Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 III 3



97 III 3

2. Entscheid vom 25. Januar 1971 i.S. D. Regeste

    Widerruf von Verfügungen. Art. 17 ff. SchKG.

    Ein Betreibungs- oder Konkursamt kann eine von ihm getroffene Verfügung
(gleichgültig, ob sie nichtig oder bloss anfechtbar ist) nicht mehr
selber aufheben, sobald dagegen Beschwerde erhoben worden ist und diese
ihren vollen Devolutiveffekt entfaltet hat. Ein solcher Widerruf ist
nichtig, auch wenn er auf Veranlassung der mit der Beschwerde befassten
Aufsichtsbehörde erfolgte; es liegt an dieser, ordnungsgemäss über die
Beschwerde zu entscheiden (Erw. 2 und 3). Einschreiten des Bundesgerichts
von Amtes wegen (Erw. 1 b).

Sachverhalt

    A.- In der von B. gegen D. gerichteten Betreibung für
Unterhaltsbeiträge vollzog das Betreibungsamt am 9. September 1970
eine Pfändung, wobei es kein pfändbares Vermögen feststellte und auch
die Pfändbarkeit künftigen Lohnes verneinte. Dagegen beschwerte sich
B. bei der untern Aufsichtsbehörde und verlangte eine Neuberechnung
des Existenzminimums des Schuldners und allenfalls einen Eingriff in
dieses. Das Betreibungsamt nahm in einer Vernehmlassung zur Beschwerde
Stellung, und die Beschwerdeführerin durfte sich ihrerseits zur
Vernehmlassung äussern. Die Aufsichtsbehörde gab dem Betreibungsamt
auch von dieser Replik Kenntnis und ersuchte es gleichzeitig, die in den
Eingaben der B. enthaltenen Einwände nochmals zu prüfen und allenfalls
eine neue Pfändungsurkunde zu erlassen, da die Beschwerde "voraussichtlich
mindestens teilweise geschützt werden müsste". Das Betreibungsamt kam
dieser Aufforderung nach und führte am 15. Oktober 1970 eine neue Pfändung
durch, in der es nicht nur einen inzwischen zum Vorschein gekommenen
Personenwagen, sondern auch noch Fr. 236.55 vom monatlichen Einkommen
des Schuldners pfändete, letzteres in ausdrücklicher Abänderung der
ursprünglichen Verfügung.

    B.- Gegen diese zweite Pfändung erhob nun der Schuldner seinerseits
Einsprache und schrieb am 24. Oktober 1970 an die untere Aufsichtsbehörde:

    "Betrifft Beschwerde! Betreibung Nr. 6168. Da mir die Pfändung und
Lohnpfändung ungerechtfertigt erscheint, möchte ich Sie um eine mündliche
Unterredung bitten".

    Von der Aufsichtsbehörde darauf aufmerksam gemacht, dass das
"Beschwerdeverfahren" grundsätzlich schriftlich geführt werde und dass in
der Eingabe konkret angegeben werden müsse, welche Punkte nach Ansicht des
Beschwerdeführers gesetzwidrig seien, liess dieser innert der ihm gesetzten
fünftätigen Nachfrist am 3. November 1970 noch eine Begründung folgen.

    C.- Mit Entscheid vom 9. Dezember 1970 schrieb die untere
Aufsichtsbehörde die Beschwerde der B. (vgl. lit. A) als durch die zweite
Pfändung gegenstandslos geworden ab. In der Begründung nahm sie auch
Bezug auf die beiden Zuschriften des Schuldners vom 24. Oktober und 3.
November (vgl. lit. B) und führte aus, jene vom 24. Oktober stelle keine
Beschwerde dar, da sie weder einen bestimmten Antrag noch eine Begründung
enthalte; indessen könne sie, zusammen mit der Ergänzung vom 3. November,
als Vernehmlassung im Beschwerdeverfahren der Gläubigerin B. betrachtet
werden.

    D.- Gegen diesen Entscheid rekurrierte der Schuldner an die obere
kantonale Aufsichtsbehörde, die den Rekurs am 5. Januar 1971 abwies. Auch
sie sah in der ersten Eingabe vom 24. Oktober keine Beschwerde, sondern
bloss ein Begehren um Gewährung einer Unterredung. Hingegen war sie
der Meinung, die zweite Eingabe vom 3. November besitze offensichtlich
Beschwerdecharakter, doch sei es fraglich, ob sie allen formellen
Erfordernissen genüge; auf jeden Fall sei sie verspätet.

    E.- Mit rechtzeitig eingelegtem Rekurs verlangt der Schuldner
Überprüfung der Sache durch das Bundesgericht.

Auszug aus den Erwägungen:

    Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) ... (Nichteintreten auf einen unzulässigen Antrag).

    b) Abgesehen von diesem unzulässigen Vorbringen stellt der
Rekurrent keinen ausdrücklichen Antrag und rügt bloss andeutungsweise
das erstinstanzliche Beschwerdeverfahren als mangelhaft. Es ist deshalb
fraglich, ob der Rekurs überhaupt den Vorschriften von Art. 79 OG
genügt. Da jedoch - wie anschliessend zu erläutern sein wird - das
kantonale Verfahren infolge teilweiser Nichtigkeit der angefochtenen
(zweiten) Pfändungsverfügung und wegen der von den beiden Vorinstanzen
begangenen Fehler ohnehin von Amtes wegen aufgehoben werden muss (vgl. dazu
BGE 94 III 67 Erw. 2), braucht dies nicht näher geprüft zu werden. Offen
bleiben kann demnach auch die Frage, ob die Eingabe des Rekurrenten vom
24. Oktober 1970 an die untere Aufsichtsbehörde eine Beschwerde darstelle
oder nicht.

Erwägung 2

    2.- Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichts kann ein
Betreibungs- oder Konkursamt eine von ihm getroffene Verfügung selber
nur so lange wieder aufheben, als die Beschwerdefrist des Art. 17 SchKG
noch nicht abgelaufen ist; nachher ist dies nur noch bei einer nichtigen
Verfügung möglich (BGE 88 III 14 mit Hinweisen). Aber selbst im Falle
der Nichtigkeit kann das Amt nach Ablauf der Beschwerdefrist nicht
mehr auf seine Verfügung zurückkommen, wenn dagegen eine Beschwerde
erhoben worden ist und diese ihren vollen Devolutiveffekt entfaltet
hat, was nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts spätestens mit dem
Eingang der Vernehmlassung des Amtes zu dieser Beschwerde anzunehmen ist
(BGE 78 III 52; vgl. auch FRITZSCHE, Schuldbetreibung und Konkurs, Bd. I
2. A. S. 51/52). Denn ein Widerruf der angefochtenen Verfügung durch das
Amt selber stellt in diesem Stadium des Verfahrens einen unzulässigen
Eingriff in den ordnungsgemässen Beschwerdegang dar und ist geeignet,
die Beteiligten zu verwirren; er ist wegen Fehlens der entsprechenden
Befugnis des Betreibungsamtes als schlechterdings ungültig, d.h. als
nichtig zu betrachten (BGE 78 III 53).

    Im vorliegenden Falle wurde nicht eine nichtige Verfügung aufgehoben,
sondern bloss eine anfechtbare (die erste Pfändung), und dies erst
nach Ablauf der Beschwerdefrist, ja sogar erst nach Abschluss des
Vernehmlassungsverfahrens. Ist nun nach dem Gesagten jeder Widerruf einer
nichtigen Verfügung in diesem Stadium ungültig, so muss dies umso mehr
noch für das Aufheben oder Abändern einer bloss anfechtbaren Anordnung
gelten, wie das hier der Fall ist.

    Die untere Aufsichtsbehörde hätte also richtigerweise auf
ihrer ausschliesslichen Entscheidungsbefugnis beharren und nicht das
beschwerdebeklagte Amt zur Abänderung der Pfändung veranlassen sollen. Da
diese Änderung nichtig ist, entbehrt der Abschreibungsbeschluss jeder
Grundlage; folglich ist er aufzuheben.

Erwägung 3

    3.- Was das Vorgehen der Vorinstanz anbetrifft, so hätte sie auf
den Rekurs des Schuldners hin die Nichtigkeit der vom Betreibungsamt
vorgenommenen Abänderung der Pfändung (Neuberechnung des pfändbaren
Einkommens des Schuldners) feststellen sollen. Anschliessend wären ihr zwei
Wege offengestanden: entweder hätte sie die Sache an die erste Instanz
zurückweisen können, damit diese einen formgerechten Sachentscheid über
die Beschwerde der Gläubigerin (die die ursprüngliche Pfändung anfocht)
fälle; oder sie hätte mit Rücksicht auf die von der untern Aufsichtsbehörde
dem Abschreibungsbeschluss beigefügten materiellen Erwägungen, in denen
die revidierte Lohnpfändung als gerechtfertigt bezeichnet wird, selber
in der Sache entscheiden und sich darüber aussprechen können, wie die
erste Pfändung hätte ausfallen sollen. Aufgrund des heutigen Entscheides,
mit dem derjenige der Vorinstanz aufzuheben ist, wird sich die kantonale
Aufsichtsbehörde schlüssig werden müssen, welchen dieser beiden Wege sie
beschreiten will (ähnlich auch BGE 78 III 53 Erw. 2). Im einen wie im
andern Fall werden die vom Schuldner gegen die Pfändung seines Lohnes
erhobenen Einwendungen näher zu prüfen sein.

    Soweit sich die während des erstinstanzlichen Verfahrens vollzogene
zweite Pfändung auf das eine der beiden Fahrzeuge des Schuldners bezog,
handelt es sich um eine ordnungsgemäss durchgeführte Nachpfändung, die von
der Nichtigkeitsfolge nicht erfasst wird und daher aufrechtzuerhalten ist.

Entscheid:

Demnach erkennt die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer:

    Der Rekurs wird - soweit darauf eingetreten werden kann - gutgeheissen,
der Entscheid der Kantonalen Aufsichtsbehörde für Schuldbetreibung
und Konkurs des Kantons St. Gallen vom 5. Januar 1971 sowie die
erstinstanzliche Abschreibungsverfügung aufgehoben und die Sache zur neuen
Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.