Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 I 778



97 I 778

113. Auszug aus dem Urteil vom 15. September 1971 i.S. X. und
Mitbeteiligte gegen Bern, Kanton und Verwaltungsgericht. Regeste

    Art. 4 BV; bernische Vermögenssteuer, amtlicher Wert

    Der amtliche Wert von baurechtsbelasteten Grundstücken darf ohne
Verletzung von Art. 4 BV aufgrund des kapitalisierten Ertragswerts
ermittelt werden. Die gegenwärtig gültige bernische Ordnung ist nicht
verfassungswidrig.

Sachverhalt

    A.- Art. 227 des bernischen Gesetzes über die direkten Staats- und
Gemeindesteuern (StG; Fassung vom 28. Juni 1964) lautet wie folgt:

    "Auf den 1. Januar 1967 ist eine Hauptrevision der amtlichen Werte
der Grundstücke und Wasserkräfte durchzuführen. Der Grosse Rat erlässt das
erforderliche Dekret und setzt insbesondere das Ausmass der Neubewertung
fest."

    Das erwähnte Dekret "betreffend die Hauptrevision der amtlichen Werte
der Grundstücke und Wasserkräfte" (HRD) wurde vom Grossen Rat bereits am
5. Mai 1964 erlassen. Es sieht in § 25 Abs. 1 und 2 folgendes vor:

    "Für Grundstücke, die mit einem Baurecht belastet sind, richtet sich
der amtliche Wert nach dem Ertragswert.

    Der Ertragswert berechnet sich in der Regel nach dem vereinbarten
Baurechtszins, kapitalisiert zu 4 Prozent."

    B.- In Anwendung von § 25 HRD setzte die Gemeindeschatzungskommission
Bern den amtlichen Wert eines in der Stadt Bern gelegenen Grundstücks auf
Fr. 7'625,000.-- fest. Die Parzelle steht im Miteigentum der Erben X. und
ist mit einem auf 45 Jahre begründeten, d.h. im Jahre 2010 ablaufenden
selbständigen und dauernden Baurecht belastet. Der jährliche Baurechtszins
beträgt Fr. 305'000.--.

    Nachdem die Grundeigentümer gegen die Festsetzung des amtlichen Werts
erfolglos Einsprache erhoben hatten, gelangten sie am 25. April 1969 an
die kantonale Rekurskommission mit dem Begehren, den amtlichen Wert ihres
Grundstücks angemessen herabzusetzen. Die Kommission wies indessen den
Rekurs am 11. September 1970 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des
Verwaltungsgerichts ab.

    C.- Gegen diesen Entscheid erhoben die Erben X.  Beschwerde beim
Verwaltungsgericht. Sie machten geltend, der Zinssatz von 4% widerspreche
krass den heutigen Verhältnissen auf dem Kapitalmarkt und führe im
vorliegenden Fall zu einem Ertragswert, der zum Verkehrswert in keinem
vernünftigen Verhältnis stehe.

    Mit Urteil vom 22. Februar 1971 wies das Verwaltungsgericht die
Beschwerde ab. Zur Begründung führte es im wesentlichen folgendes
aus: Wie in einem grundlegenden Entscheid vom 11. August 1969 erkannt
worden sei, hielten die in § 25 HRD aufgestellten Bewertungsnormen
für baurechtsbelastete Grundstücke vor dem Steuergesetz ohne weiteres
stand. Die aufgrund der Hauptrevision festgesetzten Steuerwerte hätten
unverändert auf Jahre hinaus zu gelten. Der vom Grossen Rat beschlossene
Zinssatz von 4% sei angemessen und gestatte in aller Regel eine sachgemässe
Anpassung der amtlichen Werte an die steigenden Bodenpreise, was eine
annähernd richtige Bewertung auf längere Sicht gewährleiste und damit auch
dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Bewertungsgrundsätze entspreche. Im
vorliegenden Fall bestehe kein Anlass, von der Bewertungsregel des §
25 HRD abzuweichen, denn der ermittelte Ertragswert übersteige den
aufgrund der Richtpreise geschätzten Verkehrswert bloss um rund 28%;
diese Differenz liege im Rahmen des Vertretbaren, weshalb der Verzicht
der Rekurskommission auf eine - an sich mögliche - "Normalisierung"
des Baurechtszinses nicht zu beanstanden sei.

    D.- Die Erben X. führen staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung
von Art. 4 BV. Sie stellen folgenden Antrag:

    "Das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom
22. Februar 1971 sei aufzuheben. und die Sache sei zur neuen Beurteilung
an die Vorinstanz zurückzuweisen mit der Weisung. den Wert der Parzelle
der Beschwerdeführer nicht nach § 25 des Dekrets über die Hauptrevision
der amtlichen Werte der Grundstücke und Wasserkräfte sondern gemäss dem
Bodenverkehrswert festzusetzen."

    Die Beschwerdebegründung ergibt sich, soweit wesentlich, aus den
nachfolgenden Erwägungen.

    E.- Das Verwaltungsgericht und die kantonale Steuerverwaltung
beantragen die Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- (Formelles).

Erwägung 2

    2.- Die Beschwerdeführer machen geltend, es gehe nicht an,
den amtlichen Wert einer baurechtsbelasteten Parzelle aufgrund des
realisierten Ertrags festzusetzen, denn dieses Vorgehen führe zu einer
rechtsungleichen Behandlung gegenüber dem Eigentümer eines unbelasteten
Grundstücks. Verfassungswidrig sei auch der im Dekret vorgesehene
Kapitalisierungssatz von 4%, denn er werde den heutigen Verhältnissen
auf dem Kapitalmarkt offensichtlich nicht mehr gerecht. Damit
erheben die Beschwerdeführer Verfassungsrügen, die sich gegen die
in § 25 HRD enthaltene Ordnung richten. Das ist zulässig, denn die
Verfassungswidrigkeit einer kantonalen Vorschrift kann auch vorfrageweise
im Zusammenhang mit der Anfechtung eines Anwendungsaktes gerügt werden
(BGE 97 I 29 Erw. 2 mit Verweisungen).

    a) Gemäss Art. 54 Abs. 1 StG ist der amtliche Wert der Grundstücke
"unter Berücksichtigung des Verkehrs- und des Ertragswerts"
festzusetzen. Bei der Bewertung von Baurechtsparzellen ist jedoch zu
berücksichtigen, dass diese während der Dauer des Baurechts keinen
Verkehrswert aufweisen, der mit jenem eines unbelasteten Grundstücks
verglichen werden könnte. Freilich besteht ein Restwert (Wert der nuda
proprietas), welcher zur Zeit des Vertragsabschlusses unbedeutend ist,
gegen den zeitlichen Ablauf des Baurechts hin ansteigt und je nach der
Ausgestaltung des Baurechtsvertrags den vollen Verkehrswert der Parzelle
erreichen kann (vgl. dazu REIMANN/ZUPPINGER/SCHÄRRER, Kommentar zum
zürcherischen Steuergesetz, Bd. 3, N. 45 zu § 34 StG; HANS MICHAEL
RIEMER, Das Baurecht (Baurechtsdienstbarkeit) des Zivilgesetzbuches
und seine Behandlung im Steuerrecht, Diss. Zürich 1968, S. 240/1). Es
leuchtet deshalb ohne weiteres ein, dass der erwähnte Restwert zumindest
zu Beginn der Vertragsdauer nicht geeignet ist, Anhaltspunkt für die
Bestimmung des tatsächlichen Wertes eines baurechtsbelasteten Grundstücks
zu bilden. Mit Rücksicht darauf ist es vielmehr durchaus vernünftig,
den amtlichen Wert einer solchen Parzelle aufgrund des Ertragswerts,
d.h. aufgrund des Barwerts der Grundrente zu ermitteln (W. NAEGELI,
Die Wertberechnung des Baulandes, 2. Aufl. 1965, S. 110). Auf den
Ertragswert abzustellen, rechtfertigt sich auch im Hinblick darauf,
dass der Wert eines baurechtsbelasteten Grundstückes in geringerem
Masse konjunkturellen Schwankungen unterworfen ist als derjenige eines
unbelasteten Grundstücks. Die in § 25 HRD enthaltene Ordnung schliesst im
übrigen eine Berücksichtigung des Verkehrswerts nicht zu vorneherein aus,
kann doch der Baurechtszins bei der Ermittlung des Vermögenssteuerwerts
"normalisiert", d.h. angemessen herabgesetzt werden, wenn sich ein
Ertragswert ergibt, der zum Verkehrswert eines vergleichbaren unbelasteten
Grundstücks in einem offenbaren Missverhältnis steht (vgl. Bewertungsnormen
der kantonalen Schatzungskommission, zitiert bei RIEMER, aaO, S. 238/9).
Damit ist ohne weiteres Gewähr dafür geboten, dass den Besonderheiten
des Einzelfalles genügend Rechnung getragen werden kann. Die Kritik der
Beschwerdeführer an der in § 25 HRD vorgesehenen Ermittlung des amtlichen
Werts aufgrund des Ertragswerts geht daher fehl.

    b) Auch der angefochtene Kapitalisierungssatz von 4% lässt sich
sachlich begründen. Als massgeblicher Zeitpunkt für die Bewertung gilt
der 1. Januar 1967 (Art. 227 Abs. 1 StG). Das Bewertungsdekret (HRD) wurde
jedoch bereits im Jahre 1964 erlassen. Damals lag der Hypothekarzinsfuss im
Kanton Bern bei 4% (Statistisches Jahrbuch der Schweiz 1971, S. 276). Dass
der Grosse Rat diesen Satz als Kapitalisierungszinsfuss wählte, bedeutet
jedoch nicht, dass dieser notwendigerweise dem Zinsfuss für 1. Hypotheken
entsprechen muss. Die Frage des angemessenen Kapitalisierungssatzes
wurde im Grossen Rat eingehend erörtert. Aus den Verhandlungen (teilweise
wiedergegeben bei RIEMER, aaO, S. 237/8) geht hervor, dass der Rat eine
generelle Gleichstellung mit dem Zinsfuss für 1. Hypotheken ablehnte
und dem Umstand Rechnung tragen wollte, dass der Baurechtsgeber, der
einen Nettoertrag erzielt, weniger hohe Lasten zu tragen hat als der
Eigentümer eines unbelasteten bebauten Grundstücks. Diese Überlegungen
des Gesetzgebers erscheinen ohne weiteres haltbar und geben zumindest
unter dem Gesichtswinkel des Art. 4 BV keinen Anlass zu Kritik. Bei
Erlass des HRD entsprach der beschlossene Zinssatz von 4% durchaus
den tatsächlichen Verhältnissen, was auch im Schrifttum anerkannt wird
(vgl. W. NAEGELI, aaO, S. 110). Dass der Hypothekarzinsfuss in dem für die
Bewertung massgeblichen Zeitpunkt (1. Januar 1967) bei 4 1/4% lag, lässt
den in § 25 HRD vorgesehenen Satz von 4% jedenfalls nicht als schlechthin
unhaltbar erscheinen. Eine allzugrosse Differenz zwischen Kapitalisierungs-
und Hypothekarzinsfuss wäre freilich mit Art. 4 BV nicht vereinbar. Eine
Abweichung von 1/4%, wie sie im massgeblichen Zeitpunkt bestand, liegt
jedoch durchaus im Rahmen des sachlich Vertretbaren und ist daher nicht zu
beanstanden. Die seit 1967 erfolgte Erhöhung der Hypothekarzinssätze ist
für die Beurteilung der angefochtenen Regelung belanglos, denn massgeblich
für die Bewertung waren die tatsächlichen Verhältnisse am 1. Januar
1967 (Art. 227 StG). Dies ergibt sich ohne weiteres aus dem System der
bernischen Vermögenssteuer, wonach der Steuerwert der Grundstücke während
längerer Zeit, d.h. während ungefähr 10 Jahren unverändert bleibt. Dass
dieses System, für welches im übrigen beachtliche Gründe angeführt werden
können, gegen die Verfassung verstosse, behaupten die Beschwerdeführer
selbst nicht, weshalb sich weitere Ausführungen dazu erübrigen.

    c) Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass die in § 25 HRD
enthaltene Ordnung weder sinn- und zwecklos ist, noch rechtliche
Unterscheidungen trifft, für die ein vernünftiger Grund in den
tatsächlichen Verhältnissen nicht ersichtlich ist. Sie verstösst demnach
nicht gegen Art. 4 BV (BGE 96 I 456 Erw. 1, 143 mit Hinweisen auf frühere
Urteile).

Erwägung 3

    3.- Zu prüfen bleibt, ob die Bewertung des fraglichen Grundstücks
vor der Verfassung standhält.

    Die Beschwerdeführer machen geltend, die Bewertung gemäss § 25 HRD
führe im vorliegenden Fall zu einem Ertragswert bzw. amtlichen Wert,
der den von den Schätzern ermittelten Verkehrswert um rund 28% übersteige
und daher vor Art. 4 BV nicht haltbar sei. Das Verwaltungsgericht hat in
diesem Zusammenhang erwogen, die erwähnte Differenz halte sich im Rahmen
des Vertretbaren und erfordere nach den Bewertungsnormen der kantonalen
Schatzungskommission (vgl. RIEMER, aaO, S. 238) keine "Normalisierung"
des vereinbarten Baurechtszinses von Fr. 305'000.--.

    Im Schätzungsprotokoll vom 3. Juli 1967 ist in der Tat ein
"massgebender Verkehrswert" von Fr. 15'000.--/m2 aufgeführt. Der
auf den Quadratmeter umgerechnete Ertragswert beträgt demgegenüber
Fr. 19'350.--. Wie der erwähnte "Verkehrswert" im Einzelnen ermittelt
wurde, geht aus den Akten nicht hervor; im Entscheid der kantonalen
Rekurskommission vom 11. September 1970 wird lediglich ausgeführt,
massgebend seien dabei "Richtpreise im betreffenden Gebiet" gewesen. Da
Baurechtsparzellen keinen eigentlichen "Verkehrswert" aufweisen (vgl. oben
Erw. 2 a), handelt es sich beim "Verkehrswert" gemäss Schätzungsprotokoll
bloss um eine weitgehend hypothetische Grösse, bei deren Festsetzung den
Schätzern ein weiter Ermessensspielraum offen steht. Das gilt insbesondere
auch für das Grundstück der Beschwerdeführer, das verkehrsmässig
ausserordentlich günstig gelegen ist. Die umstrittene Differenz von 28%
zwischen Ertragswert und "Verkehrswert" der Parzelle darf somit in ihrer
Aussagekraft nicht überbewertet werden. In diesem Zusammenhang ist ferner
zu berücksichtigen, dass das bernische Vermögenssteuerrecht den Restwert
der Baurechtsparzellen (vgl. oben Erw. 2 a) nicht erfasst und damit eine
für den Baurechtsgeber verhältnismässig günstige Ordnung darstellt. Es
erscheint daher sachlich gerechtfertigt, bei der "Normalisierung" von
Baurechtszinsen Zurückhaltung zu üben und von den Bewertungsregeln des §
25 HRD nur in jenen Fällen abzugehen, in denen ein krasses Missverhältnis
zwischen Ertragswert und "Verkehrswert" besteht. Wie das Verwaltungsgericht
mit Recht ausführt, durften die Steuerbehörden im vorliegenden Fall ohne
Willkür davon absehen, den vereinbarten Baurechtszins von Fr. 305'000.--
zu "normalisieren", denn auch in ihrer staatsrechtlichen Beschwerde
sind die Beschwerdeführer den Nachweis dafür schuldig geblieben, dass der
angefochtene amtliche Wert zu den tatsächlichen Verhältnissen im Jahre 1967
in einem derart krassen Gegensatz stand, dass sich selbst bei der gebotenen
Zurückhaltung ein Abgehen von den gesetzlichen Bewertungsgrundsätzen
aufgedrängt hätte.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird abgewiesen.