Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 V 108



97 V 108

25. Auszug aus dem Urteil vom 16. Juni 1971 i.S. Ausgleichskasse der
Migros-Betriebe gegen Nöthiger und Obergericht des Kantons Aargau Regeste

    Art. 25 Abs. 1 AHVG und Art. 48 Abs. 2 AHVV.

    Der Anspruch auf Mutterwaisenrente bleibt nach Wiederverheiratung des
Vaters nur erhalten, wenn dieser wegen des Todes der Mutter wirtschaftlich
ausserstande ist, für den Unterhalt seiner Kinder vollumfänglich
aufzukommen.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Grundsätzlich haben nur Kinder Anspruch auf einfache
Waisenrente, deren leiblicher Vater gestorben ist (vgl. Art. 25 Abs. 1,
Satz 1, AHVG). Die gleiche Bestimmung ermächtigt jedoch (in Satz 2)
den Bundesrat, "Vorschriften zu erlassen über die Rentenberechtigung
von Kindern, denen durch den Tod der Mutter erhebliche wirtschaftliche
Nachteile erwachsen". Von der ihm eingeräumten Befugnis hat der Bundesrat
Gebrauch gemacht (Art. 48 Abs. 1 AHVV) und auch den Mutterwaisen einen
Rentenanspruch eingeräumt unter Vorbehalt der Art. 27 (betreffend
aussereheliche Kinder) und Art. 28 AHVG (betreffend Adoptiv-, Findel-
und Pflegekinder). Im Falle der Wiederverheiratung des Vaters fällt der
Waisenrentenanspruch der Kinder gemäss Art. 48 Abs. 2 AHVV grundsätzlich
weg, es sei denn, die Kinder seien wegen des Todes ihrer Mutter auf die
öffentliche oder private Fürsorge oder die Verwandtenunterstützung gemäss
Art. 328 und 329 ZGB angewiesen.

Erwägung 2

    2.- Im vorliegenden Fall ist unbestritten, dass Marlise Nöthiger
eine Mutterwaisenrente zusteht, einerseits für die Zeit vom Tode ihrer
Mutter bis zur Wiederverheiratung des Vaters und anderseits wieder nach
der Auflösung der zweiten Ehe durch Scheidung, vom 1. Juli 1970 an. Zu
beurteilen ist somit einzig, ob die Beschwerdegegnerin auch für die Zeit
vom 1. Oktober 1969 bis 30. Juni 1970, in welcher Zeit sie sich bereits
in der Obhut der Grosseltern befand, eine Mutterwaisenrente beanspruchen
könne, obschon die zweite Ehe ihres Vaters rechtlich noch bestand. Nach den
massgebenden rechtlichen Bestimmungen, wie sie in Erwägung 1 wiedergegeben
sind, ist dies nur dann möglich, wenn das Kind in dieser Zeit wegen des
Todes seiner Mutter objektiv auf die öffentliche oder private Fürsorge
oder die Verwandtenunterstützung angewiesen war (EVGE 1960 S. 99 ff.,
ZAK 1960 S. 388).

    Geht der zweite Absatz des Art. 48 AHVV, der im Falle der
Wiederverheiratung des Vaters gilt, davon aus, die neue Ehefrau werde in
der Regel die Stelle und Aufgabe der verstorbenen Mutter übernehmen, so
bedeutet das zunächst lediglich, dass kein erheblicher wirtschaftlicher
Nachteil der Kinder zu vermuten ist, wie dies im Anwendungsbereich des
ersten Absatzes der Fall ist. Der wirtschaftliche Nachteil wegen des Todes
der Mutter gilt jedoch auch in diesem Falle als erwiesen, wenn die Kinder
öffentlicher oder privater Fürsorge bzw. der Verwandtenunterstützung
anheimfallen. Das trifft nach gesetzeskonformer Auslegung der erwähnten
Verordnungsbestimmung dann zu, wenn der Vater trotz guten Willens
ausserstande ist, für den Unterhalt seiner Kinder vollumfänglich
aufzukommen, und diese daher auf die Hilfe Dritter angewiesen sind.

Erwägung 3

    3.- Im vorliegenden Fall stellt das Bundesamt für Sozialversicherung in
seiner Vernehmlassung zutreffend fest, es sei glaubhaft, dass es dem Vater
nicht mehr möglich gewesen sei, sein Kind nach dem Weggang seiner zweiten
Ehefrau bei sich zu behalten; ein neunjähriges Kind könne tagsüber nicht
allein gelassen werden. Der Vater habe somit sein Kind - jedenfalls unter
der Woche tagsüber - in fremde Obhut geben müssen, wodurch ihm Kosten
erwachsen seien, die er nicht hätte, würde die Mutter des Kindes noch
leben. Ein weiterer Kausalzusammenhang sei somit zu bejahen, und es genüge,
dass das Kind objektiv auf die Hilfe Dritter angewiesen sei. Auch diese
Bedingung sei erfüllt, nachdem der Vater seit der Trennung von seiner
zweiten Ehefrau gezwungen sei, sein Kind in Fremdbetreuung zu geben.
Diesen Ausführungen ist beizupflichten.

    Abzuklären bleibt in solcher Lage bloss, ob es die wirtschaftlichen
Verhältnisse dem Vater erlaubt hätten, für die Kosten dieser objektiv
gebotenen Fremdbetreuung aufzukommen, oder ob er hiefür auf die (dem Kind
in natura zugewandte) Unterstützung der Verwandten angewiesen gewesen
sei. Diese Abklärung ist der Ausgleichskasse zu überlassen. Erweist sich,
dass der Vater das ihm nach seinen Verhältnissen Zumutbare an den Unterhalt
seiner Tochter geleistet hat, so ist die Mutterwaisenrente ab 1. Oktober
1969 auszurichten, andernfalls - wenn der Vater bei gutem Willen für
den Unterhalt seiner Tochter während der Fremdbetreuung hätte aufkommen
können - bleibt es bei der Rentengewährung ab 1. Juli 1970. Die Kasse wird
somit in Bestätigung des vorinstanzlichen Entscheides die entsprechenden
Abklärungen vornehmen und hernach neu verfügen.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    I.  Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

    II.  Die Akten werden zur ergänzenden Abklärung und zum Erlass einer
neuen Verfügung im Sinne der Erwägungen und des angefochtenen Entscheides
an die Ausgleichskasse zurückgewiesen.