Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 II 1



97 II 1

1. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 25. März 1971
i.S. Eheleute Matter. Regeste

    Gerichtsstand der Scheidungsklage (Art. 144 ZGB).  Massgebend ist der
Wohnsitz des klagenden Ehegatten zur Zeit, da die Klage anhängig gemacht
wird (Erw. 2).

    Wohnsitz (Art. 23 Abs. 1 ZGB). Beim Entscheid darüber, ob sich jemand
mit der Absicht dauernden Verbleibens an einem bestimmten Ort aufhält,
kommt es nicht auf den innern Willen der betreffenden Person, sondern
darauf an, auf welche Absicht die erkennbaren Umstände objektiv schliessen
lassen (Klarstellung der Rechtsprechung). Tat- und Rechtsfrage (Erw. 3,
erster Absatz).

    Wohnsitz eines Ehemannes, der den Ort, wo er mit seiner Familie
lebte, infolge ehelicher Spannungen verlassen und anderwärts eine
Einzimmerwohnung bezogen hat. Vermutung für die Fortdauer des bisherigen
Wohnsitzes. Indizien, die gegen die Begründung eines neuen Wohnsitzes
sprechen (Erw. 3, zweiter Absatz, und Erw. 4).

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    Die Eheleute Matter wohnten von 1951 an in Wädenswil, wo der Ehemann
ein grosses Einfamilienhaus besitzt. Der Ehemann ist freier Mitarbeiter
einer international tätigen Handelsgesellschaft in Zürich. 1965 mietete er
in Zürich eine Einzimmerwohnung, in die er sich nach seiner Darstellung
beim Auftreten ehelicher Spannungen zurückzog. Er lebte jedoch nicht
völlig von seiner Ehefrau getrennt, sondern kehrte von Zeit zu Zeit zu ihr
zurück. Auf den 1. Oktober 1966 will er die Wohnung in Zürich aufgegeben
und das eheliche Zusammenleben wieder aufgenommen haben. Nach einigen
Monaten mietete er aber wieder eine Einzimmerwohnung in Zürich. Nach
einem Streit an Weihnachten 1967 kehrte er nicht mehr in die eheliche
Wohnung zurück.

    Am 18. August 1969 klagte der Ehemann beim Bezirksgericht Horgen,
in dessen Amtskreis Wädenswil liegt, auf Scheidung der Ehe. Obwohl
die Beklagte die örtliche Zuständigkeit des angerufenen Gerichts nicht
bestritt, wies dieses die Klage am 6. Mai 1970 von der Hand, weil der
Kläger seit 1967 nicht mehr in Wädenswil, sondern in Zürich Wohnsitz
habe. Am 24. September 1970 bestätigte das Obergericht des Kantons Zürich
diesen Entscheid.

    Auf Berufung des Klägers hin erklärt das Bundesgericht das
Bezirksgericht Horgen als zuständig.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Für die Scheidungsklage ist nach Art. 144 ZGB der Richter
am Wohnsitz des klagenden Ehegatten zuständig. Massgebend ist dabei
der Wohnsitz, den der klagende Ehegatte zu der Zeit hat, da er die
Klage anhängig macht (BGE 91 II 322 E. 3 mit Hinweisen). Wann die
Rechtshängigkeit eintritt, bestimmt sich nach dem kantonalen Prozessrecht
(vgl. den eben angeführten Entscheid und die dort angeführten frühern
Entscheide). Nach § 121 der zürcherischen ZPO tritt sie mit dem
Einreichen der Weisung des Friedensrichters beim Bezirksgericht ein. Diese
Prozesshandlung erfolgte im vorliegenden Falle am 18. August 1969. Es
kommt also darauf an, wo der Kläger an diesem Tage Wohnsitz hatte.

Erwägung 3

    3.- Der Wohnsitz einer Person befindet sich nach Art. 23 Abs. 1
ZGB an dem Orte, wo sie sich mit der Absicht dauernden Verbleibens
aufhält. Das Bundesgericht hat diese Bestimmung nicht immer gleich
ausgelegt. In mehreren Entscheiden hat die II. Zivilabteilung angenommen,
bei der Absicht dauernden Verbleibens an einem Orte handle es sich um
ein subjektives, inneres Moment, m.a.W. es sei damit die innere Absicht
der betreffenden Person gemeint, an einem Orte dauernd (d.h. nicht
bloss vorübergehend) zu verbleiben; die Feststellungen, welche die
letzte kantonale Instanz auf Grund der Umstände des Falles über eine
solche Absicht treffe, hätten tatsächliche Verhältnisse (den innern
Willen der Person) zum Gegenstand und seien daher gemäss Art. 63
Abs. 2 OG für das Bundesgericht als Berufungsinstanz verbindlich;
zum subjektiven Moment der Absicht des dauernden Verweilens müsse als
objektives Moment die tatsächliche Niederlassung am fraglichen Orte
treten; hiefür sei erforderlich, dass die Person den Ort, wo sie sich
aufhält, zum Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen mache (BGE 91 II 326,
90 II 216 ff. E. 3, 4, 89 II 114/15 E. 1, 77 II 17; vgl. auch BGE 85 II
322 Abs. 1). Zahlreiche andere Entscheide der II. Zivilabteilung, der
Staats- und verwaltungsrechtlichen Abteilung und der Schuldbetreibungs-
und Konkurskammer stellen demgegenüber bei Beurteilung der Frage, ob das
in Art. 23 Abs. 1 ZGB vorgesehene Erfordernis des Aufenthaltes an einem
Orte mit der Absicht dauernden Verbleibens erfüllt sei, einfach darauf ab,
ob nach den gesamten Umständen anzunehmen ist, dass die betreffende Person
den Ort, wo sie - wenn auch nur kurze Zeit - verweilt, zum Mittel- oder
Schwerpunkt ihrer Lebensbeziehungen gemacht hat (BGE 96 II 166 E. 3, 92 I
221 E. 2a, 88 III 138/39, 87 II 10, 83 II 499/500, 82 II 574 vor lit. b,
77 I 118, 69 II 276 und 280, 69 I 12 und 14 oben, 64 II 403, 41 I 453,
38 I 254; vgl. auch BGE 85 II 322 Abs. 2, wo BGE 38 I 254 statt 38 II 254
zitiert sein sollte). Dieser Praxis, die nicht auf den innern Willen,
sondern darauf abstellt, auf welche Absicht die erkennbaren Umstände
objektiv schliessen lassen, ist mit GROSSEN (Schweiz. Privatrecht II
S. 350 f.), dem die Vorinstanz im wesentlichen gefolgt ist, der Vorzug
zu geben. Wo sich der Wohnsitz einer Person befindet, ist nämlich nicht
bloss für diese selbst, sondern vor allem auch für zahlreiche Drittpersonen
und Behörden von Bedeutung (vgl. EGGER N. 8 ff. zu Art. 23 ZGB) und muss
sich daher nach Kriterien bestimmen, die für Dritte erkennbar sind. Die
Feststellungen der letzten kantonalen Instanz über solche Umstände
(zu denen auch das Verhalten der in Frage stehenden Person gehört) sind
im Berufungsverfahren gemäss Art. 63 Abs. 2 OG für das Bundesgericht
verbindlich. Ob aus den festgestellten Umständen objektiv die Absicht
dauernden Verbleibens im Sinne von Art. 23 Abs. 1 ZGB hervorgehe, ist
dagegen eine vom Bundesgericht zu prüfende Rechtsfrage.

    Dass ein Ehemann den Wohnsitz am Orte, wo er mit seiner Familie
gelebt hatte, aufgegeben und anderswo einen neuen Wohnsitz begründet
habe, darf nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts nicht leichthin
angenommen werden. Diese Annahme kann im Hinblick darauf, dass die
Ehefrau nach Art. 25 Abs. 1 ZGB unter Vorbehalt von Art. 25 Abs. 2 von
Gesetzes wegen den Wohnsitz des Ehemannes teilt, namentlich dann Bedenken
wecken, wenn der Ehemann den bisherigen ehelichen Wohnsitz verlässt
und sich an einen andern Ort begibt, ohne Anstalten zu treffen, dort
einen neuen ehelichen Wohnsitz zu begründen, d.h. seine Familie bei sich
aufzunehmen (vgl. das nicht veröffentlichte Urteil der II. Zivilabteilung
vom 3. Oktober 1966 i.S. Eheleute Iselin, E. 2). Bei Prüfung der Frage,
wo der Ehemann bei Eintritt der Rechtshängigkeit einer Scheidungsklage
Wohnsitz gehabt habe und welches Gericht daher gemäss Art. 144 ZGB für
den Scheidungsprozess örtlich zuständig sei, ist aber nach BGE 77 II
17 ausserdem zu berücksichtigen, dass der letzte gemeinsame eheliche
Wohnsitz eigentlich der natürliche Gerichtsstand für die Scheidungsklage
wäre (vgl. hiezu HINDERLING, Das schweiz. Ehescheidungsrecht, 3. Aufl.,
S. 189 FN 4, der hiezu unter Hinweis auf § 606 der deutschen ZPO bemerkt,
de lege ferenda könnte auch an den Ort des letzten gemeinsamen Aufenthalts
gedacht werden). Dass der Scheidungsprozess dort durchführt wird, wo die
Parteien zuletzt miteinander gelebt haben, hat in der Tat starke Gründe der
Zweckmässigkeit für sich; dies jedenfalls dann, wenn einer der Ehegatten
noch an jenem Orte lebt und die Ehegatten dort längere Zeit gelebt haben,
wie es im vorliegenden Falle zutrifft. Auch deshalb ist die Annahme,
der Ehemann habe den Wohnsitz an jenem Orte aufgegeben und anderswo einen
neuen Wohnsitz begründet, beim Entscheid über die örtliche Zuständigkeit
für den Scheidungsprozess von strikten Voraussetzungen abhängig zu
machen. Wenn der Scheidungskläger behauptet, er habe seinen Wohnsitz an
jenem Orte beibehalten, besteht, wie in BGE 77 II 17/18 gesagt, weniger
Grund zum Zweifel an seiner Darstellung, als wenn er an einem andern
Orte klagen will und zu diesem Zwecke behauptet, den Wohnsitz dorthin
verlegt zu haben. "Mangels eines gegenteiligen Nachweises", m.a.W. wenn
sich das Gegenteil nicht klar aus den Umständen ergibt, hat der letzte
eheliche Wohnsitz "als fortbestehendes Domizil des Klägers im Zeitpunkt
der Klageeinreichung zu gelten" (BGE 77 II 18 oben, 91 II 326 unten;
nicht veröffentlichte Urteile vom 5. Mai 1966 i.S. Eheleute Barth, E.
2, vom 3. Oktober 1966 i.S. Eheleute Iselin, E. 3 b, und vom 1. Oktober
1970 i.S. Eheleute Braun, E. 4).

Erwägung 4

    4.- Im vorliegenden Falle war unstreitig Wädenswil der letzte
gemeinsame Wohnsitz der Parteien. An Weihnachten 1967 hat der Kläger
diesen Ort verlassen und ist seither nicht mehr dorthin zurückgekehrt. Er
hält sich seither in Zürich auf und arbeitet dort, sofern er sich nicht
auf Geschäftsreisen im Ausland befindet. Er hat jedoch in Zürich nicht
etwa eine Familienwohnung bezogen und dementsprechend die Beklagte auch
nicht aufgefordert, zu ihm zu ziehen. Vielmehr bewohnt er dort nur eine
Einzimmerwohnung, wie er es, um den ehelichen Spannungen auszuweichen,
schon früher zeitweise getan hatte. Das grosse Haus in Wädenswil, wo die
Beklagte wohnt, gehört heute noch ihm. Dass er nach einer allfälligen
Scheidung dorthin zurückkehren werde, steht nach den Feststellungen
der Vorinstanz freilich nicht fest. Anderseits kann aber mit Rücksicht
auf seinen bisherigen Lebensstandard nach der Lebenserfahrung nicht
angenommen werden, dass er sich auf die Dauer mit einer - möblierten
- Einzimmerwohnung begnügen wird, in der er weder Freunde noch
Geschäftskunden in angemessener Weise empfangen und bewirten kann. Er hat
sich also in Zürich bloss provisorisch niedergelassen. Dass dieser Zustand
bei Eintritt der Rechtshängigkeit der Scheidungsklage bereits mehr als
anderthalb Jahre gedauert hatte und dass seine Einzimmerwohnung mit einem
Telephonanschluss versehen ist, ändert am provisorischen Charakter dieser
Niederlassung nichts. Nach den Umständen zu schliessen, will er sich die
Wahl einer nicht bloss als vorübergehend gedachten neuen Niederlassung
- sei es an seinem Arbeitsorte Zürich, sei es in der Umgebung dieser
Stadt oder anderwärts - bis zur Klärung seines ehelichen Verhältnisses
vorbehalten. Selbst wenn man annehmen will, er habe durch den Wegzug
und das seit Ende 1967 andauernde Fernbleiben von Wädenswil den dortigen
Wohnsitz aufgegeben, lässt sich also auf jeden Fall nicht sagen, aus den
Umständen ergebe sich mit der nach der Rechtsprechung erforderlichen
Klarheit, dass er Zürich zum Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen
gemacht und deshalb dort Wohnsitz habe, sondern ist anzunehmen, der
Wohnsitz in Wädenswil habe, obwohl faktisch aufgegeben, bei Einleitung
der Scheidungsklage mangels Begründung eines neuen Wohnsitzes gemäss
Art. 24 Abs. 1 ZGB fortbestanden.

    Dass der Kläger Zürich zum Lebensmittelpunkt gemacht habe, kann um
so weniger angenommen werden, als er Vorkehren unterlassen hat, die in
diesem Falle nahegelegen hätten. Er hat sich bei der Einwohnerkontrolle von
Wädenswil nicht abgemeldet und erfüllt demgemäss seine Steuerpflicht immer
noch in Wädenswil, obwohl der Steuersatz in den letzten Jahren in Zürich
merklich niedriger war als in Wädenswil. Wo die Ausweisschriften hinterlegt
sind und die Steuern bezahlt werden, ist zwar für die Beurteilung der
Wohnsitzfrage nicht allein entscheidend (BGE 92 I 221 E. 2a, 90 I 28/29,
88 III 139 E. 1 a.E., 87 II 10, 69 I 13/14, 41 I 454). Es kann darin aber
immerhin ein Indiz liegen, das bei Prüfung der Frage, wo eine Person ihren
Lebensmittelpunkt habe, neben andern Umständen in Betracht gezogen werden
darf (vgl. BGE 77 I 119). Im vorliegenden Falle bildet die Tatsache, dass
der Kläger seinem finanziellen Interesse zuwider in Wädenswil gemeldet und
steuerpflichtig geblieben ist, in Verbindung mit den bereits gewürdigten
Umständen ein beachtliches Indiz gegen die Annahme, er habe seinen
Wohnsitz nach Zürich verlegt. Das gleiche gilt auch für die Tatsache,
dass er in Horgen geklagt hat, obwohl es für ihn und für seinen Anwalt
bequemer gewesen wäre, in Zürich zu prozessieren.

    Die von den kantonalen Gerichten erwähnte Äusserung des Klägers bei
der persönlichen Befragung durch das Bezirksgericht, er sei wegen der
Steuern noch in Wädenswil gemeldet, habe aber sonst keine Beziehungen
mehr zu diesem Ort, vermag am Ergebnis der bisherigen Erwägungen nichts
zu ändern. Die Beziehungen des Klägers zu Wädenswil beschränkten sich
nach seiner unbestrittenen Darstellung stets darauf, dass er dort eine
Villa besass, mit seiner Familie dort wohnte und dort Steuern zahlte;
mit der Bevölkerung und den Dorfvereinen hatte er nie Kontakt. Mit seinem
Wegzug hat sich also an seinen Beziehungen zu Wädenswil abgesehen davon,
dass er sein dortiges Haus nicht mehr benützte, nichts geändert.

    Der Wohnsitz des Klägers befand sich nach alledem bei Eintritt
der Rechtshängigkeit seiner Scheidungsklage nicht in Zürich, sondern
Wädenswil hatte immer noch als sein Wohnsitz zu gelten. Die Klage ist
daher zu Recht beim Bezirksgericht Horgen angebracht worden.