Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 V 103



97 V 103

24. Auszug aus dem Urteil vom 6. April 1971 i.S. Eidgenössische
Militärversicherung gegen H. und Versicherungsgericht des Kantons Zürich
Regeste

    Art. 40bis MVG: Genugtuung, Bemessung.

    Den Eltern des Getöteten ist grundsätzlich nicht gemeinsam eine
Genugtuungssumme zuzusprechen, sondern einzeln die angemessene Leistung.
Unterschiedliche Summen sind nur dann zuzusprechen, wenn der Verstorbene
zu Vater und Mutter eindeutig verschieden intensive Beziehungen gehabt
hätte. 10 000 Franken an jeden Elternteil eines in der Rekrutenschule
ohne jedes Selbstverschulden tödlich Verunfallten als angemessen erachtet.

Sachverhalt

                      Aus dem Tatbestand:

    Der 1949 geborene Sohn der Beschwerdegegner, M. H.,
wurde in der Rekrutenschule am 23. April 1969 das Opfer eines
Verkehrsunfalles. Motorfahrer U. G. steuerte einen Landrover, in
welchem vorne ein Unteroffizier als Beifahrer und hinten M. H. sowie
ein weiterer Übermittlungssoldat sassen. Das Gefährt rollte auf
einem Feldweg parallel zum Geleise der Rhätischen Bahn gegen die
Kantonsstrasse Bonaduz-Versam. Nach Einmündung in diese Strasse musste
Motf U. G. den unbewachten, jedoch mit Andreaskreuz, Blinklicht und
Glockensignal versehenen Bahnübergang überqueren, um nach Bonaduz zu
gelangen. Obwohl Rotlicht und Glocke das Herannahen eines Zuges anzeigten,
fuhr U. G. ohne Sicherheitshalt gegen den Niveauübergang. Das Fahrzeug
wurde von dem aus Reichenau kommenden Schnellzug erfasst. M. H. erlitt
schwere Kopfverletzungen und starb sofort. Der Motorfahrer und die beiden
anderen Wehrmänner zogen sich ebenfalls zum Teil schwere Verletzungen zu.

    M. H. war der älteste Sohn der Familie H.; er hatte einen Bruder und
eine Schwester. Nach Beendigung der Primar- und Realschule in Zürich war
er 1965 in eine Lehre als Elektromonteur eingetreten, die vertraglich bis
am 25. April 1969 hätte dauern sollen. Wenige Tage vor seinem tödlichen
Unfall hatte er die Lehrabschlussprüfung bestanden. Er hatte beabsichtigt,
sich im Zeichenbüro der Lehrfirma zu spezialisieren und sich später am
Technikum weiter ausbilden zu lassen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Gemäss Art. 40bis Abs. 1 MVG, in Kraft seit dem 1. Januar 1964,
kann die Militärversicherung bei Körperverletzung oder im Todesfall
"unter Würdigung der besonderen Umstände dem Verletzten oder den
Angehörigen des Getöteten eine angemessene Geldsumme als Genugtuung
zusprechen". Gemäss dem Bericht der Expertenkommission für die Revision
des Militärversicherungsgesetzes vom Dezember 1961 (S. 28 und 30) und der
bundesrätlichen Botschaft betreffend Änderung des MVG vom 26. März 1963
(8bl. 1963 I S. 865/866) soll die Genugtuung im Militärversicherungsrecht
zusätzlich zu den bisherigen Leistungen eine einmalige Entschädigung
unter Berücksichtigung der besonderen Umstände in Anlehnung an die
Praxis der Zivilgerichte sein. Wie gemäss Art. 47 OR ist die Leistung
einer Geldsumme als Genugtuung auch im Militärversicherungsrecht nicht
an Widerrechtlichkeit und Verschulden geknüpft. Die Verumständungen des
kausalen Geschehens sowie die persönlichen Verhältnisse der Ansprecher
spielen für die Beurteilung des Genugtuungsbedürfnisses eine massgebende
Rolle. Das Gericht verweist im übrigen auf das Urteil vom 30. Juni 1966
i.S. Perego (EVGE 1966 S. 74 ff.).

    Im vorliegenden Fall ist die Zusprechung einer Genugtuungssumme an
die Eltern des tödlich Verunfallten zweifellos gerechtfertigt und auch
unbestritten. Zu befinden ist dagegen über die Höhe dieser Genugtuung.

Erwägung 3

    3.- "Die besonderen Umstände" entscheiden nicht bloss über die
grundsätzliche Frage, ob eine Genugtuung zu leisten sei, sondern sie sind
auch für die Bemessung der Genugtuungssumme zu würdigen (vgl. Art. 40bis
Abs. 1 MVG). So ist zunächst auszugehen von der besonderen Schwere und
Härte der seelischen Unbill, welche die Leistungsansprecher erlitten
haben. Wird ein Mensch durch plötzlichen Tod einer harmonischen Familie
entrissen, so liegt darin eine besondere Härte. Das Leid und der seelische
Schmerz dieser Angehörigen über den Verlust des Getöteten auf Grund ihrer
Beziehungen zu ihm sind in diesem Zusammenhang entscheidende Gesichtspunkte
für die Bemessung. Denn die Höhe der Genugtuung hängt wesentlich vom
Genugtuungsbedürfnis jedes einzelnen Ansprechers ab. Daraus erhellt, dass
Tatbestände, welche Genugtuungsansprüche begründen, einer Generalisierung
kaum zugänglich sind, weshalb auf diesem Gebiet Präjudizien sorgfältig zu
vergleichen sind. Gerade weil kaum ein Sachverhalt dem anderen gleicht,
verlangt das Gesetz die Würdigung der besonderen Umstände. Diese sind in
jedem Einzelfall anders.

    Hängt die Höhe der zuzusprechenden Summe vom Genugtuungsbedürfnis
jedes einzelnen Ansprechers nach Massgabe der persönlich erlittenen Unbill
ab, so ist Ehegatten, die - wie im gegenwärtigen Fall - als Eltern des
Getöteten Leistungsansprecher sind, nicht gemeinsam eine Genugtuungssumme
zuzusprechen, sondern grundsätzlich eine individuell bemessene Leistung an
jeden Elternteil (vgl. BGE 90 II 83). Hinsichtlich der Bemessung ist die
unterschiedliche Behandlung der Ehegatten nur dann gerechtfertigt, wenn der
Verstorbene eindeutig verschieden intensive Beziehungen zum Vater und zur
Mutter gehabt hat; dieser Umstand muss im Prozess nachgewiesen sein oder
sich aus äussern Umständen, die ihrerseits zu beweisen sind, aufdrängen. Im
allgemeinen, zumal in geordneten und harmonischen Familienverhältnissen,
ist anzunehmen, der Verlust eines Kindes werde von beiden Elternteilen
gleich schmerzlich empfunden, wenn auch in der Reaktion von Vater und
Mutter Unterschiede bemerkbar sein mögen.

    Ferner kann erhebliches Verschulden des Schädigers zu einer Erhöhung,
ein Selbstverschulden des Getöteten zur Herabsetzung oder gar zum Wegfall
der Genugtuung führen.

Erwägung 4

    4.- In Würdigung der besonderen Umstände des vorliegenden Falles darf
ohne Bedenken davon ausgegangen werden, dass die Beziehungen zwischen dem
tödlich Verunfallten und seinen Eltern ausgezeichnet waren. Es bestand
ein harmonisches Familienleben, in welches der jähe Tod des ältesten
Sohnes eine schmerzliche Lücke gerissen hat. Die Freude und der Stolz
der Eltern an ihrem ältesten Sohn wurden brutal zerstört; das älteste
Kind wird allen Angehörigen für immer fehlen. Der Sohn M. war wenige Tage
vor seinem Einrücken in die Rekrutenschule volljährig geworden. Kurz vor
dem Unfalltag hatte er seine Berufslehre abgeschlossen; die Mitteilung
vom Prüfungserfolg ging den Eltern zwei Tage nach dem tragischen Tode
ihres Sohnes zu. Die Eltern hatten für ihn namhafte Anstrengungen in
erzieherischer und beruflicher Hinsicht unternommen, Mühen und Sorgen
getragen, Opfer gebracht und Geld aufgewendet. Alles erwies sich nun
plötzlich als vertan. Es darf weiter angenommen werden, das gemeinsame
Familienleben wäre noch von Dauer gewesen, selbst wenn sich der Sohn
nach erfolgter Weiterausbildung, die immerhin noch Jahre gedauert hätte,
schliesslich verehelicht hätte. Ausserdem war M. H. intelligent, strebsam
und von angenehmer Erscheinung. Nach dem üblichen Lauf der Dinge hätte er
sich voraussichtlich im privaten und beruflichen Lebensbereich erfolgreich
behauptet.

    Nach den dargelegten Grundsätzen ist bei den geordneten
Familienverhältnissen dieses Falles in der Bemessung der Genugtuungssumme
Gleichbehandlung der beiden Elternteile gerechtfertigt. Die
Beschwerdegegner haben vor erster Instanz für die Mutter eine höhere Summe
als für den Vater verlangt. Die dafür vorgebrachte Begründung ist jedoch
nicht überzeugend. Wie bereits dargetan, rechtfertigt die unterschiedliche
Reaktion eine Abstufung der Genugtuung nicht; denn der plötzliche Tod
seines Sohnes dürfte den gesundheitlich widerstandsfähigeren Vater seelisch
gleich tief getroffen haben wie die gesundheitlich schwächere Mutter.

    Was den Unfallhergang selbst betrifft, so fällt das erhebliche
Verschulden des Schädigers - im Sinne der Fahrlässigkeit - ins Gewicht,
während jegliches Selbstverschulden des Getöteten fehlt. Nach den
Ergebnissen der militärischen Strafuntersuchung ist auf der Seite des
Militärs lediglich dem Führer des Unglücksfahrzeuges, Motf U. G.,
ein strafrechtlich erhebliches Verschulden zur Last zu legen. Das
Divisionsgericht 5 führt in seinem Urteil vom 26. November 1969 zum
Verschulden des U. G. unter anderem aus:

    "Indem der Angeklagte aber bis zum letzten Augenblick die Bahn-
und Warnanlage nicht erkannte, war er in grober Weise unaufmerksam. Den
Angeklagten mag dabei nicht zu entlasten, dass er bei einem frühzeitigeren
Pfeifsignal des Lokomotivführers vielleicht noch rechtzeitig hätte anhalten
können. Hingegen wird dem Angeklagten nicht zum Vorwurf gemacht, er habe
im letzten Moment falsch reagiert.

    Da bei der Fahrweise des Angeklagten die wichtigste Grundvoraussetzung
für das Beherrschen des Fahrzeuges, nämlich die Aufmerksamkeit, im
entscheidenden Momente, d.h. beim Einbiegen in die Hauptstrasse, fehlte,
konnte er der ihm bei eingeschalteter Warnanlage obliegenden Anhaltepflicht
vor dem unbewachten Bahnübergang in Bonaduz nicht genügen. Der Angeklagte
hat somit die an sich voraussehbaren und prinzipiell auch vermeidbaren
tatbestandsmässigen Erfolge in pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht
vorausgesehen, weshalb er fahrlässig im Sinne von Art. 15 Abs. 3 MStG
gehandelt hat."

    Diesem Schuldvorwurf ist auch im Hinblick auf die Bemessung der
Genugtuungssumme im wesentlichen beizupflichten, obschon er eher
wohlwollend ausgefallen ist. Wie festgestellt, trifft den Getöteten
keinerlei Selbstverschulden; er hat die Fahrt in Ausübung eines
militärischen Befehls und zusammen mit der Dienstgruppe, zu welcher er
befohlen war, angetreten.

    Nach diesen Erwägungen ist dem vorinstanzlichen Entscheid
zuzustimmen; mithin erweist sich die Beschwerde der Militärversicherung
als unbegründet. Eine Genugtuung von 10 000 Franken für jeden
Elternteil erscheint unter den besonderen Umständen jedenfalls nicht
unangemessen. Dagegen wäre die gemäss der angefochtenen Verfügung
der Militärversicherung festgesetzte Summe von 5000 Franken für
jeden Elternteil der Tragik des Falles nicht gerecht geworden; daher
ist in Bestätigung des kantonalen Entscheides jedem Elternteil eine
Genugtuungssumme von 10 000 Franken zuzusprechen.