Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 I 353



97 I 353

51. Auszug aus dem Urteil vom 28. April 1971 i.S. Graf und Hochhaus
AG gegen Keller AG, Hiltbrunner, Gemeinderat der Stadt Aarau und
Verwaltungsgericht des Kantons Aargau. Regeste

    Bauvorschriften zum Zwecke der Wahrung der baulichen Einheit und
Eigenart einer Altstadt dienen nicht auch dem Nachbarschutz.

    Das blosse Vorhandensein einer Baute kann keine Einwirkungen i.S. von
Art. 684 ZGB erzeugen (Bestätigung der Rechtsprechung (Erw. 1c).

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    Am 18. August 1969 erteilte der Gemeinderat Aarau Hans Graf und
der Hochhaus AG Aarau die Baubewilligung zur Erstellung eines Doppel-
Büro- und Wohnhauses auf der Parzelle 1605 am Schanzenweg/Rain in
Aarau. Dagegen führten die Einsprecher Buchdruckerei Keller AG,
deren Fabrikationsgrundstück südlich, und Werner Hiltbrunner, dessen
Liegenschaft östlich an das Baugrundstück stösst, Beschwerde beim
kantonalen Baudepartement. Die Beschwerden wurden am 3. April 1970
abgewiesen, wogegen sie an das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau
rekurrierten. Mit Urteil vom 22. September 1970 hiess dieses die
Beschwerden gut und hob die Baubewilligung vom 18. August 1969 auf. Wie
sich aus den Erwägungen des Entscheides ergibt, hat dies nicht die Meinung,
dass der projektierte Bau überhaupt nicht erstellt werden dürfe, sondern
nur, dass verschiedene, im einzelnen umschriebene Änderungen nötig seien,
weshalb dem Gemeinderat ein neues Bauprojekt einzureichen sei.

    Gegen dieses Urteil des Verwaltungsgerichts haben Hans Graf
und die Hochhaus AG staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung der
Eigentumsgarantie (was nicht substantiiert ist), sowie des Prinzips der
Rechtsgleichheit und des Willkürverbotes eingereicht. Es wird beantragt,
das angefochtene Urteil sei aufzuheben und in Bestätigung der Entscheide
des Gemeinderates Aarau vom 18. August 1969 und des Baudepartementes
vom 13. April 1970 die Baubewilligung an Hans Grafzu erteilen, wobei im
Sinne der Begründung die Dachvorbauten und die Flügelmauer auf der Südseite
wegzulassen seien; eventuell sei die Sache im Sinne der Erwägungen zur
neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    Das Bundesgericht hat die Beschwerde aus formellen Gründen abgewiesen,
da schon diejenigen Beanstandungen des Verwaltungsgerichts am Bauprojekt,
mit denen sich die Beschwerdeführer abgefunden haben, ein neues Baugesuch
bedingen und es somit in jedem Falle bei der vom Verwaltungsgericht
ausgesprochenen Aufhebung der Baubewilligung bleibt. Da jedoch die
Begründung des angefochtenen Entscheides für das weitere Vorgehen der
Beschwerdeführer wegweisend ist, hat es sich dazu wenigstens in den
Hauptpunkten geäussert, und zwar unter dem Gesichtspunkt der Willkür.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

    Zu den einzelnen Beanstandungen, soweit sie Gegenstand der
staatsrechtlichen Beschwerde bilden, ist folgendes zu bemerken:

Erwägung 1

    1.- Dachgestaltung:

    Aus der Querstellung der Dachfirste zur Längsachse der Bauten ergibt
sich eine Firsthöhe über dem Dachgesims von 9 m. Da sich die beiden
Dachschrägen in der Mitte überschneiden, entsteht eine kompakte grosse
Dachmasse. Das Verwaltungsgericht betrachtet ein solches Dach über der
maximal zulässigen Gebäudehöhe von 16 m für den Einsprecher im Süden,
die Buchdruckerei Keller AG, als unzumutbar und verlangt die Reduktion
der Höhe bis zum Dachgesims um ein Stockwerk oder die Drehung des Firstes
in die Längsrichtung (Ost-West), allenfalls beides zusammen.

    Das Verwaltungsgericht sagt in seinem Urteil nicht, gegen welche
Vorschrift der Bauordnung das beanstandete Dach verstösst. Offenbar ist es
sich selbst bewusst, dass sich eine solche in der Bauordnung nicht findet.
Indessen wird auch nicht gesagt, inwiefern gegebenenfalls ein allgemein
anerkannter Rechtsgrundsatz, der dem Gemeinderecht stillschweigend
zu Grunde liegt, verletzt sei. Auch wird keine Rechtsprechung namhaft
gemacht, nach welcher etwa Bauten nicht bloss den Baupolizeivorschriften
zu entsprechen hätten, sondern darüber hinaus ganz allgemein für die
Nachbarschaft auch "zumutbar" sein müssten. Das Verwaltungsgericht geht
selbst davon aus, dass in der Kernzone 1, in welcher die in Frage stehende
Südfassade steht, die zulässige Gebäudehöhe als Höhe bis zum Dachgesims
mit 16 m normiert ist (§ 42 Abs. 2 BO) und dass nach § 47 Abs. 1 BO die
Dachneigung in der Altstadtzone mindestens 40° zu betragen hat, wobei
keine Höchstneigung angegeben wird.

    Was für den Nachbar zumutbar ist, entscheiden die positiven
Bauvorschriften.

    Dem Verwaltungsgericht scheint die Dürftigkeit seiner Begründung selbst
nicht entgangen zu sein; in seinen Gegenbemerkungen zur Beschwerde führt
es drei weitere Motivierungen an, die sich indessen widersprechen. Es
zieht folgendes in Erwägung, dem wie folgt zu entgegnen ist:

    a) Mit dem Fehlen von Vorschriften in der BO über die Höhe geneigter
Dächer liege eine echte Gesetzeslücke vor, die der Richter zu schliessen
habe. Eine echte Gesetzeslücke darf nach dem allgemeinen Rechtsgrundsatz
des Art. 1 Abs. 2 ZGB nur dann angenommen werden, wenn eine Frage, die
sich unvermeidlich stellt, vom Gesetz überhaupt nicht oder nur teilweise
beantwortet ist (vgl. IMBODEN, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung,
3. Aufl. S. 122 Nr. 241). Im Bereiche des Baupolizeirechts sind echte
Gesetzeslücken, die der Richter mit positiven, das Eigentum einschränkenden
Vorschriften ausfüllen müsste und dürfte, kaum denkbar. Im Zweifel
ist eben das Eigentum frei. Einschränkungen bedürfen der ausdrücklichen
Formulierung. Zudem ist nicht ausgeschlossen, dass der Gesetzgeber bewusst
nur die Dachgesimshöhe festlegen wollte und eine Normierung der Firsthöhe
nicht als notwendig erachtete.

    b) Völlig im Widerspruch zur These, es liege eine echte Gesetzeslücke
vor, ist die vom Verwaltungsgericht weiter vertretene Auffassung, es ergebe
sich aus einer Auslegung der Bauordnung, dass die Firsthöhe auf das für die
Nachbarn noch "Zumutbare" begrenzt sei. Darnach sei der Gesetzgeber nämlich
von einer "normalen" Dachneigung und einer entsprechenden "normalen"
Gebäudetiefe ausgegangen. Die Firsthöhe sei daher für den Nachbarn
nur zumutbar, wenn und soweit sie sich aus dem Zusammenspiel zwischen
einer "normalen" Dachneigung und einer "normalen" Hausbreite - quer zur
Firstrichtung - ergebe. Hier entspreche zwar die Dachneigung mit ca. 45°
dieser Norm. Dagegen sei die überdachte Haustiefe übermässig gross, woraus
eine für den Nachbarn nicht mehr tragbare Dach- und Haushöhe resultiere.

    Weder die "normale Dachneigung" noch die "normale Haustiefe"
findet aber im Gesetzestext eine Grundlage, und noch weniger eine
Präzisierung. Im Gegenteil ergibt sich aus dem Wortlaut der Bauordnung,
dass nur die minimale Dachneigung bestimmt werden wollte, und zwar nur für
die Altstadt (§ 47 Abs. 1 BO) mit 40°. Hätte der Gesetzgeber wirklich
etwas wie "normale Dachneigung" vorschreiben wollen, so hätte er dies
in diesem Zusammenhang sicher getan. Auch die Idee, er sei von einer
"normalen" Haustiefe ausgegangen, findet im Gesetz keine Stütze. In der
Altstadt sind die zu überdachenden Hausflächen sehr verschieden, und es
resultieren daraus auch Dächer von ganz verschiedenen Firsthöhen. Solche
von 9 m sind bestimmt nicht selten. Das Verwaltungsgericht macht denn auch
keinerlei Angaben darüber, was es als Norm betrachtet bzw. was konkret
der Gesetzgeber der Stadt Aarau darunter verstanden haben könnte.

    Es ergibt sich übrigens aus der Bauordnung zweifelsfrei, dass man weder
ausdrücklich noch stillschweigend solche Vorschriften aufstellen wollte. Es
ist ihr unschwer zu entnehmen, welchen Zielen die Dachgestaltung in der
Altstadt dienstbar zu machen sind und welchen nicht. Zu wahren ist nämlich
eindeutig die "bauliche Einheit und Eigenart" dieses Teiles der Stadt,
also ein öffentliches Interesse. Für einen Schutz der Nachbarn fehlt
jeder Anhaltspunkt.

    Das Verwaltungsgericht hätte zu prüfen gehabt, ob die in Frage
stehende Dachgestaltung wirklich der Anforderung der §§ 46 und 47
entspricht und ob nicht hier ein Ermessensfehler begangen oder z.B. der
Begriff der "baulichen Einheit und Eigenart" unrichtig interpretiert
wurde. Es wären demnach die Überlegungen nachzuvollziehen gewesen, welche
die Baubewilligungsbehörde auf Grund der ihr auferlegten Aufgabe der
Harmonisierung der beiden Dächer auf dem Projekt mit der Gesamtheit der
Dächer der Altstadt, insbesondere der unmittelbaren Umgebung, angestellt
hat bzw. hätte anstellen sollen. So hätte man z.B prüfen können, ob
nicht die historische Situation und die Wünschbarkeit einer ästhetischen
Verbindung der beiden offenen Häuserzeilen am Rain und Schanzweg nach
einer Drehung des Firstes rufen würden.

    c) Die dritte Begründung in der Vernehmlassung geht dahin, dass
die "Dachformen" daraufhin zu prüfen seien, ob sie für den Nachbarn
unzumutbare Immissionen bringen, wobei auch wieder von der "normalen
Einwirkung üblicher Dächer" auszugehen sei. Über Immissionen könne das
Verwaltungsgericht gemäss § 56 Abs. 2 lit. f VRPG frei entscheiden.

    Auch diese Begründung findet weder in der Bauordnung von Aarau noch
in der Rechtsprechung, noch in der Literatur eine Stütze. Ein Haus oder
ein Hausteil können keine Immissionen darstellen (BGE 88 II 264 und
334; ZIMMERLIN, BO der Stadt Aarau, S. 195 N. 1; HAAB, Kommentar zu
Art. 684 ZGB N. 11 und 12). Der Versuch, das positive Baupolizeirecht
durch ein unbestimmtes Immissionenrecht zu überspielen, müsste schon
an der Eigentumsgarantie scheitern. Im Verhältnis zwischen Gemeinde
und Kanton liefe der Einbezug der sogenannten negativen Auswirkungen
von Bauten in das Immissionenrecht auf eine weitgehende Entwertung des
Gemeindebaupolizeirechts und damit der Gemeindeautonomie hinaus.

Erwägung 2

    2.- Grenzabstand der Ostfassade:

    Dieser wurde vom Gemeinderat mit 4 m festgelegt. Er ging dabei davon
aus, dass die Ostfassade zum grössern Teil in der Altstadtzone liege, wo
der Gemeinderat die Abstände frei festlege (§ 48 Abs. 2 BO). Er gibt als
wesentliches Kriterium die Wahrung eines Lichteinfallswinkels von 45o,
bezogen auf die unterste Fensterbank der gegenüberliegenden Werkstatt
Hiltbrunner (Kote 382.90), an. Darüber hinaus wurde auf der Ostseite ein
Treppenhaus- und Lift-Vorbau von 6,5 m bzw. 4,1 m Breite und 1,5 m Tiefe
zugelassen. Inbezug auf diesen Fassadenteil ist der Lichteinfallswinkel
von 45° nicht gewahrt.

    Das Verwaltungsgericht betrachtet insbesondere die Bewilligung dieses
Vorbaus als unzulässig. Der Gemeinderat habe sich in seiner Praxis an
die Regel betreffend Gewährleistung eines Lichteinfallswinkels von 45°
gebunden. Von dieser Regel dürfe er nur nach rechtlich beachtlichen
Kriterien abweichen.

    Auch diese Begründung ist offensichtlich unhaltbar. Die Regel, wonach
in der Altstadt ein Lichteinfallswinkel von 45° einzuhalten sei, findet
sich in der Bauordnung nicht. Von einer "Praxis" könne, so führt der
Gemeinderat in seinem Amtsbericht aus, umso weniger gesprochen werden,
als mit dem Lichteinfallswinkel erstmals im vorliegenden Fall operiert
worden sei.

    In Wirklichkeit ist es so, dass die Grenz- und Bauabstände in der
Altstadt offensichtlich mit voller Absicht nicht gleichermassen fixiert
wurden wie in den andern Bauzonen (ZIMMERLIN, aaO S. 186 N. 1). Das
schliesst aus, dass die "Praxis" die starren Regeln aufstellen könnte,
die der Gesetzgeber abgelehnt hat. Die Bauordnung räumt dem Gemeinderat
allerdings nicht völlige Freiheit ein. Er ist an die ratio des ihm
eingeräumten Ermessens gebunden. Diese geht nun sicher nicht dahin,
dass in der Altstadt kleinere Grenz- und Gebäudeabstände zugelassen sind,
weil hier Luft und Licht weniger nötig wären als anderswo, oder dass den
Bauherren in diesem Bereich ein besonderer Vorteil verschafft werden
wollte, sondern nur, dass dem Sachzwang der bestehenden Verhältnisse
Rechnung getragen werden kann. Die Altstadt soll wegen der in der
Kernzone als erforderlich betrachteten Abstände nicht auseinandergerissen
werden müssen. Das Postulat der Sicherstellung genügenden Luft- und
Lichtzutritts wird vor dem der Wahrung der "baulichen Einheit und Eigenart"
zurückgestellt, soweit dies zur Erhaltung der Altstadt unumgänglich ist.

    Richtigerweise hätte das Verwaltungsgericht prüfen müssen, ob und
inwiefern ein Anlass besteht, für diesen Neubau an der Grenze zwischen
Altstadt und Kernzone 1 die Abstände zu verkürzen. Gerade das hat es
unterlassen. Der andern Frage, ob der Gebäudevorsprung als privilegiert
im Sinne des § 25 oder § 75 BO zu behandeln ist, käme daneben mehr eine
sekundäre Bedeutung zu.