Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 V 187



97 V 187

45. Auszug aus dem Urteil vom 3. September 1971 i.S. Schweizerische
Krankenkasse Artisana gegen Anzalone und Verwaltungsgericht des Kantons
Bern Regeste

    Art. 30 Abs. 2 KUVG, Art. 107 Abs. 3 OG und Art. 38 VwG.

    Mangelhafte Eröffnung: unrichtige Rechtsmittelbelehrung. Auswirkungen
einer ungesetzlichen Erstreckung der Rechtsmittelfrist (Erw. 2 und 3).

    Art. 30bis Abs. 3 lit. a KUVG und Art. 159 OG.

    Zusprechung von Parteientschädigungen im erstinstanzlichen Verfahren
(Erw. 4).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- ...

Erwägung 2

    2.- Nach der Rechtsprechung darf dem Rechtsuchenden, der sich
auf eine von der zuständigen Behörde erteilte, sachlich unrichtige
Rechtsmittelbelehrung verlassen hat und verlassen durfte, daraus kein
Nachteil erwachsen (EVGE 1964 S. 68, BGE 78 I 297 mit Verweisungen). Dieser
Grundsatz ist in Art. 107 Abs. 3 rev. OG im Hinblick auf die in Art. 35
Abs. 1 und 2 VwG vorgeschriebene Rechtsmittelbelehrung auf dem Gebiete
der Verwaltungsrechtspflege gesetzlich verankert worden.

    Auf eine von der zuständigen Behörde erteilte, sachlich unrichtige
Rechtsmittelbelehrung darf sich die Partei, an welche die Belehrung
sich richtet, nur dann nicht verlassen, wenn sie die Voraussetzungen
des in Frage stehenden Rechtsmittels tatsächlich kannte, so dass sie
durch die falsche Belehrung nicht irregeführt werden konnte, oder wenn
die Unrichtigkeit der Belehrung für sie ohne weiteres klar erkennbar war
(BGE 96 II 72).

Erwägung 3

    3.- Im vorliegenden Fall hat die Kasse der Verfügung eine korrekte
Rechtsmittelbelehrung beigefügt. Noch vor Ablauf der Rechtsmittelfrist
hat sie indessen dem Sinne nach nicht nur eine falsche Auskunft
über die Bedeutung der Rechtsmittelfrist erteilt, sondern sie hat
erklärt, dass sie diese "sine die" verlängere. Die ursprünglich richtige
Rechtsmittelbelehrung und ihre Abänderung innerhalb der Rechtsmittelfrist
sind als Einheit und demzufolge als unrichtige Rechtsmittelbelehrung zu
behandeln. Der Vertreter des Versicherten ist daher in seinem Vertrauen
auf die Erklärung der Kasse, dass die Rechtsmittelfrist einstweilen
"sine die" weiterlaufe, grundsätzlich zu schützen.

    Zwar hat das Eidg. Versicherungsgericht in einem Urteil i.S. Helsa
Watch AG vom 11. September 1959 entschieden (ZAK 1959 S. 498), die
Erklärung der Ausgleichskasse, sie erstrecke die 30tägige Beschwerdefrist,
sei unerheblich; auf die nach Ablauf der Frist eingereichte Beschwerde
könne nicht eingetreten werden; es würde gegen das öffentliche Interesse
verstossen, wenn man zuliesse, dass eine Kasse die Rechtskraftwirkung der
von ihr formgerecht erlassenen Verfügung nachträglich beliebig hinauszögern
könnte; auch die Berufung auf den Grundsatz von Treu und Glauben dürfe den
Richter nicht dazu verleiten, derartige Rechtswidrigkeiten zu decken und
auf solche Art den Verwirkungscharakter der Beschwerdefrist zu untergraben.

    Auf Grund eines Beschlusses des Gesamtgerichts, dem diese Frage
unterbreitet wurde, kann an dieser Auffassung heute indessen nach dem
in Erwägung 2 Gesagten nicht mehr festgehalten werden. Sie widerspricht
dem heutigen Bestreben, unnötigen prozessualen Formalismus zu Gunsten
wirklichkeitsnaher, dem materiellen Recht zum Durchbruch verhelfender
Rechtsprechung zu überwinden (BGE 97 I 105).

    Da dem Rechtsuchenden auch aus einer unklaren oder zweideutigen
Belehrung ein Nachteil nicht erwachsen darf (BGE 77 I 274), muss
dafür gesorgt werden, dass aus einer solchen Rechtsmittelbelehrung
nicht Konsequenzen gezogen werden, welche die bei richtiger Belehrung
gewährleistete Rechtsgleichheit aller Parteien und die Rechtssicherheit
hinsichtlich der Eröffnung des Rechtsmittels beeinträchtigen
könnten. Diesem Erfordernis kann in der Regel nur in der Weise ausreichend
Rechnung getragen werden, dass eine mit unrichtiger, unvollständiger,
unklarer oder zweideutiger Rechtsmittelbelehrung versehene Verfügung als
formell unrichtig eröffnet und damit als nicht rechtsgenüglich eröffnet
gilt. Die Verfügung kann also auch nicht in Rechtskraft erwachsen, sondern
bedarf vorerst noch der formrichtigen Eröffnung. Nach dem Grundsatz
von Treu und Glauben darf einer solchen Verfügung jedoch nicht ohne
jede zeitliche Befristung der Mangel der formell unrichtigen Eröffnung
entgegengehalten werden (vgl. auch ZAK 1970 S. 277, 1966 S. 437). Das
trifft im vorliegenden Fall allerdings nicht zu.

    Nachdem die Kasse am 21. Juli 1967 die Rechtsmittelfrist "sine die"
verlängert hatte, teilte sie am 20. Mai 1969 dem Patronato ACLI mit, sie
betrachte die Verfügung vom 13. Juli 1967 als rechtskräftig. Damit hatte
die Kasse erstmals dem Versicherten zu erkennen gegeben, dass sie entgegen
der Rechtsmittelbelehrung vom 21. Juli 1967 die Verfügung nicht mehr für
anfechtbar halte. Diese Mitteilung stellt indessen nicht eine nachgeholte
richtige Eröffnung der Rechtsmittelbelehrung dar, weil nur festgestellt
wurde, die Verfügung vom 13. Juli 1967 sei bereits rechtskräftig. Vielmehr
wurde die Rechtslage noch dadurch verwischt, dass die Kasse Verhandlungen
über freiwillige und unverbindliche Leistungen in Aussicht stellte. Erst
aus dem Schreiben vom 21. August 1969 konnte der Vertreter des Versicherten
ersehen, dass die Kasse ihre Leistungen mit der Begründung verweigern
wollte, die Verfügung vom 13. Juli 1967 sei mangels rechtzeitiger
Anfechtung in Rechtskraft erwachsen. Seine Beschwerde vom 20. September
1969, welche trotz des unzutreffenden Antrages mit ausreichender Klarheit
zum Ausdruck bringt, dass die allein massgebende Verfügung vom 13. Juli
1967 angefochten werden soll, ist daher rechtzeitig eingereicht.

    Aus prozessökonomischen Gründen ist es nicht notwendig, die
Kasse vorerst zu formrichtiger Eröffnung und umfassender Begründung
dieser Verfügung zu veranlassen. Die Vorinstanz, an welche die Akten
zurückgewiesen werden, hat materiell auf die rechtzeitige Beschwerde
einzutreten. Es bleibt ihr indessen unbenommen, den Parteien nochmals
Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.

Erwägung 4

    4.- Bei diesem Ausgang des Verfahrens ist der vorinstanzliche
Kostenspruch aufzuheben und dem Entscheid in der Sache selbst vorzubehalten
(Art. 135 in Verbindung mit Art. 159 Abs. 6 OG). Die Beschwerdeführerin
irrt allerdings, wenn sie glaubt, Art. 30bis Abs. 3 lit. a KUVG finde auch
auf die Parteientschädigung Anwendung. Diese Bestimmung stellt lediglich
fest, dass das Verfahren für die Parteien grundsätzlich kostenlos sein
muss. Die Zusprechung einer Prozesskostenentschädigung an den obsiegenden
Versicherten im kantonalen Verfahren ist dagegen zulässig (EVGE 1967 S. 64
Erw. 5, S. 193 Erw. 5). Im übrigen kann die Höhe der von der Vorinstanz
zugesprochenen Entschädigung nicht beanstandet werden...