Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 I 97



97 I 97

17. Auszug aus dem Urteil vom 29. März 1971 i.S. X. gegen Y. und
Rekursrichter für Schuldbetreibung und Konkurs des Kantonsgerichts
St. Gallen Regeste

    Art. 4 BV, Fristenlauf.

    Berechnung der Berufungsfrist nach Art. 185 SchKG, wenn der anfechtbare
Entscheid dem Inhaber eines Postfachs zugestellt und die Eingangsanzeige an
einem Samstag in das Postfach gelegt wird (Bestätigung der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    X., der von Y. gemäss Art. 177 ff. SchKG für eine Wechselsumme
von Fr. 48'860.-- nebst Zins betrieben worden war, erhob gegen den
Zahlungsbefehl Rechtsvorschlag mit der Begründung, die Schuld sei
getilgt. Das Bezirksgerichtspräsidium See, Rapperswil SG, lehnte die
Bewilligung des Rechtsvorschlags mit Entscheid vom 5. November 1970
ab. Dieses Urteil wurde am Freitag, den 13. November 1970, 12.00 Uhr,
in Eschenbach der Post übergeben. Da X. in Rapperswil über ein Postfach
verfügt, wurde ihm die Sendung am Samstag, den 14. November 1970, 08.00
Uhr, mit einer Abholungseinladung im Fach angezeigt. X. holte sie sie
indessen erst am Dienstag, den 17. November 1970 ab.

    Mit Eingabe vom 23. November 1970 erhob X. gestützt auf Art. 185
SchKG Berufung beim Rekursrichter des Kantonsgerichts St. Gallen. Dieser
trat indessen am 17. Dezember 1970 auf das Rechtsmittel nicht ein mit der
Begründung, die Berufung sei verspätet, zumal der angefochtene Entscheid
dem Schuldner am 14. November 1970 gültig zugestellt worden sei.

    X. führt staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV
mit dem Antrag, der Entscheid des Rekursrichters vom 17. Dezember 1970
sei aufzuheben.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

    Gegen den Entscheid über die Bewilligung des Rechtsvorschlags in
der Wechselbetreibung kann innerhalb fünf Tagen nach dessen Mitteilung
bei der oberen kantonalen Gerichtsinstanz Berufung eingelegt werden
(Art. 185 SchKG). Unter der Mitteilung bzw. Zustellung im Sinne dieser
Bestimmung ist grundsätzlich die tatsächliche Aushändigung der den
Entscheid enthaltenden Sendung an den Adressaten oder an eine andere zur
Entgegennahme berechtigte Person zu verstehen (vgl. BGE 83 III 95). Ist
bei der Zustellung von eingeschriebenen Sendungen kein Bezugsberechtigter
anzutreffen, so wird der Zustellversuch auf der Sendung vermerkt und
eine Abholungseinladung mit Fristangabe hinterlassen (Art. 157 der
Vollziehungsverordnung I zum Postverkehrsgesetz (PVG) vom 1. September
1957, AS 1957, S. 1457). Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts
gilt eine eingeschriebene Sendung in diesem Fall grundsätzlich erst dann
als zugestellt, wenn sie innert Frist tatsächlich abgeholt wird (BGE 83
III 96 mit Verweisungen). Verfügt der Adressat jedoch über ein Postfach,
so gilt sie an dem Tag als zugestellt, an dem die Eingangsanzeige
ins Fach gelegt wird, vorausgesetzt, dass dies vor Schalterschluss
geschieht und die Sendung noch am gleichen Tag abgeholt werden könnte
(BGE 92 I 19 mit Hinweisen auf frühere Urteile). Massgeblich sind in
diesem Zusammenhang die ordentlichen Öffnungszeiten, die zur Bedienung
geschäftlicher Unternehmungen vorgesehen sind; ausserordentliche
Öffnungszeiten, durch welche nachts oder an Feiertagen die Abholung
dringlicher Sendungen ermöglicht wird, fallen ausser Betracht (BGE 92
I 19). Die allgemeine Öffnung der Postschalter am Samstagvormittag gilt
als ordentliche Öffnungszeit (BGE 92 I 20 oben).

    Im vorliegenden Fall ist die fragliche Sendung dem Beschwerdeführer
am 14. November 1970 um 08.00 Uhr im Postfach angezeigt worden. Sie hätte
während der ordentlichen Schalteröffnungszeit (07.30 - 11.00 Uhr) abgeholt
werden können und hat somit nach der bisherigen Rechtsprechung als am
14. November 1970 gültig zugestellt zu gelten, zumal der Beschwerdeführer
vor Bundesgericht nicht behauptet, die Fachzustellung sei als solche
unzulässig gewesen.

    Der Beschwerdeführer anerkennt, dass der angefochtene Entscheid der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung entspricht. Er macht jedoch geltend,
diese Praxis sei ungerecht, da die meisten Postfächer mit Rücksicht auf
die Fünftagewoche an Samstagen nicht mehr geleert würden. Er regt an,
die Rechtsprechung dahin zu ändern, dass eine Eingangsanzeige, die dem
Postkunden am Samstag ins Fach gelegt werde, keine gültige Zustellung
darstelle und dass sie demzufolge für einen allfälligen Fristenlauf
unbeachtlich sei.

    Das Bundesgericht hat sich bereits im Falle BGE 92 I 20/21 eingehend
mit ähnlichen Einwendungen auseinandergesetzt und im wesentlichen
folgendes ausgeführt: Richtig sei, dass eingeschriebene Sendungen einer
Unternehmung, deren Betrieb am Samstag geschlossen sei und die über kein
Postfach verfüge, erst am Montag zugestellt werden könnten. Daraus ergebe
sich zwar in bezug auf einen allfälligen Fristenlauf eine Besserstellung
gegenüber dem Postfachinhaber. Die Behebung dieser Ungleichheit obliege
indessen dem Gesetzgeber, der zu diesem Zweck eine Ordnung aufstellen
müsste, wonach der Samstag nicht nur hinsichtlich des Ablaufs, sondern
auch in bezug auf den Beginn einer Frist wie ein Feiertag zu behandeln wäre
(vgl. das BG über den Fristenlauf an Samstagen, AS 1963, S. 819).

    An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten. Der Postfachinhaber geniesst
gegenüber dem gewöhnlichen Postkunden gewisse Vorteile: die Zustellung
erfolgt rasch, da keine Botengänge notwendig sind; weiter wird dem Kunden
ermöglicht, mehrmals täglich (auch ausserhalb der Schalteröffnungszeiten)
Sendungen in Empfang zu nehmen. Mit der Miete eines Postfachs gibt er
jedoch seine Absicht bekannt, die für ihn bestimmten Sendungen zu dem
ihm genehmen Zeitpunkt abholen zu wollen. Wer über ein Postfach verfügt,
anerkennt somit, dass ihm die für die Fachbedienung bestimmten Sendungen
grundsätzlich jederzeit gültig durch Einlage ins Postfach zugestellt
werden können; die Einlage tritt daher gleichsam an Stelle der Zustellung
durch tatsächliche Aushändigung bzw. Einwurf in den Briefkasten. Wie aus
der soeben dargestellten Rechtsprechung hervorgeht, rechtfertigt es sich
zwar, diesen Grundsatz abzuschwächen, wenn die Zustellung eingeschriebener
Sendungen in Frage steht. Die vom Bundesgericht aufgestellten Bedingungen
bieten jedoch hinreichende Gewähr dafür, dass die legitimen Interessen
des Postfachinhabers auch in diesem Fall gewahrt bleiben. Dies gilt
auch für Fachzustellungen, die am Samstag erfolgen. Das Bundesgericht
anerkennt, dass sich daraus für Geschäftsinhaber bzw. Unternehmungen mit
Fünftagewoche gewisse Unannehmlichkeiten ergeben können. Wie bereits
in BGE 92 I 21 ausgeführt wurde, können diese indessen nicht auf dem
Wege der Rechtsprechung, sondern allein vom Gesetzgeber behoben werden,
sofern dieser zur Überzeugung gelangen sollte, die gegenwärtige Ordnung
sei nicht mehr zeitgemäss.

    Im vorliegenden Fall besteht für ein Abgehen von der bisherigen
Rechtsprechung übrigens umso weniger Anlass, als der Beschwerdeführer
nicht behauptet, die am Samstag erfolgte Zustellung des anfechtbaren
Entscheids habe es ihm verunmöglicht, rechtzeitig die Berufung zu erklären.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird abgewiesen