Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 I 57



97 I 57

9. Auszug aus dem Urteil vom 19. Januar 1971 i.S. Schindler gegen
Staatsanwaltschaft und Obergericht des Kantons Basel-Landschaft. Regeste

    Art. 89 Abs. 2 OG.

    Wenn das massgebende Gesetz die Zustellung des motivierten Urteils
an die Parteien nicht vorsieht, diese aber auf ständiger Gerichtspraxis
beruht, ist sie der amtlichen Zustellung gleichzustellen (Erweiterung
der Rechtsprechung).

Sachverhalt

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

    Nach Art. 89 OG ist die Beschwerde binnen dreissig Tagen, von der nach
dem kantonalen Recht massgebenden Eröffnung oder Mitteilung des Entscheides
an gerechnet, dem Bundesgericht schriftlich einzureichen. Werden von Amtes
wegen nachträglich Entscheidungsgründe zugestellt, so kann die Beschwerde
noch innert dreissig Tagen seit dem Eingang der Ausfertigung geführt werden
(Abs. 2). Von Amtes wegen geschieht die nachträgliche Eröffnung, wenn das
Gesetz sie in allgemeiner Weise, nicht bloss für den Fall vorschreibt, dass
eine Partei es verlangt oder gegen ein Urteil ein Rechtsmittel eingelegt
werden kann (BGE 72 I 296, 74 I 170, 77 I 69). In einzelnen Kantonen
werden die motivierten Urteile den Parteien ohne derartige gesetzliche
Vorschrift und ohne besonderes Verlangen zugestellt. Das führt zur Frage,
ob unter Erweiterung der bisherigen Rechtsprechung dem Fall, wo das Gesetz
die Zustellung des begründeten Urteils in allgemeiner Weise vorschreibt,
derjenige gleichzustellen ist, wo die Zustellung ohne eine gesetzliche
Vorschrift auf Grund ständiger Übung geschieht. Trifft dies zu, so
hängt es nicht vom Zutun des Beschwerdeführers ab, ob er eine motivierte
Urteilsausfertigung erhält. Er hat keine Möglichkeit, zu seinen Gunsten
auf den Lauf der Beschwerdefrist Einfluss zu nehmen (BONNARD, Problèmes
relatifs au recours de droit public, ZSR 81 II 456 Ziff. 100). Gericht oder
Gerichtskanzlei haben sich nicht im einzelnen Fall darüber zu entscheiden,
ob sie eine Zustellung vorzunehmen haben. Diese geschieht unbedingt und
in allgemeiner Weise (BGE 77 I 70) und insoweit von Amtes wegen, als sich
das Gericht zwar nicht auf eine gesetzliche Vorschrift stützt, wohl aber
einem ständigen Gerichtsgebrauch folgt. Auf eine derartige Übung soll sich
die Partei in gleicher Weise verlassen dürfen, wie wenn eine gesetzliche
Vorschrift die Zustellung dem Richter zur Pflicht macht. Aus diesen Gründen
rechtfertigt es sich, die Vorschrift von Art. 89 Abs. 2 OG als gegeben zu
betrachten, vorausgesetzt immer, dass die Zustellung in allgemeiner Weise,
in jedem Fall erfolgt, und in diesem Sinn ein langjähriger, ständiger
und unangefochtener Gerichtsgebrauch besteht. Die Voraussetzungen für
die Anwendung von Art. 89 Abs. 2 OG sind dagegen nicht gegeben, wenn die
Gerichtskanzlei eines Kantons von Fall zu Fall und nach eigenem Gutdünken
darüber befindet, ob sie einer oder beiden Parteien ein begründetes
Urteil zustellen oder nicht zustellen will. Die Frist würde sonst von
Zufälligkeiten abhängen und es bestünde die Gefahr von Missbräuchen.

    Der Kassationshof des Bundesgerichts stimmt dieser Auffassung bei. Die
staatsrechtliche Kammer, bei der 7 Mitglieder mitzuwirken haben, hat
durch internen Beschluss in gleichem Sinne entschieden (Beschluss vom
12. November 1969 i.S. Graf).

    Nach § 141 der basel-landschaftlichen Strafprozessordnung wird das
Urteil dem Angeklagten in Gegenwart des Gerichts und des Staatsanwalts
durch den Gerichtsschreiber verkündet, sobald es gefällt ist. Mit
diesem Zeitpunkt beginnt die Frist zur Einreichung einer Appellation
(§ 145 StPO). Für das Urteil des Obergerichts, seine Verkündung und
seine Ausfertigung gelten die für das Verfahren vor dem Strafgericht
aufgestellten Bestimmungen (§ 159 Abs. 3 StPO). Entsprechendes gilt
für das Zivilverfahren (§ 212 ZPO). Die Zustellung des begründeten
Urteils ist also durch das Gesetz nicht vorgeschrieben; sie geschieht
danach auch nicht, wenn die Parteien es nicht selbst verlangen. Doch
hat das Obergericht dem Bundesgericht in in den Jahren 1958 und
1962 eingeholten Berichten erklärt, die Gerichtskanzleien seien seit
einiger Zeit dazu übergegangen, die begründeten Urteile unaufgefordert
in allen Fällen zuzustellen. Der Präsident des Obergerichts hat in
diesem Beschwerdeverfahren die Erklärung abgegeben, dass diese Übung
nun schon seit einigen Jahren besteht. Freilich erfolgt die Zustellung
danach in Fällen, wo die eidgen. Nichtigkeitsbeschwerde offensteht,
erst nach Ablauf der zehntägigen Frist für deren Erhebung, also nach
Eintritt der Rechtskraft. Doch vermag dies daran nichts zu ändern, dass
bei den basel-landschaftlichen Gerichten ein langjähriger und ständiger
Gerichtsgebrauch besteht, wonach das begründete Urteil den Parteien von
Amtes wegen zugestellt wird.