Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 97 III 28



97 III 28

8. Entscheid vom 4. März 1971 i.S. T.

AG Regeste

    1.  Anspruch der Gläubiger auf Ausstellung eines Verlustscheins
(Art. 149 SchKG) im Falle, dass der Schuldner die gepfändeten Gegenstände
an unbekannte Dritte verkauft und ins Ausland wegzieht (Erw. 2).

    2.  Liegt darin, dass das Betreibungsamt eine bestimmte
Massnahme (z.B. die Ausstellung eines Verlustscheins) ablehnt, eine
Rechtsverweigerung, derentwegen nach Art. 17 Abs. 3 SchKG jederzeit
Beschwerde geführt werden kann, oder eine Verfügung im Sinne von Art. 17
Abs. 1 und 2 SchKG, die mit dem unbenützten Ablauf der Beschwerdefrist
des Art. 17 Abs. 2 SchKG rechtskräftig wird? (Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- Am 10. Mai 1962 schrieb das Betreibungsamt Biel den
Pfändungsgläubigern des Heinrich B., zu denen die T. AG als Gläubigerin
in den Betreibungen Nr. 7744 und 9400 gehörte, der Schuldner habe
seinen Hausrat samt den im Mai/Juli 1961 gepfändeten Gegenständen, deren
Verwertung verlangt worden war, verkauft und sei nach Italien weggezogen;
wer einen Verlustschein wünsche, solle das dem Amt mitteilen.

    Als die T. AG am 8. November 1962 die Ausstellung eines Verlustscheins
verlangte, antwortete ihr das Amt am 13. November 1962, es könne diesem
Gesuch nicht entsprechen, weil "die Pfändung am 13. Juli 1962 bzw. am
3. Juni 1962 verjährt" sei. (Am 3. Juni bzw. 13. Juli 1962 war in den
Betreibungen Nr. 7744 und 9400 die Frist für das Verwertungsbegehren
abgelaufen). Auf ein Wiedererwägungsgesuch vom 16. November 1962 hin
teilte das Amt der T. AG am 22. November 1962 neuerdings mit, es könne
ihrem Gesuch keine Folge geben.

    B.- Am 5. November 1970 ersuchte die T. AG von neuem um Ausstellung
eines Verlustscheins für die Betreibung Nr. 7744. Am 10. November 1970
entsprach das Betreibungsamt diesem Gesuch (Verlustbetrag Fr. 1'444.20).

    Gestützt auf diesen Verlustschein stellte die T. AG beim Betreibungsamt
Lugano II, in dessen Amtskreis B. heute wohnt, das Begehren um
Fortsetzung der Betreibung. Nach Zustellung der Pfändungsankündigung
gab das Betreibungsamt Lugano II dem Schuldner auf eine Erkundigung
hin vom Verlustschein Kenntnis. Hierauf führte der Schuldner gegen das
Betreibungsamt Biel Beschwerde mit dem Antrag, der Verlustschein sei
aufzuheben. Mit Rücksicht auf diese Beschwerde sah das Betreibungsamt
Lugano vom Vollzug der angekündigten Pfändung ab.

    Am 15. Februar 1971 hiess die Aufsichtsbehörde in Betreibungs-
und Konkurssachen für den Kanton Bern die Beschwerde gut, weil die
Verfügung des Betreibungsamtes Biel vom 22. November 1962, es werde kein
Verlustschein ausgestellt, innert der Frist von Art. 17 Abs. 2 SchKG
nicht angefochten worden und daher rechtskräftig geworden sei.

    C.- Diesen Entscheid hat die T. AG an das Bundesgericht weitergezogen
mit dem Antrag auf Abweisung der Beschwerde des Schuldners. Sie macht
geltend, die Verfügung des Betreibungsamtes vom November 1962 sei nicht
rechtskräftig geworden; es handle sich hier um eine Rechtsverweigerung,
gegen die nach Art. 17 Abs. 3 SchKG jederzeit hätte Beschwerde geführt
werden können.

    Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer weist den Rekurs ab.

Auszug aus den Erwägungen:

Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- (Rechtzeitigkeit der Beschwerde).

Erwägung 2

    2.- Da der Schuldner die gepfändeten Gegenstände verkauft hatte
und infolge seines Wegzugs ins Ausland nicht darüber befragt werden
konnte, wer die Käufer seien, so dass es auch nicht möglich war,
die Frage des gutgläubigen Besitzerwerbs (Art. 96 Abs. 2 SchKG) in
einem Widerspruchsverfahren (BGE 58 III 179 ff.) abzuklären, blieb dem
Betreibungsamt Biel seinerzeit nichts anderes übrig, als die hängigen
Betreibungsverfahren abzuschliessen. Es hätte den zu Verlust gekommenen
Pfändungsgläubigern wie im Falle einer fruchtlosen Pfändung (Art. 115
Abs. 1 SchKG) oder einer Verwertung mit ungenügendem Erlös Verlustscheine
ausstellen sollen, und zwar von Amtes wegen (vgl. BLUMENSTEIN, Handbuch
des schweizerischen Schuldbetreibungsrechtes, S. 500; JAEGER, N. 3 zu
Art. 149 SchKG; FAVRE, Droit des poursuites, 2. Aufl., S. 247). Nachdem
es die Ausstellung von Verlustscheinen in seinem Zirkular an die
Pfändungsgläubiger vom 10. Mai 1962 wohl mit Rücksicht auf die Kosten
dieser Urkunden von einem dahin gehenden Begehren abhängig gemacht hatte,
hätte es dem Gesuch, das die Rekurrentin am 8. November 1962 stellte,
ohne weiteres entsprechen sollen. Die Betreibungen Nr. 7744 und 9400 (von
denen nur die erste Gegenstand des vorliegenden Beschwerdeverfahrens ist)
waren mit dem Ablauf der Frist für das Verwertungsbegehren (Art. 116
SchKG), die im Juni bzw. Juli 1962 zu Ende gegangen war, nicht etwa
gemäss Art. 121 SchKG erloschen; denn die Rekurrentin hatte rechtzeitig
die Verwertung verlangt und dieses Begehren nicht zurückgezogen. Indem
die Rekurrentin die Ausstellung eines Verlustscheins nicht sofort nach
Erhalt des Zirkulars vom 10. Mai 1962, sondern erst am 8. November 1962
verlangte, hat sie den Anspruch auf einen Verlustschein nicht verwirkt und
auch nicht auf die Ausstellung eines solchen verzichtet. Sie hätte den
Anspruch auf einen Verlustschein auch durch ein längeres Zuwarten nicht
eingebüsst. Ein Gläubiger, der keinen Verlustschein erhält, obwohl die
Voraussetzungen dafür erfüllt sind, kann grundsätzlich jederzeit verlangen,
dass das Amt das Versäumte nachhole (BLUMENSTEIN aaO S. 500). Durch langes
Zuwarten verliert der Gläubiger abgesehen davon, dass die in Betreibung
gesetzte Forderung während dieser Zeit verjähren kann, in der Regel nur
die in Art. 149 Abs. 3 SchKG vorgesehene Befugnis, den Schuldner ohne neuen
Zahlungsbefehl zu betreiben (BGE 33 I 673 f. = Sep. ausg. 10 S. 204 ff.;
JAEGER, N. 6 zu Art. 149 SchKG).

Erwägung 3

    3.- Es war demnach gesetzwidrig, dass das Betreibungsamt Biel
der Rekurrentin im Jahre 1962 keinen Verlustschein ausstellte Hätte
die Rekurrentin binnen zehn Tagen nach Erhalt der Mitteilung des Amtes,
dass es den verlangten Verlustschein nicht ausstellen könne, Beschwerde
geführt, so hätte das Amt folglich angewiesen werden müssen, ihrem Begehren
zu entsprechen.

    Eine solche Beschwerde hat die Rekurrentin jedoch unterlassen. Bei
dieser Sachlage durfte das Betreibungsamt Biel auf seinen Bescheid vom
13./22. November 1962, mit dem es die von der Rekurrentin verlangte
Massnahme in bestimmter Form abgelehnt hatte, nur zurückkommen, wenn
darin eine Rechtsverweigerung im Sinne von Art. 17 Abs. 3 SchKG lag,
die jederzeit durch Beschwerde gerügt und daher vom Amt auch jederzeit
wiedergutgemacht werden konnte, oder wenn seine Verfügung schlechthin
nichtig war (zum Widerruf nichtiger Verfügungen durch das Amt selbst
vgl. BGE 78 III 51, 88 III 14/15). Andernfalls wurde seine Verfügung
rechtskräftig und unwiderruflich.

    a) Unter Rechtsverweigerung im Sinne von Art. 17 Abs. 3 SchKG
versteht die Rechtsprechung des Bundesgerichts, nachdem sie anfänglich
auch willkürliche Massnahmen des Amtes unter diesen Begriff gezogen
hatte (vgl. z.B. BGE 22 S. 265), seit dem Entscheide BGE 29 I 111 f. =
Sep.ausg. 6 S. 45 f. in Übereinstimmung mit der Praxis, die seinerzeit
der Bundesrat befolgt hatte, nur die sog. formelle Rechtsverweigerung,
d.h. die ausdrückliche oder stillschweigende Weigerung des Amtes, eine
ihm obliegende Handlung vorzunehmen (vgl. ausser dem eben angeführten
Entscheid die Entscheide BGE 30 I 186 und 417, 31 I 337 und 741, 32
I 183, 36 I 111, 38 I 198 = Sep.ausg. 7 S. 42 und 157, 8 S. 129 und
287, 9 S. 11, 13 S. 29, 15 S. 12; BGE 79 III 73; BLUMENSTEIN, S. 79;
JAEGER, N. 12 zu Art. 17 SchKG; FAVRE, S. 64; FRITZSCHE, Schuldbetreibung
und Konkurs I, S. 44). Hinsichtlich der Frage, ob auch dann jederzeit
Beschwerde wegen Rechtsverweigerung geführt werden kann, wenn das Amt
eine bestimmte Massnahme durch eine ausdrückliche, mit einer Begründung
versehene Verfügung abgelehnt hat, ist die Rechtsprechung nicht einheitlich
(vgl. einerseits BGE 49 III 177, 63 III 51, 78 III 23, 80 III 24, wonach
in einem solchen Falle grundsätzlich keine Rechtsverweigerung im Sinne
von Art. 17 Abs. 3 SchKG vorliegt, sondern innert der zehntägigen Frist
des Art. 17 Abs. 2 SchKG Beschwerde zu führen ist; anderseits BGE 77 III
85 f., wo ausgeführt wird, es sei "nicht als Regel anzuerkennen, dass eine
Rechtsverweigerung, sobald sie in einer ausdrücklichen Verfügung enthalten
ist, nicht mehr jederzeit gemäss Art. 17 Abs. 3 SchKG angefochten werden
könne"; vielmehr dürfe das nach dieser Vorschrift bestehende unbefristete
Beschwerderecht "nur aus besondern Gründen ausnahmsweise befristet werden";
ob man es mit einer Sachentscheidung oder mit Rechtsverweigerung zu tun
habe, sei mitunter fraglich, wenn das Amt eine Massnahme ablehnt, die es
unter bestimmten durch Gesetz oder Verordnung geregelten Voraussetzungen
von Amtes wegen zu treffen hat; wenn das Amt in einem solchen Falle untätig
bleibe oder sich auf Ansichtsäusserungen beschränke, könne jederzeit wegen
Rechtsverweigerung oder -verzögerung Beschwerde geführt werden; "Lehnt das
Amt die Massnahme dagegen ausdrücklich ab, indem es deren Voraussetzungen
verneint, so ist dies unter Umständen als Sachentscheidung zu betrachten,
die nicht unbefristeter Anfechtung ausgesetzt zu werden verdient"; ferner
BGE 85 III 9, wo es heisst, als Verfügung gelte auch die Ablehnung einer
von Beteiligten verlangten oder sonstwie in Betracht kommenden Anordnung
oder Massnahme, sofern die Ablehnung ausdrücklich ausgesprochen wird oder
sich aus dem Vorgehen des Betreibungsamtes unzweifelhaft ergibt; mit der
eindeutigen Ablehnung aus bestimmten Gründen habe das Amt eine Entscheidung
getroffen, was den Vorwurf der Rechtsverweigerung ausschliesse; "Freilich
stellt selbst eine ausdrückliche Ablehnung nicht in jedem Fall eine der
Rechtskraft fähige Sachentscheidung dar. Stützt sie sich auf gar keine oder
jedenfalls auf keine sachlichen Gründe, so bleibt die Rechtsverweigerung
bestehen...").

    Es kann sich fragen, ob an dem eben wiedergegebenen Vorbehalt auch
künftig festgehalten werden soll, obwohl die Wendung "keine sachlichen
Gründe" an die aufgegebene frühere Praxis erinnert, die neben der
formellen Rechtsverweigerung auch die Willkür unter Art. 17 Abs. 3 SchKG
zog. Diese Frage braucht jedoch im vorliegenden Falle nicht umfassend
geprüft zu werden. Lehnt das Amt eine bestimmte Massnahme durch eine
ausdrückliche, schriftlich erlassene und den Beteiligten (oder wenigstens
dem Gesuchsteller) mitgeteilte Verfügung eindeutig ab, so bleibt der
an der abgelehnten Massnahme interessierten Partei das Recht, wegen
Rechtsverweigerung zu beliebiger Zeit Beschwerde zu führen, höchstens
dann erhalten, wenn das Amt seine Weigerung überhaupt nicht begründet
(vgl. BGE 80 III 135: "senza indicazione dei motivi") oder wenn die vom
Amt angeführten Gründe mit den Voraussetzungen, von denen das Gesetz die
in Frage stehende Massnahme abhängig macht, klarerweise absolut nichts
zu tun haben (vgl. den Fall BGE 77 III 79 ff., 86, wo das Konkursamt
die Abtretung nach Art. 260 SchKG eines streitigen Rechtsanspruchs der
Masse nicht aus Gründen des von ihm anzuwendenden Konkursrechts, sondern
lediglich deshalb abgelehnt hatte, weil es den Anspruch für materiell
nicht gerechtfertigt hielt). Lehnt das Amt die Massnahme dagegen unter
Berufung auf bestimmte Gründe des Verfahrensrechts ab, so liegt darin
stets eine Verfügung, die - wenn sie nicht öffentliche Interessen oder
Interessen Dritter verletzt und daher schlechthin nichtig ist - nur innert
der Frist des Art. 17 Abs. 2 SchKG angefochten werden kann, selbst wenn die
angeführten Gründe ganz unhaltbar sind. So verhält es sich im vorliegenden
Falle, wo das Betreibungsamt die Ausstellung eines Verlustscheins mit der
- offensichtlich unrichtigen - Begründung abgelehnt hat, die Pfändung sei
"verjährt", d.h. die Betreibung sei erloschen, was zutreffendenfalls die
Nichtausstellung eines Verlustscheins hätte rechtfertigen können.

    b) Schlechterdings nichtig war die Verfügung des Betreibungsamtes
Biel vom November 1962 nicht, weil die Verweigerung der Ausstellung eines
Verlustscheins weder öffentliche Interessen noch Interessen am Verfahren
nicht beteiligten Dritter verletzte, sondern nur die Interessen der
Rekurrentin beeinträchtigte.

    Die damalige Verfügung des Betreibungsamtes wurde also mit
dem unbenützten Ablauf der Beschwerdefrist des Art. 17 Abs. 2 SchKG
rechtskräftig, so dass das Betreibungsamt dem neuen Gesuch um Ausstellung
eines Verlustscheins, das die Rekurrentin im Jahre 1970 stellte, nicht
hätte entsprechen sollen. Die Vorinstanz hat daher den Verlustschein vom
10. November 1970 mit Recht aufgehoben.