Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 IV 34



97 IV 34

9. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 26. April 1971 i.S. Lüthi
gegen Generalprokurator des Kantons Bern. Regeste

    Art. 34 Abs. 3 SVG. Der nach rechts Abbiegende, der einen so weiten
Abstand vom rechten Strassenrand einhält, dass dazwischen genügend Raum
bleibt, um einem nachfolgenden Verkehrsteilnehmer ein rechtsseitiges
Überholen zu erlauben, darf sein Vorhaben erst dann ausführen, wenn er
durch zureichende Vorkehren die Gewissheit erlangt hat, dabei nicht mit
einem nachfolgenden Fahrzeug zusammenzustossen.

Auszug aus den Erwägungen:

    Nach Art. 34 Abs. 3 SVG hat der Fahrzeugführer, der seine Fahrrichtung
ändern will, wie beispielsweise zum Abbiegen, auf den Gegenverkehr
und auf die ihm nachfolgenden Fahrzeuge Rücksicht zu nehmen. Nach der
Rechtsprechung gilt dieses Gebot für jede Richtungsänderung, also auch
bei jedem Abbiegen, gleichgültig, ob nach rechts oder links, in oder
ausserhalb einer Strassenverzweigung abgebogen wird (BGE 91 IV 11). Das
will jedoch nicht heissen, dass der nach rechts abbiegende Fahrzeuglenker
in jedem Falle nicht bloss die Richtungsänderung rechtzeitig ankündigen
(Art. 28 Abs. 1 VRV), sondern sich auch durch geeignete Vorkehren nach
rückwärts vergewissern müsse, ob er das Manöver gefahrlos ausführen
könne. Wo er sich vorschriftsgemäss an den rechten Strassenrand hält
(Art. 34 Abs. 1 und 36 Abs. 1 SVG) und nach rechts abbiegen kann, ohne
zuvor brüsk bremsen (Art. 12 Abs. 2 VRV) oder nach der Gegenseite ausholen
zu müssen (Art. 13 Abs. 5 VRV), besteht keine Veranlassung, ihn vor dem
Abbiegen auch zur Beobachtung des nachfolgenden Verkehrs zu verpflichten;
denn wo nach der Verkehrslage objektiv keine Gefahr besteht, hat der sich
ordnungsgemäss verhaltende Strassenbenützer nach dem Vertrauensgrundsatz
auch nicht mit einer solchen zu rechnen (vgl. Art. 26 Abs. 1 SVG). Darauf
kann sich jedoch nicht berufen, wer eine für andere Verkehrsteilnehmer
unklare oder gefährliche Verkehrslage schafft. Aus diesem Grunde hat die
Rechtsprechung aus den Bestimmungen der Art. 34 Abs. 3 SVG und 13 Abs. 5
VRV abgeleitet, dass der Führer, der vor dem Abbiegen nach rechts nach der
Gegenseite ausholt, sich durch aufmerksame Beobachtung des rückseitigen
Verkehrs, unter Umständen sogar durch Einschalten eines Sicherheitshaltes
vergewissern muss, dass er den nachfolgenden Verkehr durch das Abbiegen
nicht gefährde. Ein solches Manöver schafft nämlich eine Verkehrslage,
bei welcher mit der Möglichkeit zu rechnen ist, dass ein nachfolgendes
Fahrzeug rechts zum Überholen vorstossen werde (BGE 94 IV 79, 91 IV 19).

    Ähnlich verhält es sich dort, wo der nach rechts abbiegende
Fahrzeugführer ohne Not einen so weiten Abstand vom rechten Strassenrand
einhält, dass zwischen diesem und seinem Fahrzeug genügend Raum bleibt, um
einem nachfolgenden Verkehrsteilnehmer, beispielsweise einem Kleinfahrzeug,
ein rechtsseitiges Überholen zu erlauben (BGE 91 IV 21). Dass sich ein
nachfolgender Fahrzeugführer derart verhält, kommt vor allem dort vor,
wo der Vorausfahrende ausserhalb einer Strassenverzweigung nach rechts
abbiegen will oder wo in unmittelbarer Nähe die Fahrbahn in verschiedene
Fahrspuren aufgeteilt wird, d.h. immer dann, wenn Missverständnisse
auftreten können (vgl. BGE 91 IV 12). Deshalb ist der Führer, dessen
Fahrweise beim Nachfolgenden den Eindruck erwecken kann, er beabsichtige,
nach links abzubiegen oder zumindest geradeaus weiterzufahren, während er
tatsächlich nach rechts abzuzweigen gedenkt, verpflichtet, alle Vorsicht
anzuwenden, um allfälligen Gefahren zu begegnen, die sich aus der von
ihm selber geschaffenen unklaren Verkehrslage ergeben können. Er wird
deshalb erst dann nach rechts abbiegen dürfen, wenn er durch zureichende
Vorkehren die Gewissheit erlangt hat, dass er dabei nicht mit einem
nachfolgenden Fahrzeug zusammenstossen werde. Von dieser Pflicht vermag
ihn die rechtzeitige Zeichengebung nicht zu entbinden (Art. 39 Abs. 2
SVG). Die Erfahrung lehrt, dass selbst die ordnungsgemässe Ankündigung
einer Richtungsänderung von nachfolgenden Fahrzeugführern oft nicht
oder zu spät beachtet wird (BGE 91 IV 12). Das aber muss der Führer in
Rechnung stellen, der vor dem Rechtsabbiegen entgegen der Vorschrift des
Art. 34 Abs. 1 SVG nicht möglichst nahe dem Strassenrand entlang fährt
(vgl. Art. 36 Abs. 1 SVG). Auf ein ordnungsgemässes Verhalten der andern
darf im Strassenverkehr nur vertrauen, wer sich selber verkehrsgemäss
verhält (BGE 91 IV 94). Dieser Grundsatz gilt für alle Strassenbenützer,
unbekümmert darum, ob sie vortrittsberechtigt sind oder nicht (vgl. BGE
96 IV 135 mit Verweisungen).