Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 V 110



97 V 110

26. Urteil vom 15. Juni 1971 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung gegen
Ammann und Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen Regeste

    Art. 42 Abs. 1 AHVG und Art. 56 lit. d AHVV.

    Für die Bewertung des anrechenbaren Naturaleinkommens aus
Verpfründungsvertrag und ähnlichen Vereinbarungen ist der Nutzungswert
massgebend.

Sachverhalt

    A.- Pater Alois Ammann bezog seit dem 1. Januar 1969 eine
ausserordentliche AHV-Altersrente von monatlich Fr. 200.--. Die
Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen überprüfte im Herbst desselben
Jahres die Einkommensverhältnisse des vermögenslosen Rentenbezügers und
veranschlagte nun den ihm von der Ordensgemeinschaft gewährten Unterhalt
auf jährlich Fr. 4800.--, wovon sie für Versicherungsprämien den Betrag
von Fr. 600.-- abzog (Art. 57 lit. d AHVV). Demgemäss errechnete die
Ausgleichskasse das massgebende Einkommen nach Art. 42 Abs. 1 AHVG auf
Fr. 2796.-- und die ausserordentliche Rente auf monatlich Fr. 167.--. In
diesem Sinn verfügte die Ausgleichskasse am 29. Dezember 1969, wobei sie
den Beginn der gekürzten Rente auf den 1. Januar 1970 festsetzte.

    B.- Der Ökonom des Missionshauses erhob für Pater Alois Ammann
Beschwerde. Er verlangte, dass der Unterhalt angesichts der einfachen
Lebensverhältnisse der Ordensgemeinschaft auf 4000 Franken veranschlagt
und die frühere Rente von Fr. 200.-- weiterhin ausgerichtet werde.

    Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hat die Beschwerde mit
Entscheid vom 30. Oktober 1970 gutgeheissen: Wenn - wie im vorliegenden
Fall - eine Betriebsrechnung geführt werde, welche den Aufwand für den
Unterhalt eines Versicherten annähernd ermitteln lasse, so wäre es wenig
sinnvoll und unter Umständen stossend, auf den theoretischen, von der
Verwaltungspraxis auf 4800 Franken festgesetzten Durchschnittswert statt
auf den Effektivwert abzustellen. Nachdem sich aus der Beschwerde ergebe,
dass der tatsächliche Aufwand für den Lebensunterhalt im Rechnungsjahr
1968/69 sich auf Fr. 3750.-- belaufen habe, so dürfte die Bewertung unter
Berücksichtigung der inzwischen eingetretenen Teuerung auf Fr. 4000.--
den effektiven Verhältnissen eher gerecht werden als die von der Kasse
angenommenen Fr. 4800.--.

    C.- Mit seiner Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das Bundesamt
für Sozialversicherung, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei
die Kassenverfügung wieder herzustellen. Es seien kaum Fälle denkbar,
in denen die Lebenshaltungskosten weniger als 4800 Franken betragen;
vielmehr dürfte dieser Ansatz in der Regel überschritten werden...

    Der Ökonom des Missionshauses beantragt für Pater Alois Ammann
sinngemäss die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Er stellt
ferner den Eventualantrag, dass wenigstens im vorliegenden Fall im Sinn des
angefochtenen Entscheides die Rente von Fr. 200.-- weitergewährt werde. Der
Aufwand für den Lebensunterhalt sei im Hinblick auf die Selbstversorgung
mit Nahrungsmitteln, auf den geringen Kleiderverschleiss, die beschränkten
Genussmittelbedürfnisse usw. in klösterlichen Verhältnissen weit geringer
als üblich... Es wird auf die Regelung bei der Beitragsberechnung
verwiesen, wo die Unterkunft und Verpflegung des landwirtschaftlichen
Personals niedriger bewertet würden als bei nichtlandwirtschaftlichen
Arbeitnehmern...

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 43 Abs. 2 AHVG wird die jährliche ausserordentliche
Rente, auf die gemäss Art. 42 Abs. 1 AHVG ein Anspruch besteht, gekürzt,
soweit sie zusammen mit den zwei Dritteln des Jahreseinkommens sowie
des anzurechnenden Teils des Vermögens die anwendbare Einkommensgrenze
- im vorliegenden Fall Fr. 4800.-- - übersteigt. Was zum massgebenden
Jahreseinkommen gehört, bestimmt sich gestützt auf Art. 42 Abs. 2 AHVG
nach Art. 56 ff. AHVV.

    Art. 56 lit. d AHVV nennt als Einkommen im Sinn des Art. 42 Abs. 1 und
3 AHVG "Leistungen aus Verpfründungsvertrag und ähnlichen Vereinbarungen,
die auf einer Übertragung von Vermögenswerten beruhen". Das Bundesamt weist
darauf hin, dass der Orden der Benediktiner-Missionare für die gesamten
Lebenskosten, inklusive Bekleidung und allfällige ärztliche Betreuung,
seiner Mitglieder aufkommt. Der Ordensangehörige sei - als Gegenleistung
für seine während Jahren in den Dienst der klösterlichen Gemeinschaft
gestellte Arbeitskraft -jeglicher materieller Sorge enthoben. Daraus
schliesst das Bundesamt mit Recht und unwidersprochen, dass man es im
vorliegenden Fall mit einer verpfründungsähnlichen Vereinbarung zu tun hat.

Erwägung 2

    2.- Wenn Art. 56 lit. d AHVV Leistungen aus Verpfründungsvertrag und
ähnlichen Vereinbarungen als Einkommen wertet, so steht offensichtlich
nicht der Beschaffungswert der Leistungen aus solchen Verträgen, sondern
allein ihr Nutzungswert zur Diskussion. Nach Art. 521 Abs. 1 OR hat
der Pfrundgeber dem Pfründer "Unterhalt und Pflege auf Lebenszeit" zu
gewähren. Mit welchem geldwerten Aufwand der Pfründer sich diese Leistungen
erstanden hat und mit welchen Gestehungskosten der Verpfründer die fälligen
Leistungen erbringt, ist grundsätzlich belanglos. Von einer ähnlichen
Betrachtungsweise hat sich das Gericht schon in EVGE 1967 S. 54 leiten
lassen, wenn es dort - übrigens auch im Zusammenhang mit Angehörigen einer
Klostergemeinschaft - erklärte, dass der Wert des Unterhalts sich nicht
danach bestimme, was dieser den Schuldner effektiv koste, sondern nach
dem, was er für den Empfänger darstelle. In dieser Sicht war es keineswegs
übersetzt, wenn die Verwaltung den Wert der Unterhaltsleistungen, welche
die Ordensgemeinschaft Pater Alois Ammann gewährt, mit jährlich 4800
Franken bemass.

Erwägung 3

    3.- Ferner ist folgendes zu beachten: Die ausserordentlichen
AHV-Renten gewähren ihren Bezügern - unabhängig vom Versicherungsprinzip -
einen zusätzlichen, vom Bedürfnis abhängig gemachten Mindestschutz im
Sinn einer bescheidenen Einkommens- bzw. Existenzgarantie. Sie sind
also nicht die automatische Folge von Beitragszahlungen. Vielmehr
kommen sie nur zur Ausrichtung, wenn andere Einkommen fehlen oder
ungenügend sind. Konsequenterweise muss daher bei der Ermittlung des
massgebenden Einkommens von jenen Einkünften ausgegangen werden, welche
der Rentenansprecher tatsächlich noch erhält bzw. ihm bis zur gesetzlich
festgelegten Einkommensgrenze noch fehlen. Wird die Einkommensgrenze
des Art. 42 Abs. 1 AHVG nicht erreicht, so ist der Anspruch auf
ausserordentliche Rente begründet. Würde nun bei der Verpfründung und
bei verpfründungsähnlichen Verhältnissen nicht auf den Nutzungswert der
dem Pfründer zu gewährenden Unterhalts- und Pflegeleistungen, sondern auf
deren Beschaffungswert abgestellt, so wäre der Pfründer gegenüber andern
Bezügern ausserordentlicher Renten bevorzugt, wenn die Anschaffungskosten
aus irgendwelchen Gründen niedrig gehalten werden können. Dies verstiesse
nicht nur gegen den Grundsatz rechtsgleicher Behandlung aller Versicherten,
sondern könnte sogar zu offensichtlichem Missbrauch führen. Theoretisch
wäre es denkbar, dass einer Gemeinschaft gar keine Anschaffungskosten
erwachsen, weil ihr die für den Unterhalt notwendigen Güter beispielsweise
geschenkt werden. Es dürfte alsdann nicht unbesehen hingenommen werden,
dass die Gemeinschaft die ihren Angehörigen zu erbringenden Leistungen
willkürlich, also gegebenenfalls möglichst tief bewertet, um anderseits
möglichst hohe Renten zu erlangen. Ein solches Vorgehen verstiesse
gegen die Zweckbestimmung der ausserordentlichen AHV-Renten und würde
zur Gewährung solcher Leistungen in Fällen führen, in denen sie sozial
nicht gerechtfertigt wären.

    Deshalb ist die These, dass beim Verpfründungsvertrag und bei ähnlichen
Verhältnissen für das nach Art. 42 Abs. 1 und 3 AHVG anrechenbare Einkommen
auf die effektiven Gestehungskosten abzustellen sei, unhaltbar. Demzufolge
und weil der Nutzen der Unterhaltsleistungen, welche die Ordensgemeinschaft
Pater Alois Ammann gewährt, mit jährlich 4800 Franken richtig bewertet
ist, muss die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gutgeheissen werden. Rechtlich
besteht keine Möglichkeit, im heute streitigen Fall - entsprechend dem in
der Beschwerdeantwort gestellten Eventualantrag - eine Ausnahme zuzulassen.

Entscheid:

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: Die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen, der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 30. Oktober 1970
aufgehoben und die Kassenverfügung vom 29. Dezember 1969 wieder
hergestellt.