Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 I 725



97 I 725

105. Auszug aus dem Urteil vom 17. September 1971 i.S. Stampfli gegen
Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement. Regeste

    Entzug des Führerausweises; Rückfall; Art. 17 Abs. 1 lit. c und d SVG.

    Bei der Berechnung der Rückfallsfrist ist auf den Zeitpunkt der ersten
und zweiten Widerhandlung abzustellen.

Sachverhalt

    Beat Stampfli besitzt den Führerausweis Kat. a (leichte
Motorwagen) seit dem 4. Januar 1965. Am 9. Oktober 1965 lenkte er in
angetrunkenem Zustand ein Motorfahrzeug und verursachte einen schweren
Verkehrsunfall. Daraufhin entzog ihm das Polizeidepartement des Kantons
Solothurn mit Verfügung vom 3. Januar 1966 den Führerausweis für die
Dauer von 4 Monaten mit Wirkung ab 10. Oktober 1965. Am 3. November 1970
führte Stampfli erneut in angetrunkenem Zustand ein Motorfahrzeug. Das
Polizeidepartement des Kantons Solothurn entzog Stampfli mit Verfügung
vom 8. Dezember 1970 in Berücksichtigung des Rückfalls innert 5 Jahren
(Art. 17 Abs. 1 lit. d SVG) den Führerausweis für die Dauer eines Jahres
mit Wirkung ab 4. November 1970.

    Der gegen diese Verfügung erhobenen Beschwerde entzog das
Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn die aufschiebende Wirkung. Es
wies die Beschwerde am 15. Januar 1971 ab. In der Folge gelangte Stampfli
an das Eidg. Justiz- und Polizeidepartement (EJPD). Dieses gewährte dem
eingelegten Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung. Mit Entscheid vom
30. April 1971 wies es die Beschwerde mit der Begründung ab, Stampfli habe
innert fünf Jahren seit Ablauf des ersten Entzuges erneut ein Fahrzeug
in angetrunkenem Zustand geführt, weshalb ein Entzug von mindestens einem
Jahr nach Art. 17 Abs. 1 lit. d SVG obligatorisch sei.

    Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde macht Stampfli
geltend, es liege kein Rückfall im Sinne von Art. 17 Abs. 1 lit. d
SVG vor, da zwischen dem ersten und dem zweiten Entzug mehr als 5 Jahre
verstrichen seien. Die angefochtene Verfügung sei daher aufzuheben und der
Führerausweis nach richterlichem Ermessen, jedoch für weniger als 1 Jahr,
zu entziehen.

    Das EJPD beantragt die Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 16 Abs. 3 lit. b SVG muss der Führerausweis entzogen
werden, wenn der Führer in angetrunkenem Zustand gefahren ist. Die Dauer
des Führerausweisentzuges beträgt nach Art. 17 Abs. 1 lit. d SVG mindestens
ein Jahr, "wenn der Entzug innert 5 Jahren zum zweitenmal wegen Fahrens
in angetrunkenem Zustand erfolgen muss".

    a) Es ist im vorliegenden Fall unbestritten, dass Stampfli am
3. November 1970 in angetrunkenem Zustand ein Motorfahrzeug gelenkt hat;
ebenso, dass ihm deswegen der Führerausweis nach Art. 16 Abs. 3 lit. b SVG
entzogen werden muss. Es steht auch fest, dass Stampfli durch Verfügung
vom 3. Januar 1966 mit Wirkung ab 10. Oktober 1965 der Führerausweis für
4 Monate entzogen worden ist, weil er am 9. Oktober 1965 in angetrunkenem
Zustand gefahren war. Streitig ist einzig die Auslegung des Art. 17 Abs. 1
lit. d SVG, welche für die Beantwortung der Frage, ob sich Stampfli im
Rückfall befinde oder nicht, entscheidend ist.

    b) Art. 17 Abs. 1 SVG sieht verlängerte Mindestentzugsdauern für zwei
als Rückfälle qualifizierte Tatbestände vor: in lit. c mindestens 6 Monate,
wenn einem Fahrzeuglenker der Ausweis innert zwei Jahren zum zweitenmal
entzogen werden muss, in lit. d mindestens 1 Jahr, wenn der Entzug innert
5 Jahren zum zweitenmal wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand erfolgen
muss. Die Frage der Fristberechnung stellt sich in beiden Fällen in
gleicher und doppelter Weise: einerseits ist der Beginn der Rückfallsfrist
festzulegen, anderseits ist klarzustellen, was sich innerhalb der Frist von
2 bzw. 5 Jahren ereignen muss, damit Rückfall im Sinne dieser Bestimmungen
vorliegt. In Auslegung der Vorschriften des Art. 17 Abs. 1 lit. c und d
SVG ist für den Beginn und den Ablauf der Rückfallsfrist eine Lösung zu
finden, die in Übereinstimmung mit dem Wortlaut des Gesetzes einfach und
vernünftig ist und dem Normzweck entspricht.

Erwägung 3

    3.- a) Als massgeblich für den Beginn des Fristenlaufes im Sinne
von Art. 17 Abs. 1 lit. c und d erachtet die Vorinstanz den Zeitpunkt,
in welchem dem fehlbaren Fahrzeuglenker der Führerausweis nach
Vollstreckung des ersten Entzuges wieder ausgehändigt wird. Sie stützt
sich auf den Wortlaut der Bestimmungen, woraus sich ergebe, dass zwischen
"Entzugsverfügung" und "Entzug" (durch die Entzugsverfügung herbeigeführter
Rechtszustand) zu unterscheiden sei. Angesichts der doppelten Bedeutung
des Begriffs "Entzug" sei es vom Wortlaut her keineswegs ausgeschlossen,
den Beginn der Rückfallsfrist vom Zeitpunkt der Wiederaushändigung des
entzogenen Führerausweises an zu rechnen. Diese Auslegung entspreche zudem
dem Sinn und Zweck der Gesetzesvorschrift, da eine Bewährung erst nach
Wiederaushändigung des Führerausweises - also nach Ablauf der Entzugsdauer
- möglich sei.

    b) Diese Auslegung - mag sie auch auf den ersten Blick bestechen -
findet im Wortlaut der Bestimmungen des Art. 17 Abs. 1 lit. c und d
SVG wenig Stütze. Mit ihr wird nämlich der Begriff des Entzugs aus dem
Satzzusammenhang herausgerissen und nur isoliert betrachtet. Dass das
Gesetz wörtlich vom "Entzug" spricht, der bei Rückfall "erfolgen muss",
deutet keineswegs zwingend darauf hin, dass als massgeblicher Zeitpunkt für
den Beginn des Fristenlaufes das Ende des Massnahmevollzuges betrachtet
werden soll. Die auf der Doppelbedeutung des Wortes Entzug aufbauende
Auslegung der Vorinstanz entspricht zudem weder dem französischen ("le
permis doit être retiré") noch dem italienischen Gesetzestext ("la licenza
deve essere revocata").

    c) Kann demnach die Vorinstanz vom Wortlaut des Art. 17 Abs. 1 lit. c
und d SVG nichts Entscheidendes für ihre Auslegung der Rückfallsbestimmung
gewinnen, vermöchte diese nur durchzuschlagen, wenn sie allein zu einem
vernünftigen, dem Willen des Gesetzgebers entsprechenden Ergebnis führte,
m.a.W. wenn die dem Wortlaut der gesetzlichen Bestimmungen am nächsten
liegende Auslegung nicht dem wirklichen Sinn des Gesetzes entspräche.

    Die Vorinstanz versucht ihre Auffassung mit dem Erziehungs- und
Warnungscharakter der Entzugsmassnahme zu begründen, namentlich damit,
dass die Rückfallsfrist eine Bewährungsfrist sein solle. Bewähren könne
und müsse sich der fehlbare Fahrzeuglenker erst nach Ablauf des ersten
Entzuges, d.h. nachdem ihm der Führerausweis wieder ausgehändigt
worden sei. Diese Argumentation verkennt jedoch, dass der Entzug
nicht nur Erziehungs- und Warnungscharakter hat, sondern in erster
Linie der Sicherheit des Strassenverkehrs dient (BGE 96 I 771; s. auch
Botschaft zum SVG, BBl 1955 II 23). Im Lichte der Sicherungsfunktion der
Entzugsmassnahme erscheint es vielmehr gerechtfertigt, das Datum des ersten
Deliktes (das Anlass zum Entzug gibt) als entscheidend für den Beginn des
Fristenlaufes zu betrachten. Sinn der Vorschrift kann nämlich nur sein,
einen Fahrzeuglenker, der in kurzen Zeitabständen zweimal in nicht leicht
zu nehmender Weise Verkehrsregeln verletzt und dadurch die Sicherheit
des Strassenverkehrs gefährdet, unnachsichtig während längerer Zeit vom
Steuer fernzuhalten.

    d) Die Auslegung, nach welcher für den Beginn des Fristenlaufes das
Datum des ersten "Sündenfalles" massgebend sein soll, entspricht somit
dem Zweck der bei Rückfall zu verschärfenden Administrativmassnahmen. Sie
steht auch dem Wortlaut des Gesetzes näher als die von der Vorinstanz
vorgenommene Interpretation, und zwar nicht nur in der bereits unter
lit. b erwähnten, sondern auch in anderer Beziehung. In Art. 17 Abs. 1
lit. c bzw. d ist die Rede vom Führerausweis, der innert zwei Jahren
zum zweitenmal entzogen werden muss, bzw. vom Entzug, der innert zwei
Jahren zum zweitenmal erfolgen muss. Damit wird eher an den Zeitpunkt
der begangenen Verkehrsdelikte (die Anlass zu den einzelnen Entzügen
geben) angeknüpft, als an den von Fall zu Fall variierenden Zeitpunkt
der Entzugsverfügung oder des Massnahmevollzuges.

    Diese einfache, vernünftige und dem Normzweck entsprechende Auslegung
verdient den Vorzug auch gegenüber der Auffassung des Beschwerdeführers,
nach welcher auf den Beginn der Wirksamkeit der ersten Entzugsverfügung
abzustellen wäre. Denn auch diese Auslegung entfernt sich vom Wortlaut
und Sinn des Art. 17 Abs. 1 lit. c und d SVG.

    e) Bedenken gegen die hier vertretene Auslegung erweisen sich als
unbegründet.

    So kann die Möglichkeit, dass ein Verkehrsteilnehmer rückfällig wird,
bevor überhaupt eine erste Entzugsverfügung ergangen ist, nicht dagegen
sprechen. Da das Fahren in angetrunkenem Zustand Leib und Leben anderer
in besonderem Masse gefährdet, verdient ein Fahrzeuglenker, der vor dem
Ausfällen der Entzugsverfügung erneut angetrunken ein Motorfahrzeug führt,
keine Nachsicht, selbst wenn er die Massnahme des Entzugs noch nicht
effektiv zu spüren bekam.

    Es kann auch nichts darauf ankommen, dass das Abstellen auf das Datum
der ersten Tatbegehung die Zeitspanne verkürzt, während der sich der
vom Entzug Betroffene im öffentlichen Verkehr bewähren muss. Ferner ist
unerheblich, dass Ungleichheiten deshalb entstehen, weil der von einem
kürzeren Entzug Betroffene sich länger bewähren muss, als jener, dem der
Ausweis für längere Zeit entzogen wird, oder weil die Rückfallfrist in
Grenzfällen ablaufen kann, bevor der Betroffene wieder im Besitz eines
Führerausweises ist. Abgesehen davon, dass Ungleichheiten auch entstehen,
wenn für den Beginn des Fristenlaufes ein anderer Zeitpunkt gewählt wird,
können alle Ungleichheiten, die sich aus der Anwendung von Art. 17 Abs. 1
lit. c und d SVG ergeben, durch die zuständigen Behörden im Einzelfall
bei der Bemessung der Entzugsdauer ausgeglichen werden. Das Abstellen auf
den Zeitpunkt der ersten Widerhandlung ist wohl die für den Betroffenen
günstigste Auslegung. Dies erscheint jedoch durchaus gerechtfertigt, da in
Art. 17 Abs. 1 lit. c und d SVG minimale Entzugsdauern vorgeschrieben sind,
so dass dem Ermessen der Administrativbehörden weiter Raum zur Festlegung
der dem konkreten Fall gerecht werdenden Massnahme offen steht.

    Auch aus dem Rückfallsbegriff des Art. 67 StGB (alte oder neue Fassung)
kann nichts gewonnen werden, was gegen die hier vertretene Auslegung
des Art. 17 Abs. 1 lit. c und d SVG spräche. Da das Massnahmerecht
des SVG eigene Bestimmungen für besondere Rückfallstatbestände enthält
und der Entzug des Führerausweises nicht Strafcharakter hat (BGE 96
I 771 ff.), kann der Rückfallsbegriff des Art. 67 StGB ohnehin keine,
auch nicht eine analoge Anwendung finden. Wie die Entstehungsgeschichte
der auszulegenden Bestimmungen überdies zeigt, hat der Gesetzgeber den
bestehenden Rückfallsbegriff des Art. 67 StGB bei der Formulierung
des Art. 17 Abs. 1 SVG nicht übersehen. Schon der Vorentwurf von
1952 enthielt in Art. 17 Ziff. 2 Abs. 2 eine der heutigen Fassung der
Rückfallsbestimmungen entsprechende Regelung. Die Rückfallsbestimmungen
finden sich hierauf in den bereinigten Vorentwürfen vom 9. Mai, 13. Juni
und 30. September 1953 und schliesslich in Art. 16 Abs. 4 lit. c und d
des Gesetzesentwurfes (BBl 1955 II 74). Die Protokolle der Beratungen
der Expertenkommission, die Botschaft des Bundesrates zum SVG sowie die
Protokolle der parlamentarischen Beratungen lassen darauf schliessen,
dass die Frage der konkreten Berechnung der Rückfallsfrist offenbar nie
Gegenstand von Erörterungen bildete; hingegen wird daraus klar, dass der
Gesetzgeber in Art. 17 Abs. 1 lit. c und d SVG zwei Tatbestände als zu
verschärften Entzugsmassnahmen Anlass gebende Rückfälle qualifizieren
wollte und damit eigene, von Art. 67 StGB verschiedene Rückfallsbegriffe
schuf.

    Schliesslich vermag nicht gegen eine vom Wortlaut gedeckte und dem
Normzweck gerecht werdende Auslegung zu sprechen, dass de lege ferenda
vorgesehen ist, die Berechnung der Rückfallsfrist in dem von der Vorinstanz
vertretenen Sinne zu regeln.

Erwägung 4

    4.- Zu prüfen bleibt, was sich innerhalb der Rückfallsfrist ereignen
muss, damit Rückfall im Sinne von Art. 17 Abs. 1 lit. c und d vorliegt.

    a) Die Vorinstanz erachtet es als richtig und zweckmässig, hier
auf den Zeitpunkt der zweiten Widerhandlung abzustellen; das Datum des
zweiten Entzuges erachtet sie nicht als massgeblich. Dieser Auslegung
ist zuzustimmen. Sie entspricht dem Wortlaut des Gesetzes und dem Zweck
des in Art. 17 Abs. 1 lit. c und d SVG enthaltenen Rückfallsbegriffes.
Nach diesen Bestimmungen kann nicht der aufgrund verschiedener Umstände
mehr oder weniger zufällige Zeitpunkt der Massnahmeverfügung oder des
Massnahmevollzuges wesentlich sein, sondern nur, ob die neue Begehung
der Widerhandlung in die zwei- bzw. fünfjährige Frist seit der ersten
Tat fällt.

    b) Dass damit eine Divergenz zu Art. 102 Ziff. 2 lit. b SVG
(Veröffentlichung des Strafurteils, wenn der Verurteilte innert
fünf Jahren mehr als einmal wegen Führens eines Motorfahrzeuges in
angetrunkenem Zustande bestraft wird) entstehen kann, bildet keinen Grund,
an der Richtigkeit der Auslegung zu zweifeln. Im Unterschied zu Art. 17
Abs. 1 lit. c und d SVG verlangt die Rückfallsbestimmung des Art. 102
Ziff. 2 lit. b SVG, dass bei der Berechnung der Rückfallsfrist nicht auf
die erneute Tatbegehung, sondern auf die neue Verurteilung abgestellt
wird (s. BGE 96 IV 82). Es kann daher wohl vorkommen, dass beim selben
Verkehrsdelikt Rückfall nach Art. 17 Abs. 1 lit. d SVG vorliegt, nicht
jedoch nach Art. 102 Ziff. 2 lit. b SVG. Ob dies vom Gesetzgeber gewollt
ist, kann dahingestellt bleiben. Sache des Gesetzgebers allein ist es,
eine allenfalls nicht gewünschte Divergenz zu beseitigen.

Erwägung 5

    5.- Kommt es demnach im vorliegenden Fall auf den Zeitpunkt der
ersten und zweiten Widerhandlung des Beschwerdeführers an, so liegt kein
Rückfall im Sinne von Art. 17 Abs. 1 lit. d SVG vor. Die fünfjährige
Rückfallsfrist begann am 9. Oktober 1965 zu laufen und war am 3. November
1970 verstrichen. Die Bemessung der Entzugsdauer hat sich daher - ohne
Anwendung von Art. 17 Abs. 1 lit. d SVG - in erster Linie darnach zu
richten, wie stark auf Stampfli eingewirkt werden muss, damit er inskünftig
seine Pflichten im Strassenverkehr ernst nehme und die Verkehrsvorschriften
achte. Diese Bemessung hat das Bundesgericht nicht selbst vorzunehmen;
hierzu ist die Sache, in Aufhebung des angefochtenen Entscheides, an
das Polizeidepartement des Kantons Solothurn zurückzuweisen (Art. 114
Abs. 2 OG).