Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 I 718



97 I 718

104. Auszug aus dem Urteil vom 15. Dezember 1971 i.S. Walker gegen Zug,
Kanton und Regierungsrat. Regeste

    Nationalstrassenbau; Beseitigung von Gebäuden; Verhältnis zwischen
Landumlegungs- und Enteignungsverfahren.

    Kann der Abbruch oder die Verschiebung eines Gebäudes im kantonalen
Landumlegungsverfahren verfügt werden oder ist dafür gestützt auf Art. 23
der bundesrätlichen Vollziehungsverordnung zum NSG vom 24. März 1964 das
Enteignungsverfahren einzuleiten? (Erw. 2).

    Ist die Durchführung eines Enteignungsverfahrens erforderlich, so ist
im Schätzungsverfahren (Art. 57 ff. EntG) zu entscheiden, ob ein Gebäude
abgebrochen oder verschoben werden muss (Erw. 4).

Sachverhalt

    A.- Art. 36 des BG über den Nationalstrassenbau vom 9.  März 1960 (NSG)
ermächtigt die kantonalen Regierungen, die für den Strassenbau notwendigen
Landumlegungen anzuordnen. Gestützt auf diese Bestimmung beschloss der
Regierungsrat des Kantons Zug am 16. Dezember 1966, gemeinsam mit dem
Kanton Luzern eine Gesamtmelioration durchzuführen. Diese umfasst das
Gebiet zwischen Fänn (Kanton Luzern) und der SBB-Linie Rotkreuz-Immensee
(Kanton Zug) und dient dem Landerwerb für das Teilstück "Stockeri" der
Nationalstrasse N4. In den Perimeter fällt auch das Heimwesen des Anton
Walker, Landwirt in Rüti, Rotkreuz. Dieser hat von seinem Grundstück GB
Rotkreuz Nr. 456 eine Fläche von 700 m2 für den Strassenbau abzutreten;
weitere 800 m2 werden vorübergehend für die Bauarbeiten benötigt. Das
200-jährige Wohnhaus Walkers liegt auf dem Trasse der erwähnten
Nationalstrasse und muss daher entweder abgebrochen oder verschoben werden.

    B.- Die Schweizerische Vereinigung Industrie und Landwirtschaft
(SVIL), welche mit dem Landerwerb beauftragt ist, bot Walker am 20. Mai
1969 eine Entschädigung von insgesamt Fr. 177 000.-- für das erwähnte
Wohnhaus an. Mit Schreiben vom 11. November 1970 erhöhte sie das Angebot
unter Berücksichtigung der Teuerung auf Fr. 197 000.--. Gleichzeitig machte
sie Walker darauf aufmerksam, dass das Gebäude bis spätestens im Mai 1972
beseitigt sein müsse und dass das Schätzungsverfahren eingeleitet werde,
falls bis Ende 1970 keine Stellungnahme zum erwähnten Angebot eingehe. Mit
Schreiben vom 4. Januar 1971 lehnte Walker die Offerte als ungenügend
ab. Nach weiteren Verhandlungen machte die SVIL am 19. Februar 1971 ein
"letztes" Angebot von Fr. 220 000.--. Mit Schreiben vom 8. Juli 1971
forderte Walker jedoch eine Erhöhung der Entschädigungssumme auf Fr. 242
000.--.

    Angesichts des Verhaltens Walkers erwog die SVIL im Verlaufe des
Sommers 1971, das Wohnhaus verschieben zu lassen. Mit Schreiben vom
6. September 1971 teilte die kantonale Baudirektion dem Grundeigentümer
Walker mit, das Angebot von Fr. 220 000.-- werde noch während 10 Tagen
aufrecht erhalten; nach Ablauf dieser Frist werde dem Regierungsrat die
Einleitung des Enteignungsverfahrens und gleichzeitig die Verschiebung des
Objekts beantragt, denn diese Lösung sei für den Kanton vorteilhafter. Der
Anwalt Walkers lehnte hierauf die erwähnte Offerte am 13. September
1971 neuerdings ab; gleichzeitig machte er geltend, die Verschiebung des
Wohnhauses könne Walker nicht gegen seinen Willen aufgezwungen werden.

    C.- Ohne ein Enteignungsverfahren einzuleiten, beschloss der
Regierungsrat des Kantons Zug am 20. September 1971 die Verschiebung
des Wohnhauses. Zur Begründung führte er im wesentlichen aus, ein
Grundeigentümer habe im Rahmen einer Landumlegung bloss Anspruch auf
wertmässigen Realersatz und - soweit ein solcher nicht möglich sei -
auf vollen Ersatz des sich aus dem Nationalstrassenbau und aus der
Landumlegung ergebenden Schadens; durch die Verschiebung des Wohnhauses
werde dem Grundeigentümer Walker angemessen Ersatz geleistet, weshalb diese
Massnahme ohne weiteres im Landumlegungsverfahren verfügt werden dürfe.

    D.- Anton Walker führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem
Antrag, den angefochtenen Beschluss des Regierungsrats des Kantons Zug
aufzuheben. Er widersetzt sich einer Verschiebung seines Wohnhauses
und macht geltend, eine solche Massnahme könnte zum vorneherein nur
im Enteignungsverfahren verfügt werden. Im vorliegenden Fall vermöge
das Landumlegungsverfahren seinen berechtigten Ersatzansprüchen
offensichtlich nicht zu genügen, weshalb gestützt auf Art. 23 der
bundesrätlichen Vollziehungsverordnung zum NSG vom 24. März 1964 (VV-NSG)
das Enteignungsverfahren einzuleiten sei.

    E.- Der Regierungsrat des Kantons Zug beantragt die Abweisung der
Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer rügt, die angefochtene Verschiebung seines
Wohnhauses sei zu Unrecht im kantonalen Landumlegungsverfahren verfügt
worden; eine solche Massnahme könnte höchstens aufgrund des eidgenössischen
Enteignungsrechts angeordnet werden.

    a) Art. 30 Abs. 1 NSG lässt den zur Landbeschaffung verpflichteten
Kantonen grundsätzlich die Wahl zwischen dem Landumlegungs- und dem
Enteignungsverfahren, sofern ein freihändiger Erwerb ausser Betracht
fällt. Gemäss Art. 30 Abs. 2 NSG soll indessen das bundesrechtliche
Enteignungsverfahren erst dann eingeleitet werden, wenn die Bemühungen
für einen freihändigen Erwerb oder für eine dem kantonalen Recht
unterstehende Landumlegung nicht zum Ziele führen. Weitere Vorschriften
über das Verhältnis zwischen Landumlegung und Enteignung sind im
Nationalstrassengesetz nicht enthalten.

    Dass der Bundesgesetzgeber der Landumlegung grundsätzlich den
Vorrang einräumt (Art. 30 Abs. 2 NSG), bedeutet indessen nicht, dass der
Grundeigentümer in diesem Verfahren ohne weiteres gleich einschneidende
Eingriffe in sein Privateigentum zu dulden hat wie im Falle der Enteignung.
Die Landumlegung bezweckt ihrem Wesen nach in erster Linie eine sachgemässe
Aufteilung und Zuordnung der im Perimeter gelegenen Grundstücke. Die
betroffenen Grundeigentümer haben demnach grundsätzlich Anspruch auf
Realersatz (BGE 95 I 372 Erw. 4; F. ANTOGNINI, Le respect de la garantie de
la propriété dans les remaniements parcellaires, ZBl 72/1971, S. 2). Ist
aus besonderen Gründen kein Realersatz möglich, so ist eine Entschädigung
auszurichten, welche dem vollen Verkehrswert der eingeworfenen Grundstücke
zu entsprechen hat (BGE 95 I 373 oben). Erfolgt die Landbeschaffung
für eine Nationalstrasse auf dem Wege der Landumlegung, so wird der zur
Landabtretung verpflichtete Eigentümer unbebauter Grundstücke nach dem
Gesagten gleichwertig entschädigt wie im Enteignungsverfahren, denn die
im Zusammenhang mit der Erstellung eines öffentlichen Werks verfügte
Landumlegung kommt insoweit einer Enteignung gleich. Erfordert der
Nationalstrassenbau dagegen die Beseitigung von Gebäuden, so gewährt das
Landumlegungsverfahren dem betroffenen Eigentümer nicht notwendigerweise
den gleichen Schutz wie das Enteignungsverfahren, zumal solche Eingriffe
in das Privateigentum nicht selten Ansprüche entstehen lassen, welche dem
Landumlegungsrecht naturgemäss fremd sind (z.B. Entschädigungsansprüche
für Inkonvenienzen besonderer Art, Schadenersatzforderungen wegen
Beschädigung verschobener Gebäude u.a.m.). Das heisst indessen nicht, dass
die Beseitigung von Gebäuden zum vorneherein nur im Enteignungsverfahren
gemäss Art. 39 NSG verfügt werden kann. Unter Vorbehalt der in Art. 31
ff. NSG enthaltenen Grundsätze sind die Kantone in der Ausgestaltung ihres
Landumlegungsrechts weitgehend frei. Sie sind ausdrücklich ermächtigt,
für die Schätzung des abgetretenen Landes oder der Inkonvenienzen, die
sich bei der Neuzuteilung nicht abgelten lassen, die analoge Anwendung
des eidgenössischen Enteignungsrechts vorzuschreiben (Art. 21 VV-NSG;
vgl. BGE 97 I 180), und nichts hindert den kantonalen Gesetzgeber,
entsprechende Vorschriften für den Abbruch oder die Verschiebung
von Gebäuden aufzustellen. Voraussetzung ist jedoch, dass solche
Bestimmungen, deren Verfassungsmässigkeit das Bundesgericht frei prüfen
kann, die Beseitigung von Gebäuden ausdrücklich vorsehen (vgl. BGE 97
I 496 Erw. 2 a), dass sie klare Grundsätze zur Bemessung von damit im
Zusammenhang stehenden Entschädigungsansprüchen enthalten und dass sie
das entsprechende Verfahren klar und vollständig regeln. Ob der Abbruch
oder die Verschiebung von Gebäuden im Landumlegungsverfahren angeordnet
werden darf, beurteilt sich demnach vorab nach dem kantonalen Recht,
welches insoweit den Grundsätzen des eidgenössischen Enteignungsrechts
entsprechen muss und der in Art. 22ter BV verankerten Eigentumsgarantie
Rechnung zu tragen hat. Genügt das kantonale Landumlegungsrecht diesen
Anforderungen nicht, so darf die Beseitigung von Bauten, welche einer
Nationalstrasse zu weichen haben, nur in einem besonderen, gestützt auf
Art. 23 VV-NSG einzuleitenden Enteignungsverfahren verfügt werden, denn das
Landumlegungsverfahren ist diesfalls seiner Natur nach offensichtlich nicht
geeignet, den berechtigten Ersatzansprüchen des Eigentümers hinreichend
Rechnung zu tragen (vgl. BGE 97 I 717).

    b) Der Kanton Zug hat keine Ausführungsvorschriften im Sinne von
Art. 61 Abs. 2 NSG erlassen. Laut Regierungsratsbeschluss vom 16.
Dezember 1966 wird die Landbeschaffung für das Teilstück "Stockeri"
der Nationalstrasse N4 in Form einer Gesamtmelioration im Sinne von §
10 des zugerischen Meliorationsgesetzes vom 27. Oktober 1960 (MelG)
durchgeführt. Wohl sind dabei jene baulichen Massnahmen zulässig, "die
eine Verbesserung der Produktionsgrundlagen im Interesse der rationellen
Bewirtschaftung des Bodens herbeiführen" (§ 2 Abs. 3 MelG). Weder
das Meliorationsgesetz noch die zugehörige Vollziehungsverordnung vom
19. Oktober 1964 enthalten jedoch Bestimmungen darüber, ob im Rahmen
einer Gesamtmelioration die Beseitigung von Gebäuden verfügt werden
kann, welche die Erstellung eines öffentlichen Werks behindern. §
10 Abs. 5 MelG sieht vielmehr ausdrücklich vor, dass der Eigentümer
die Einleitung des Enteignungsverfahrens verlangen kann, wenn das
Landumlegungsverfahren seinen berechtigten Ersatzansprüchen offensichtlich
nicht zu genügen vermag. Diese Bestimmung entspricht im wesentlichen der
bundesrechtlichen Vorschrift in Art. 23 VV-NSG und deutet darauf hin,
dass über Ersatzansprüche, welche dem Landumlegungsrecht naturgemäss fremd
sind, auch nach zugerischem Recht im Enteignungsverfahren entschieden
werden muss.

    Im vorliegenden Fall erfüllt somit das kantonale Recht die in lit. a
umschriebenen Anforderungen nicht. Über die Frage, ob das Wohnhaus des
Beschwerdeführers abzubrechen oder zu verschieben ist, muss demnach in
einem besonderen Enteignungsverfahren entschieden werden. Wohl hat der
Beschwerdeführer im kantonalen Verfahren kein entsprechendes Gesuch im
Sinne von Art. 23 VV-NSG gestellt. Anlass dazu bestand jedoch nicht,
zumal ihm die kantonale Baudirektion mit Schreiben vom 6. September
1971 mitteilte, sie werde die Einleitung des Enteignungsverfahrens
beantragen, falls er das Angebot für eine Pauschalentschädigung im
Betrage von Fr. 220 000.-- nicht innert 10 Tagen annehme. Das in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde enthaltene Begehren um Einleitung des
Enteignungsverfahrens ist deshalb zulässig und nach dem Gesagten begründet.

Erwägung 3

    3.- ...

Erwägung 4

    4.- Der Beschwerdeführer widersetzt sich einer Verschiebung seines
Wohnauses und macht geltend, die Beseitigung des Gebäudes habe in
Form eines Abbruchs zu erfolgen. Damit erhebt er keine Einwendungen,
die Gegenstand einer zulässigen Einsprache im Sinne von Art. 27
NSG bilden könnten (vgl. dazu das Urteil vom 12. Juli 1971 i.S. von
Schulthess-Rechberg, BGE 97 I 577/8). Ferner kann in seinen Vorbringen
kaum ein "Ausdehnungsbegehren" erblickt werden, welches in sinngemässer
Anwendung von Art. 12 EntG zu beurteilen wäre, denn die Parteien sind
sich über das Ausmass der Enteignung als solcher einig, und auch der
Beschwerdeführer anerkennt, dass sein Wohnhaus in der einen oder andern
Form beseitigt werden muss. Die Meinungsverschiedenheiten beziehen sich
vielmehr auf die Art der geschuldeten Enteignungsentschädigung. In
der Tat kann in einer auf dem Enteignungsweg erwirkten Verschiebung
eines Gebäudes ohne weiteres eine Massnahme erblickt werden, die in
ihren Wirkungen weitgehend einem Realersatz im Sinne von Art. 18 EntG
gleichkommt. Über Art und Höhe der Entschädigung entscheidet in jedem
Fall die Eidg. Schätzungskommission (Art. 64 Abs. 1 lit. a EntG). Ob das
Wohnhaus des Beschwerdeführers gegen volle Entschädigung abgebrochen
oder - gegebenenfalls unter Abgeltung von Inkonvenienzen und weiteren
Schadenersatzansprüchen - verschoben werden muss, hat demnach die Eidg.
Schätzungskommission des V. Kreises und nicht der Regierungsrat des
Kantons Zug zu beurteilen...

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird gutgeheissen und der
angefochtene Entscheid des Regierungsrats des Kantons Zug vom 20. September
1971 aufgehoben. Der Regierungsrat des Kantons Zug wird angewiesen,
die Akten der Eidg. Schätzungskommission des V. Kreises zu übermitteln,
welche sich im Sinne der Erwägungen mit der Streitsache zu befassen hat.