Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 V 94



97 V 94

22. Urteil vom 21. Juni 1971 i.S. Kretschmann gegen Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt und Versicherungsgericht des Kantons Zürich
Regeste

    Art. 74 Abs. 3 KUVG.
   -  Über die Tragweite dieser Bestimmung.

    - Freiwillige Leistungen des Arbeitgebers fallen für die Berechnung
einer allfälligen Bereicherung aus Doppelversicherung ausser Betracht.

Sachverhalt

    A.- Der bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt
versicherte Hans Kretschmann hat 1965 einen Betriebs- und 1968 einen
Nichtbetriebsunfall erlitten. Vergleichsweise sprach ihm die SUVA am
25. Mai 1970 für die Dauerfolgen beider Unfälle vom 15. Februar 1970
hinweg eine nach Art. 91 KUVG gekürzte Rente zu. Mit Verfügung vom
25. Mai 1970 stellte die SUVA ferner fest, dass der Versicherte bis
zum 31. Dezember 1969 keinen Lohnausfall erlitten habe, weshalb die ihm
von der Invalidenversicherung für die krankengeldberechtigte Zeitspanne
ausgerichteten Renten unter dem Titel Überversicherung im Sinn des Art. 74
Abs. 3 KUVG zurückgefordert werden müssten...

    Die Rückforderung des Betrages von Fr. 4396.-- machte die SUVA in der
Weise geltend, dass sie ihn mit dem vom 1. Januar bis 14. Februar 1970
geschuldeten Krankengeld von Fr. 1456.-- und den bis 30. Juni 1970 fälligen
SUVA-Renten von Fr. 2466.-- (total Fr. 3922.--) verrechnete. Ferner
stellte sie die verrechnungsweise Tilgung des Restbetrages von Fr. 474.--
für die Monate Juli bis November 1970 in Aussicht.

    B.- Gegen die Rückforderungsverfügung der SUVA liess Hans Kretschmann
beim Versicherungsgericht des Kantons Zürich klageweise beantragen,
die Anstalt sei zu verhalten, ihm, allenfalls seinem Arbeitgeber
den infolge Verrechnung zurückbehaltenen Betrag von Fr. 4396.--
unverzüglich auszuzahlen. Im wesentlichen wurde vorgebracht, es bestehe
keine Überversicherung, weil die vom Arbeitgeber freiwillig, aus sozialen
Gründen erbrachte Leistung nicht in die Berechnung der allfälligen
Überversicherung einbezogen werden dürfe.

    Die Vorinstanz hat die Klage abgewiesen mit der Begründung, im Umfang
der freiwilligen Arbeitgeberleistungen liege kein entgehender Verdienst
vor, wie die SUVA mit Recht angenommen habe (Entscheid vom 6. November
1970).

    C.- Mit seiner Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt Hans Kretschmann
das vorinstanzliche Begehren wiederholen.

    Die SUVA beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Auf
die Begründung wird, soweit erforderlich, in den rechtlichen Erwägungen
zurückzukommen sein.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Streitig ist lediglich, ob die Leistungen des Arbeitgebers,
soweit sie das bereits ausbezahlte Krankengeld übersteigen, die von der
SUVA unter dem Titel "Überversicherung" vorgenommene Herabsetzung ihrer
Krankengeldleistungen rechtfertigen.

Erwägung 2

    2.- In der Sozialversicherung sind, soweit es sich verantworten
lässt, zweckmässigerweise dieselben Begriffe und die gleiche
Terminologie zu verwenden, welche in der wissenschaftlich besser
bearbeiteten Privatversicherung üblich sind. So definiert KÖNIG
(Schweiz. Privatversicherungsrecht, 3. Aufl., S. 320) den Begriff der
Überversicherung wie folgt: "Überversicherung besteht darin, dass die
Versicherungssumme höher ist als der Sachwert." "Doppelversicherung liegt
nach VVG Art. 53 vor, wenn dasselbe Interesse gegen dieselbe Gefahr und für
dieselbe Zeit bei mehr als einem Versicherer dergestalt versichert wird,
dass die Versicherungssummen zusammen den Versicherungswert übersteigen"
(KÖNIG S. 322 f.).

    Heute steht das Zusammentreffen von Krankengeld der SUVA, einer
Rente der Invalidenversicherung und einer freiwilligen Leistung des
Arbeitgebers des Beschwerdeführers zur Diskussion. Gesetzliche Regeln über
das Zusammentreffen solcher Leistungen finden sich in Art. 74 Abs. 3 KUVG
und Art. 45 IVG. Diese zuletzt genannte Bestimmung ist aber im vorliegenden
Fall zum vornherein nicht anwendbar, weil sie sich nur auf das Verhältnis
der IV-Renten zu Renten, nicht aber zum Krankengeld der SUVA (oder der
Militärversicherung) bezieht.

    Im Sinn der oben zitierten Begriffsbestimmungen hat Art. 74 Abs. 3
KUVG den Sachverhalt der Doppelversicherung, genau genommen das Verbot
der Gewinnerzielung bzw. der Bereicherung aus Doppelversicherung
zum Gegenstand. Nach dieser Vorschrift darf dann, wenn auch andere
Versicherer für denselben Unfall Leistungen erbringen, das Krankengeld
der SUVA den von diesen andern Versicherern nicht gedeckten Teil
des entgehenden Verdienstes nicht übersteigen. Es geht hier primär
darum, der eigentlichen versicherungsmässig bedingten Bereicherung
vorzubeugen. Die Doppelversicherung darf nicht zu einer den effektiven
Schaden überschreitenden Bereicherung führen. Es soll darum die zum voraus
vertraglich (Privatversicherung) oder gesetzlich (Sozialversicherung)
ermöglichte Über-Deckung nachträglich korrigiert werden.

    Mit Recht zählen beide Parteien den Arbeitgeber des Beschwerdeführers
nicht zu den andern Versicherern im Sinn des Art. 74 Abs. 3 KUVG. Die
SUVA "stellt sich lediglich auf den Standpunkt, dass im Umfange der
Zahlung des Arbeitgebers kein 'entgehender Verdienst' nach Art. 74
Abs. 3 KUVG vorliegt und demgemäss das Krankengeld höchstens dem offenen
Betrag minus die Leistungen der Unfallversicherung (ihrerseits solche
eines 'Versicherers') entsprechen kann". Es spiele keine Rolle, ob der
Arbeitgeber zu den fraglichen Leistungen verpflichtet gewesen sei. Diese
seien kein Geschenk des Arbeitgebers oder eines Dritten ausserhalb
des Arbeitsverhältnisses, sondern mit diesem sehr eng verknüpft. Der
Beschwerdeführer habe sich diese Leistung selbst erarbeitet; sie habe
lohnähnlichen Charakter. Bezeichnenderweise seien denn solche freiwillige
Beiträge in andern Sozialversicherungszweigen abgabepflichtig, indem
ihnen - ungeachtet der Freiwilligkeit - Lohnqualität beigemessen werde.

Erwägung 3

    3.- Bei der Prüfung der Frage, was als entgehender Verdienst zu
gelten hat, bzw. ob eine freiwillige Arbeitgeberleistung der zur
Diskussion stehenden Art nach Art. 74 Abs. 3 KUVG als "Verdienst"
angerechnet werden muss, ist - unter dem Gesichtspunkt der begrifflichen
Harmonisierung in der Sozialversicherung - nach Parallelen in den übrigen
Sozialversicherungszweigen zu suchen.

    Die nächstliegende Parallele findet sich in Art. 26 Abs. 1 KUVG,
der für die Krankenversicherung unter dem Randtitel "Überversicherung"
vorschreibt: "Dem Versicherten darf aus der Versicherung kein
Gewinn erwachsen." Art. 26 KUVG hat indessen die spezifisch
versicherungsrechtliche Bereicherungsmöglichkeit in dem in Erwägung
2 erwähnten Sinn zum Gegenstand. Es wäre geradezu systemwidrig,
wenn freiwillige, auf keiner Rechtspflicht beruhende Zahlungen,
welche der Arbeitgeber aus irgendwelchen sozialen Gründen gewährt,
dazu benützt würden, um im Sinn der Berechnungsweise der SUVA die
Versicherungsleistungen herabzusetzen.

    Sodann ist auf Art. 28 IVG über die Bemessung der Invalidität zu
verweisen. Nach der in Abs. 2 umschriebenen Begriffsbestimmung gehört
der Soziallohn, als was die freiwillige Arbeitgeberleistung in dem für
die SUVA günstigsten Fall bezeichnet werden könnte, nicht zu dem für
die Ermittlung des Invaliditätsgrades massgebenden Verdienst. Dabei ist
allerdings einzuräumen, dass der Hinweis auf Art. 28 Abs. 2 IVG insoweit
unzutreffend ist, als diese Vorschrift den (durch Vergleich zweier
hypothetischer Einkommen zu ermittelnden) Grad der Erwerbsunfähigkeit zum
Gegenstand hat, während es in Art. 74 Abs. 3 KUVG um den tatsächlichen
Verdienstausfall geht.

    Die SUVA bemerkt, dass "in andern Sozialversicherungszweigen solche
freiwillige Beträge abgabepflichtig sind". Gemeint ist offenbar die
Beitragspflicht in der AHV (sowie in der Invalidenversicherung und
Erwerbsersatzordnung). Wäre diese Parallele richtungweisend, so müsste
aber insbesondere auch erwähnt werden, dass gemäss Art. 5 Abs. 4 AHVG
in Verbindung mit Art. 8 AHVV nicht zum massgebenden Verdienst gehören
"Leistungen der Arbeitgeber an ihre Arbeitnehmer und deren Angehörige zur
Bezahlung von Arzt-, Arznei-, Spital- und Kurkosten ... sowie über den
Lohn hinausgehende Einzahlungen des Arbeitgebers in ein Sparkassenheft des
Arbeitnehmers, sofern dieser darüber nur bei Krankheit, Unfall, vorzeitiger
Auflösung des Dienstverhältnisses oder Aufgabe der Erwerbstätigkeit
infolge Alters oder Arbeitsunfähigkeit verfügen kann". Besonders zu
beachten ist die Bestimmung über die Einzahlungen in ein Sparkassenheft
im Hinblick auf Krankheit und Unfall des Arbeitnehmers. Zwar ist im
vorliegenden Fall keine derartige Einlage getätigt worden, was jedoch
bei sinngemässer Anwendung der zitierten Bestimmung bedeutungslos ist,
weil ja im Zeitpunkt der Auszahlung der Unfall schon eingetreten und somit
der Sicherstellungszweck der Einzahlung auf ein Sparheft bereits obsolet
geworden war. Wollte man also den in Art. 74 Abs. 3 KUVG verwendeten
Begriff des Verdienstes im Sinn des Einkommens aus unselbständiger
Erwerbstätigkeit gemäss Art. 5 AHVG verstanden wissen, so dürfte die
freiwillige Leistung des Arbeitgebers an den Beschwerdeführer nicht als
massgebender Lohn betrachtet und somit bei der Ermittlung der allfälligen
Bereicherung aus Doppelversicherung nicht miteinbezogen werden.

    Aber trotz der in den einzelnen Sozialversicherungszweigen
anzustrebenden begrifflichen Harmonisierung liesse sich auch die Auffassung
vertreten, dass die Begriffe des Erwerbseinkommens nach Art. 5 AHVG und
des Verdienstes nach Art. 74 Abs. 3 KUVG doch nicht ohne weiteres einander
gleichgesetzt werden dürfen. Im AHVG geht es um die möglichst lückenlose
Erfassung jeglichen Erwerbseinkommens im Hinblick auf den Beitragsbezug. In
der obligatorischen Unfallversicherung dagegen handelt es sich, wie
gesagt, darum, der eigentlichen versicherungsmässig bedingten Bereicherung
vorzubeugen (s. Erwägung 2). Die Ausscheidung von Sozialkomponenten vom
Verdienst nach Art. 74 Abs. 3 KUVG dürfte somit in noch grosszügigerer
Weise erfolgen als unter dem bereits erwähnten Gesichtspunkt des Art. 5
AHVG. Diese Betrachtungsweise würde im vorliegenden Fall in vermehrtem Mass
dafür sprechen, dass die freiwillige Leistung des Arbeitgebers nicht in die
Berechnung einbezogen werden darf. Es kann deshalb heute offen gelassen
werden, ob grundsätzlich der Begriff des Verdienstes nach Art. 74 Abs. 3
KUVG dem Einkommensbegriff von Art. 5 AHVG gleichgestellt werden sollte.

Erwägung 4

    4.- Es ergibt sich, dass die freiwillige Arbeitgeberleistung in der
Höhe von Fr. ... nicht zu den anrechenbaren Leistungen des Art. 74 Abs.
3 KUVG gehört. Demzufolge resultiert aus der Doppelversicherung durch
die SUVA und die Invalidenversicherung auch keine Bereicherung des
Beschwerdeführers, die durch Herabsetzung der SUVA-Leistungen berichtigt
werden müsste. Die SUVA hat daher den durch Verrechnung mit dem Krankengeld
und den Renten zurückbehaltenen Betrag nunmehr auszuzahlen. Dies führt
zur Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: In Gutheissung
der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 6. November 1970 und die
SUVA-Verfügung vom 25. Mai 1970 aufgehoben.