Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 V 237



97 V 237

57. Urteil vom 22. Dezember 1971 i.S. Meyer gegen Ausgleichskasse des
Aargauischen Arbeitgeberverbandes und Obergericht des Kantons Aargau
Regeste

    Art. 21bis Abs. 1 IVG.

    Dem Invaliden, der schon vor Eintritt der Invalidität zur Überwindung
seines - gleich gebliebenen - Arbeitsweges auf ein Motorfahrzeug angewiesen
war, gebührt dessen Anpassung an den invalidierenden Zustand, jedoch kein
Amortisationsbeitrag (Bestätigung der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- Der 1930 geborene Beschwerdeführer Hans Meyer arbeitet seit
1951 als Schlosser, seit 1969 als Werkmeister in der Sprengstoff-Fabrik
AG Dottikon. Am 8. April 1969 wurde er Opfer eines Explosionsunglücks
und verlor das linke Bein, das "hoch oben im Hüftgelenk exartikuliert"
werden musste (Arztbericht vom 6. März 1970); ferner büsste er mehrere
Fingerglieder der linken Hand ein und leidet seit dem Unfall auch
an einer Funktionsbehinderung der rechten Hand, des Handgelenks und
des Vorderarmes. Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA)
versorgte ihn mit einer Prothese, welche nach Angabe des behandelnden
Arztes "befriedigend bis gut" sitzt, und gewährte ihm eine Rente von
80 Prozent. Im Februar 1970 nahm Hans Meyer die Arbeit beim bisherigen
Arbeitgeber wieder teilweise auf; er wird vorwiegend im Werkstattbüro mit
Kontrollarbeiten und Arbeitsvorbereitung beschäftigt. Mit Beschluss vom
16. November 1970 sprach ihm die Invalidenversicherungs-Kommission, bei
welcher er sich im Februar 1970 zum Leistungsbezug gemeldet hatte, eine
halbe Invalidenrente ab 1. April 1970 bei Annahme eines Invaliditätsgrades
von 50 Prozent zu. Der Beschwerdeführer wohnt in seinem Eigenheim in
Uezwil, 9 1/2 Kilometer vom Arbeitsplatz entfernt. Schon vor dem Unfall
pflegte er den Arbeitsweg im Auto zurückzulegen, das er 1968 erworben
hatte. Im November 1969 gab er diesen Wagen, einen "Opel-Rekord", für ein
gleiches, aber mit automatischem Getriebe versehenes Modell an Zahlung,
wobei er rund 6000 Franken aufzahlte. Diesen Wagen mit automatischem
Getriebe benutzt er nun, um seinen Arbeitsweg zu überwinden.

    B.- Mit Kassenverfügung vom 13. November 1970 übernahm die
Invalidenversicherung die Mehrkosten von 1015 Franken für das automatische
Getriebe.

    Hans Meyer erhob gegen diese Verfügung Beschwerde. Er meinte, er sollte
nicht mehr einbüssen müssen, als den mit dem ersten Wagen gefahrenen 6000
Kilometern entspreche, also ungefähr 1800 Franken; demnach müssten ihm
mindestens 4200 Franken an den neuen Wagen vergütet werden. Hätte er keinen
neuen Wagen gekauft, so könnte er heute noch nicht wieder arbeiten gehen.

    Die Invalidenversicherungs-Kommission schloss auf Abweisung der
Beschwerde.

    Das Obergericht des Kantons Aargau als Rekurskommission schützte
mit Entscheid vom 22. Januar 1971 die Verwaltungsverfügung und wies die
Beschwerde ab. Nur die Anpassungskosten des Autos an die Behinderung des
Beschwerdeführers seien invaliditätsbedingt, nicht aber das Automobil
selber; denn ein solches benutze auch ein Gesunder, der einen Arbeitsweg
von 9 1/2 Kilometer zurücklegen müsse und - wie hier - keine geeigneten
öffentlichen Verkehrsmittel zur Verfügung habe.

    C.- Gegen diesen Entscheid führt Hans Meyer
Verwaltungsgerichtsbeschwerde und hält an seinem Rechtsbegehren fest, es
müssten ihm "wenigstens Fr. 4200.-- an den neuen Wagen vergütet werden". Er
bringt namentlich vor, er sei als Gesunder mindestens 7 Jahre lang mit dem
Fahrrad nach Dottikon zur Arbeit gefahren. Das Auto habe er hauptsächlich
benötigt, um am Abend und an Samstagen einem Nebenverdienst nachzugehen.

    Die Ausgleichskasse enthält sich eines Antrages, während das Bundesamt
für Sozialversicherung Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde in
dem Sinne beantragt, dass dem Beschwerdeführer jährliche Amortisations-
und Reparaturkostenbeiträge gewährt werden.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- ...

Erwägung 2

    2.- Zu prüfen ist, ob der Beschwerdeführer im Sinne der bundesamtlichen
Vernehmlassung Amortisationsbeiträge gemäss Art. 16bis IVV zu beanspruchen
habe. Laut Art. 21bis Abs. 1 IVG und Art. 16bis Abs. 2 IVV kann die
Versicherung Amortisationsbeiträge ausrichten, wenn der Versicherte ein
Hilfsmittel, auf das er Anspruch besitzt, auf eigene Kosten angeschafft
hat. Motorfahrzeuge werden - gestützt auf Art. 21 Abs. 1 IVG und Art. 14
Abs. 1 lit. g IVV - abgegeben, wenn der Versicherte voraussichtlich
dauernd eine existenzsichernde Erwerbstätigkeit ausübt und zur Überwindung
des Arbeitsweges wegen Invalidität auf ein persönliches Motorfahrzeug
angewiesen ist (Art. 15 Abs. 1 IVV; vgl. BGE 96 V 79 und 81, ZAK 1970
S. 410).

Erwägung 3

    3.- Die erste der beiden Voraussetzungen, die Ausübung einer
existenzsichernden Erwerbstätigkeit, ist im vorliegenden Fall zweifellos
erfüllt. Somit bleibt die Frage zu entscheiden, ob der Beschwerdeführer
wegen seiner Invalidität auf ein Motorfahrzeug angewiesen sei, um den
Arbeitsweg zurückzulegen, wie dies die zweitgenannte Anspruchsvoraussetzung
fordert.

    a) Das Bundesamt für Sozialversicherung bejaht diese Frage mit dem
Argument, der Beschwerdeführer wäre wegen seiner Invalidität auch dann auf
ein Motorfahrzeug angewiesen, wenn er am Arbeitsort Dottikon wohnte; die
Länge des Arbeitsweges spiele für die Gewährung von Amortisationsbeiträgen
eine untergeordnete Rolle, weil die dadurch allenfalls verursachte
vorzeitige Abnützung des Wagens zu Lasten des Versicherten gehe.

    b) Das Gesamtgericht, welches sich mit dem grundsätzlichen Aspekt
dieses Falles befasste, hat die Frage nach der Massgeblichkeit einer
solchen Hypothese verneint. Vielmehr ist auf Grund des tatsächlichen
Arbeitsweges im Einzelfall zu beurteilen, ob der Versicherte nach den
gesamten Gegebenheiten wegen seiner Invalidität auf ein Motorfahrzeug
angewiesen sei. Das trifft - wie die Rechtsprechung schon bisher
zu Recht angenommen hat(nichtveröffentlichtes Urteil vom 26. Mai
1970 in Sachen Thurnheer sowie ZAK 1970 S. 410) - namentlich dann
nicht zu, wenn anzunehmen ist, der Versicherte müsste nach den
Umständen seinen tatsächlichen Arbeitsweg auch als Gesunder mit
einem persönlichen Motorfahrzeug zurücklegen. Die Notwendigkeiteines
Fahrzeuges kann sich vor allem ergeben aus beruflichen Gründen (für
Vertreter, Taxifahrer usw.) sowie aus der Entfernung des Wohnortes
vom Arbeitsort, insbesondere wenn es an öffentlichen Verkehrsmitteln
fehlt oder deren Benützung unzumutbar ist. Unmassgeblich ist dagegen,
ob jemand als Gesunder tatsächlich ein Motorfahrzeug benutzt hat, um
seinen Arbeitsweg zu überwinden, ohne dass er nach den Umständen darauf
angewiesen war. Diese Ordnung soll auch der rechtsgleichen Behandlung der
Empfänger dieser Leistung der Invalidenversicherung gegenüber andern,
nicht anspruchsberechtigten Gehbehinderten einerseits und gegenüber
Nichtinvaliden anderseits dienen (nicht veröffentlichtes Urteil vom
2. Februar 1971 in Sachen Rebmann, Erw. 3). Dem entspricht es ferner,
wenn im Falle eines Wohnsitz- oder Arbeitsplatzwechsels - auch der
Invalide ist in dieser Hinsicht grundsätzlich frei (BGE 96 V 79/80)
- die diesbezüglichen Voraussetzungen gemäss den veränderten Umständen
wieder neu geprüft werden. Daraus erhellt, dass die Anspruchsberechtigung
nicht mit der Begründung bejaht werden darf, der Invalide würde wegen
seines Gebrechens ein Motorfahrzeug benötigen, wenn er anderswo wohnte
oder arbeitete; sonst könnte mit der sinngemäss gleichen Begründung auch
ein Anspruch verneint werden, der nach den tatsächlichen Verhältnissen
schutzwürdig ist. Das Gesamtgericht hat demzufolge die bisherige
Rechtsprechung in diesem Sinne bestätigt.

Erwägung 4

    4.- Im vorliegenden Fall ist nicht zu bestreiten, dass Hans Meyer
für die Überwindung seines effektiven Arbeitsweges auf ein Motorfahrzeug
angewiesen ist. Jedoch braucht er den Wagen nicht wegen der Invalidität
- deswegen benötigt er lediglich ein dem Gebrechen angepasstes,
mit Automatik ausgerüstetes Automobil -, sondern wegen der Distanz
zum Arbeitsplatz unterden herrschenden Umständen. Die Entfernung von
seinem Eigenheim in Uezwil zur Sprengstoff-Fabrik Dottikon beträgt 9 1/2
Kilometer. Eine geeignete Verbindung durch öffentliche Verkehrsmittel
besteht nicht. Unter solchen Umständen wird heutzutage die Verwendung
eines eigenen Automobils, um täglich an die Arbeit zu gelangen, immer
mehr üblich, zumal für einen Werkmeister. Aus den Akten ergibt sich denn
auch, dass Hans Meyer schon vor seinem Unfall auf einen Wagen angewiesen
war, um den Arbeitsweg zu überwinden; denn dieser ist unabhängig von der
Invalidität zu lang, als dass er heute noch zu Fuss oder mit dem Fahrrad
zurückgelegt würde. Es mag zwar sein, dass der Beschwerdeführer - wie
er in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde behauptet - früher 7 Jahre mit
dem Rad zur Arbeit gefahren ist. Er arbeitet aber schon rund 20 Jahre in
Dottikon. Unmittelbar vor dem Unfall, jedenfalls seit er Werkmeister war,
vermutlich aber schon früher, begab er sich im Automobil zur Arbeit. Nach
dem Gesagten gebricht es im vorliegenden Fall an der positiv-rechtlichen
Anspruchsvoraussetzung der invaliditätsbedingten Notwendigkeit eines
Motorfahrzeuges zur Ausübung der Erwerbstätigkeit. Mithin ist dem
vorinstanzlichen Entscheid beizupflichten.

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: Die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.