapitalanlage aufgebracht und von der Fondsleitung nach dem Grundsatz der
Risikoverteilung für Rechnung der Anleger verwaltet wird. Die Fondsleitung
ist fiduziarische Eigentümerin der Werte, welche den Anlagefonds bilden
(P. JÄGGI, La loi sur les fonds de placement, JdT 1967 S. 226 ff.;
R. JEANPRÊTRE, Le contrat de placement collectif dans le système
du droit des obligations, Festgabe W. Schönenberger, Freiburg 1968
S. 288; FORSTMOSER, Zum schweizerischen Anlagefondsgesetz, S. 24 und 36;
GUHL/MERZ/KUMMER, OR S. 456). Der Anleger hat keine Eigentumsrechte am
Fondsvermögen, dagegen erwirbt er durch seine Einzahlung Forderungen
gegen die Fondsleitung; er hat Anspruch auf Beteiligung am Vermögen
und am Ertrag des Anlagefonds (Art. 20 Abs. 1 AFG). Auch kann er den
Kollektivanlagevertrag jederzeit widerrufen und gegen Rückgabe des
Anteilscheines die Auszahlung seines Anteils am Anlagefonds in bar
verlangen (Art. 21 Abs. 1 AFG). Schuldnerin ist die Fondsleitung (JÄGGI
und JEANPRETRE, beide a.a.O; GUHL/MERZ/KUMMER S. 457). Daraus erhellt,
dass der Anleger Gläubiger der Fondsleitung ist.

    Den Akten ist zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer als Anleger 72
Anteile des Anlagefonds besitzt; er hat sich darüber schon in seinem ersten
Gesuch an das Handelsregisteramt ausgewiesen, indem er die Bescheinigung
einer Bank vorlegte. Er ist folglich berechtigt, ein Begehren nach Art. 704
OR zu stellen, wenn die Fondsleitung wie hier eine Aktiengesellschaft ist,
die ihre Bilanz und ihre Verlust- und Gewinnrechnung nicht veröffentlicht.

    Daran ändert nichts, dass der Fondsleitung im vorliegenden Fall von
der Aufsichtsbehörde die Bewilligung zur Geschäftstätigkeit entzogen und
an ihrer Stelle ein Sachwalter ernannt worden ist. Das fiduziarische
Eigentum der X-AG am Anlagefonds wurde davon nicht berührt; es ging
insbesondere nicht auf den Sachwalter über. Dieser ist vielmehr ein
"amtlicher Treuhänder", der im Auftrag der Aufsichtsbehörde die Interessen
der Anleger zu wahren, also eine ähnliche Stellung und Aufgabe hat wie
ein Konkursverwalter oder ein Willensvollstrecker (AMONN, Die Aufgaben
des Sachwalters nach dem BG über die Anlagefonds, in Wirtschaft und Recht
1970 S. 57; A. METZGER, Die Stellung des Sachwalters nach dem BG über
die Anlagefonds vom 1. Juli 1966, Diss. Zürich 1971 S. 139-154; U. B.
MÄTZENER, Die Auflösung und Liquidation von Anlagefonds, Diss. Bern 1972 S.
85 und 94).

    Da der Beschwerdeführer als Gläubiger der X-AG anzusehen ist, kommt
auch nichts darauf an, ob ein Gesuchsteller nach Art. 704 OR seine
Forderung beweisen oder bloss glaubhaft machen müsse (BGE 78 I 168
ff.). Unerheblich ist ferner, ob der Beschwerdeführer allenfalls noch
weitere Forderungen gegen die X-AG habe; was die Vorinstanz und die
X-AG in ihrer Vernehmlassung dazu ausführen, vermag am Ausgang dieses
Verfahrens nichts zu ändern. Es schadet dem Beschwerdeführer auch nicht,
dass er die Beschwerde einzig damit begründet hat, es stehe ihm eine
Schadenersatzforderung gegen die X-AG zu, die sie gemäss BGE 96 I 474
ff., wo es um die gleiche Fondsleitung ging, anerkannt habe; denn das
Bundesgericht ist an die rechtliche Begründung der Begehren nicht gebunden
(Art. 114 Abs. 1 OG).

Erwägung 3

    3.- Die X-AG wendet ein, Art. 704 OR gelte nicht für das
Rechtsverhältnis zwischen einem Anleger und der Fondsleitung; Art. 22
AFG regle das Auskunftsrecht des Anlegers abschliessend und gehe zudem
als Sondervorschrift der allgemeinen Bestimmung des Art. 704 OR vor.

    Der Einwand geht fehl. Die Auskunftspflicht der Fondsleitung nach
Art. 22 AFG bezieht sich auf einzelne Geschäftsvorfälle abgelaufener
Jahre oder auf die Grundlagen für die Berechnung des Ausgabe- und
Rücknahmepreises der Anteilscheine, betrifft also nur das Vermögen. Die
Vorschrift ist, wie die Vorinstanz richtig bemerkt, eine einschränkende
Sonderbestimmung gegenüber Art. 400 OR, der sonst angewendet werden müsste
(Art. 8 Abs. 3 AFG). Entgegen Art. 400 OR kann der Anleger daher von
der Fondsleitung nicht jederzeit Rechenschaft über ihre Geschäftsführung
verlangen, soll aber, wie in der Botschaft des Bundesrates zum Entwurf
des Gesetzes ausgeführt worden ist (BBl 1965 III 295/6), wenigstens
nicht schlechter gestellt werden als ein Aktionär nach Art. 697 OR
(vgl. JEANPRETRE, aaO S. 290 N. 13).

    Art. 704 OR dagegen bezweckt den Schutz der Gläubiger einer
Aktiengesellschaft. Es besteht kein Grund, diese Bestimmung nicht
anzuwenden, wenn die Fondsleitung eine Aktiengesellschaft und die
Schuldnerin des Anlegers ist.

Erwägung 4

    4.- Der Entscheid der Justizdirektion, die das Gesuch des
Beschwerdeführers zu Unrecht abgewiesen hat, ist daher aufzuheben. Sollte
die X-AG sich weiterhin weigern, dem Begehren des Beschwerdeführers und der
Aufforderung des Handelsregisteramtes vom 6. November 1972 zu entsprechen,
so hat die Justizdirektion nach Art. 85 Abs. 3 HRegV vorzugehen.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen, der Entscheid
der Direktion der Justiz des Kantons Zürich vom 23. März 1973 aufgehoben
und die Sache im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.