Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 99 IA 430



99 Ia 430

51. Auszug aus dem Urteil vom 11. Juli 1973 i.S. X. gegen Obergericht Uri.
Regeste

    Art. 4 BV; unentgeltliche Rechtspflege im Vaterschaftsprozess.

    Der Umstand, dass das Kind einen von der Vormundschaftsbehörde
bestellten Beistand hat, ist kein Grund, ihm einen Rechtsbeistand im
Armenrecht zu verweigern (Präzisierung der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- Das in Altdorf/UR wohnhafte aussereheliche Kind X.  ist durch
Waisenvogt Karl Marty verbeiständet, der von Beruf Landwirt ist.
Mit der Führung des Vaterschaftsprozesses, der sich gegen einen in England
wohnhaften Beklagten richtet, hat der Beistand den Altdorfer Fürsprech Dr.
Karl Hartmann betraut. Dieser verlangte für das Kind beim Landgericht
Uri das Armenrecht mit dem Antrag, ihn als unentgeltlichen Vertreter zu
ernennen. Das Landgericht Uri bewilligte am 30. Mai 1972 die unentgeltliche
Rechtspflege, lehnte jedoch die Bestellung eines unentgeltlichen
Rechtsbeistandes ab. Hiergegen wandte sich Dr. Hartmann namens des
Kindes an das Obergericht Uri, welches den Rekurs am 13. Dezember 1972
abwies. Wie dem Entscheid im wesentlichen zu entnehmen ist, konnte sich
das Obergericht der Auffassung des Landgerichtes nicht anschliessen,
welches die Beigabe eines Rechtsanwaltes als unnötig erachtete, da der
Vaterschaftsprozess von der Offizialmaxime beherrscht sei. Es gelangte
jedoch zur Ablehnung des unentgeltlichen Rechtsbeistandes mit der
Begründung, dass es Sache der Vormundschaftsbehörde bzw. des Beistandes
sei, im Bedarfsfalle einen Rechtsanwalt mit der Wahrung der Interessen
des Kindes zu beauftragen. Eine Beschränkung des aufgrund von Art. 4 BV
bestehenden Anspruches zur gehörigen Wahrung der Interessen des Kindes
könne für ein bedürftiges Kind im Vaterschaftsprozess gar nicht erfolgen,
weil das Gemeinwesen mindestens vorläufig für die aus der Prozessführung
entstehenden Kosten aufzukommen habe.

    B.- Dr. Karl Hartmann führt im Namen von X.  staatsrechtliche
Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV. Es wird beantragt, den Entscheid
des Obergerichts Uri vom 13. Dezember 1972 aufzuheben und zur Gewährung der
vollen unentgeltlichen Rechtspflege durch Bestellung des unterzeichneten
Vertreters als Armenanwalt an die Vorinstanz zurückzuweisen. Für den Fall
des Unterliegens im bundesgerichtlichen Verfahren wird die Gewährung des
Armenrechts nach Art. 152 OG beantragt.

    C.- Das Obergericht Uri beantragt unter Verzicht auf Gegenbemerkungen,
die Beschwerde abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die staatsrechtliche Beschwerde ist, abgesehen von hier nicht in
Betracht kommenden Ausnahmen, rein kassatorischer Natur und führt im Falle
der Gutheissung bloss zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids (BGE 98
Ia 229 mit Verweisungen, 89 I 2 Erw. 1). Soweit mit der vorliegenden
Beschwerde ein Rückweisungsantrag gestellt wird, ist darauf nicht
einzutreten.

Erwägung 2

    2.- Die Beschwerdeführerin beruft sich in erster Linie auf den
unmittelbar aus Art. 4 BV sich ergebenden Armenrechtsanspruch. Darnach hat
eine bedürftige Partei in einem für sie nicht aussichtslosen Zivilprozess
einen Anspruch darauf, dass der Richter für sie ohne Hinterlegung oder
Sicherstellung von Kosten tätig wird und dass ihr ein unentgeltlicher
Rechtsbeistand bestellt wird, wenn sie eines solchen zur gehörigen
Wahrung ihrer Interessen bedarf. Ob die Voraussetzungen dafür im einzelnen
gegeben sind, prüft das Bundesgericht, was Rechtsfragen betrifft, frei
(BGE 98 Ia 342, 67 I 68).

    a) Die Bedürftigkeit der Beschwerdeführerin wird anerkannt, und es
ist auch nicht streitig, ob der in Frage stehende Vaterschaftsprozess
Aussicht auf Erfolg habe. Mit Recht hat sodann das Obergericht die dem
erstinstanzlichen Entscheid zugrundeliegende Auffassung abgelehnt. Denn der
Vaterschaftsprozess ist auch im urnerischen Zivilprozess nicht vollständig
von der Offizialmaxime beherrscht, sodass der Beizug eines Rechtsanwaltes
zur Prozessführung für das von einem rechtsunkundigen Beistand vertretene
Kind nicht von vornherein als unnötig erachtet werden kann (BGE 89 I
4 Erw. 4a). Zu prüfen ist somit einzig die Frage, ob die Pflicht der
Vormundschaftsbehörde bzw. des Beistandes zur Wahrung der Interessen des
ausserehelichen Kindes ein Grund sein kann, diesem im Vaterschaftsprozess
das Armenrecht zu verweigern.

    b) In BGE 78 I 1 ff. ging das Bundesgericht ohne weiteres davon
aus, dass dem von der Vormundschaftsbehörde als Beistand eines Kindes
im Ehelichkeitsanfechtungsprozess bestellten Rechtsanwalt die Führung
des Prozesses im Armenrecht nicht grundsätzlich zu verweigern ist. Wenn
es in jenem Fall den kantonalen Entscheid schützte, mit welchem die
Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes abgelehnt wurde, so
deshalb, weil der Prozess keine besonderen Schwierigkeiten bot. In dem in
BGE 89 I 1 ff. beurteilten Fall hat sich das Bundesgericht mit der Frage
auseinandergesetzt. Es fand, wenn, wie im Ehelichkeitsanfechtungsprozess,
die Tätigkeit des Beistandes sich in der Prozessführung erschöpfe,
so verstehe es sich von selbst, dass die Vormundschaftsbehörde als
Beistand eine Person zu ernennen habe, die den Prozess selber führen
könne, sofern eine solche im Vormundschaftskreis zu finden sei. Sie
dürfe nicht einen zur Prozessführung zum vornherein unfähigen Beistand
ernennen und es dem Gericht überlassen, zur gehörigen Wahrung der
Interessen des Verbeiständeten im Prozess diesem einen Armenanwalt zu
bestellen. Das würde darauf hinauslaufen, eine nach Art. 392 Ziff. 2 ZGB
der Vormundschaftsbehörde obliegende Aufgabe und die damit verbundenen
Kosten in unzulässiger Weise auf eine andere Behörde, hier auf ein
ausserkantonales Gericht, abzuwälzen (aaO S. 5/6). Dieser Entscheid
lässt sich aus der Besonderheit jenes Falles erklären, in welchem es
der Vormundschaftsbehörde offensichtlich möglich war, dem Kind einen die
Prozessführung übernehmenden Beistand zu bestellen und mithin der Eindruck
einer nicht gerechtfertigten Kostenabwälzung auf einen andern Kanton
bestehen musste. Es wurde aber die Bedeutung des Armenrechtsanspruchs
verkannt, der dem einzelnen unbekümmert darum, ob eine staatliche Behörde
für ihn aufzukommen hat, zustehen muss. An dieser Auffassung, die bereits
dem Entscheid 78 I 1 ff. zugrundeliegt, ist auch weiterhin festzuhalten.

    Wohl hat im Falle, da das Vermögen des verbeiständeten Kindes
zur Deckung der Prozesskosten nicht ausreicht, das Gemeinwesen
dafür aufzukommen (Kommentar EGGER zu Art. 416 ZGB, N 4, 5, 14). Im
Kanton Uri ist es die Gemeindekasse, welche die Kosten für arme
Bevormundete bzw. Verbeiständete bestreitet (§ 21 der Verordnung
betreffend das Vormundschaftswesen vom 31. Mai 1922, § 48 EG/ZGB). Das
bedeutet jedoch nicht, dass es bei der Frage, ob das Gericht einen
unentgeltlichen Rechtsbeistand zu bestellen hat, bloss um den Streit
zwischen zwei staatlichen Behörden über die Kosten der Prozessvertretung
geht. Entgegen der im angefochtenen Entscheid vertretenen Auffassung wird
der Gehörsanspruch des Kindes davon betroffen, und es hat denn auch ein
aktuelles Interesse an der Beschwerde (Art. 88 OG). Der Anspruch auf einen
unentgeltlichen Rechtsbeistand, wie er jedem unbemittelten Rechtssuchenden
gestützt auf Art. 4 BV und auch das kantonale Recht zusteht, ist etwas
anderes und geht wesentlich weiter als die aus Art. 367 ZGB sich ergebende
Verpflichtung der Vormundschaftsbehörde, zur gehörigen Wahrung der
Interessen des Verbeiständeten einen rechtskundigen Prozessvertreter zu
bestellen. Der Armenrechtsanspruch kann beim Gericht durchgesetzt werden.
Dabei ist dem Begehren nach bestimmten, in der bundesgerichtlichen
Praxis oder im kantonalen Recht festgehaltenen Kriterien stattzugeben. Die
Vormundschaftsbehörde dagegen kann nach ihrem Ermessen darüber befinden, ob
der von ihr bestellte Beistand hinreichend rechtskundig ist oder allenfalls
ein Rechtsanwalt mit der Prozessführung zu beauftragen ist. Dabei ist das
Ermessen, das ihr im Rahmen ihrer gesetzlichen Aufgabe zusteht, naturgemäss
sehr weit. Bei Verhältnissen, wie sie z.B. im Kanton Uri herrschen, wo
den Vormundschaftsbehörden keine Juristen als Amtsvormünder zur Verfügung
stehen, die im Rahmen ihrer amtlichen Tätigkeit mit der Übernahme von
Prozessvertretungen betraut werden können, mögen leicht finanzielle
Überlegungen mitspielen. Bei einem armen Kind könnte mit der Ernennung
eines Rechtsanwaltes für die Durchführung des Vaterschaftsprozesses eher
Zurückhaltung geübt werden als bei einem Kind, dessen Vermögen für die
damit verbundenen Kosten ausreicht. Die Verweisung des Kindes auf den von
der Vormundschaftsbehörde zu bestellenden Prozessvertreter kann daher den
Anspruch, im Armenrecht einen unentgeltlichen Rechtsbeistand zu erhalten,
nicht aufwiegen. Es würde eine Benachteiligung bedeuten, die mit dem Gebot
der Rechtsgleichheit nicht zu vereinbaren wäre. Der verfassungsmässige
Armenrechtsanspruch muss der bevormundeten oder verbeiständeten Partei
offen stehen wie jedem anderen Rechtssuchenden. Massgebend kann einzig
sein, ob sie selbst arm ist oder nicht. Das schliesst nicht aus, dass
der Staat nachher auf das zuständige Gemeinwesen Rückgriff nehmen kann.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird, soweit darauf einzutreten ist, gutge.. heissen
und der Entscheid des Obergerichts Uri vom 13. Dezember 1972 aufgehoben.