Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 96 V 91



96 V 91

25. Auszug aus dem Urteil vom 30. Juni 1970 i.S. Bundesamt für
Sozialversicherung gegen R. und Versicherungsgericht des Kantons Luzern
Regeste

    Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG: Über die Anrechnung von Einkünften und
Vermögenswerten, auf die zur Erwirkung von Ergänzungsleistungen verzichtet
worden ist.

    Das Fehlen einer Rechtspflicht oder adäquater Gegenleistungen für
den Verzicht auf Einkommen oder Vermögen erlaubt nicht ohne weiteres
den Schluss auf eine Umgehungsabsicht, insbesondere dann nicht, wenn die
unter der Herrschaft des ELG vorgenommene Verzichtshandlung die sicher
ohne dolose Absicht begonnene Vermögensabtretung nur fortsetzt.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Als Einkommen ist bei der Berechnung der Ergänzungsleistungen
gemäss Art. 3 Abs. 1 lit. b ELG u.a. anzurechnen ein Fünfzehntel des
Reinvermögens, soweit es bei Alleinstehenden Fr. 15 000.-- übersteigt. Zum
Einkommen gehören auch Einkünfte und Vermögenswerte, "auf die zur Erwirkung
von Ergänzungsleistungen verzichtet worden ist" (Art. 3 Abs 1 lit. f ELG).

    In EVGE 1967 S. 181 ist festgestellt worden, einer extensiven Auslegung
der letztgenannten Bestimmung stehe nichts entgegen, weil sie "lediglich
die Kodifikation des allgemeinen rechtlichen Grundsatzes darstellt, dass
niemand durch Umgehungshandlungen eine bestimmte verwaltungsrechtliche
Lösung herbeiführen darf, die bei normalem Lauf der Dinge unter den
gegebenen Umständen nicht eintreten dürfte". Eine Umgehungshandlung im
Sinne von Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG erachtet die Praxis schon dann als
gegeben, wenn der Versicherte zum Verzicht rechtlich nicht verpflichtet
war, keine adäquate Gegenleistung dafür erhalten hat und aus den Umständen
geschlossen werden kann, der Gedanke an eine Ergänzungsleistung habe
wenigstens mitgespielt (vgl. EVGE 1967 S. 115, 182, 261 f.). Eine in diesem
Rahmen zu erfassende Umgehungshandlung kann selbst dann vorliegen, wenn
für den Verzicht der Gedanke an Zusatzleistung gemäss alter kantonaler
Regelung mitbestimmend war (vgl. EVGE 1967 S. 181).

    Die im Kanton Luzern hinsichtlich dieser Frage getroffene Regelung hält
sich im wesentlichen an die erwähnten bundesrechtlichen Grundsätze. §
4 Abs. 1 Ziff. 6 ELG/LU verlangt die Anrechnung von Einkünften und
Vermögenswerten, auf die zur Erwirkung von Ergänzungsleistungen verzichtet
worden ist, und die §§ 5 lit. f und 6 lit. b ELV/LU stellen fest,
ein Verzicht auf Einkünfte oder Vermögenswerte werde dann als gegeben
erachtet, wenn er ohne Rechtspflicht oder ohne einen anderen zwingenden
Grund erfolgte.

Erwägung 2

    2.- Im vorliegenden Falle hat das Sozialamt bezüglich der seit dem
Inkrafttreten des ELG dahingegebenen Vermögenswerte den Tatbestand des
Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG als erfüllt betrachtet. Nach der Meinung des
Bundesamtes für Sozialversicherung ist sogar nicht auszuschliessen,
dass der Gedanke der Erwirkung einer Versicherungsleistung schon seit
Einführung der zusätzlichen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenbeihilfe
im Kanton Luzern im Jahre 1962 eine Rolle gespielt haben könnte. Weder
die eine noch die andere dieser Auffassungen trägt jedoch dem Umstand
Rechnung, dass für die Anwendung des Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG das Fehlen
einer adäquaten wirtschaftlichen Gegenleistung oder eines zwingenden
Grundes für den Verzicht nicht alleiniges Kriterium sein kann. Ist
einerseits die fragliche Bestimmung als Kodifikation eines allgemeineren
Grundsatzes extensiv auszulegen, so ist andererseits das Vorliegen einer
Umgehungsabsicht im Einzelfall nicht leichthin anzunehmen. Diesen in
der kantonalen Regelung nicht ausdrücklich aufgeführten Gesichtspunkt
hat die Vorinstanz zu Recht berücksichtigt. Er findet sich übrigens
auch in der dritten der oben erwähnten, von der Praxis formulierten
Voraussetzungen. Erforderlich ist also, dass die Umstände, unter welchen
der Verzicht erfolgte, derart sind, dass die Summe der übrigen Motive
für die fragliche Handlung nicht ausreicht, um die sich beim Fehlen einer
Rechtspflicht oder einer adäquaten Gegenleistung aufdrängende Vermutung der
Umgehungsabsicht ausreichend zurückzudrängen. Dies wird namentlich dann der
Fall sein, wenn das Gesuch um Ergänzungsleistungen schon verhältnismässig
kurze Zeit nach der Verzichtshandlung eingereicht wird.

Erwägung 3

    3.- Unbestritten ist, dass der Beschwerdegegner den grössten Teil
seines Vermögens seinen Kindern überlassen hat, ohne rechtlich dazu
verpflichtet gewesen zu sein und ohne eine Gegenleistung dafür erhalten
zu haben. Die Umstände, unter welchen diese Vermögenshingabe erfolgte,
sind aber nach Meinung des kantonalen Richters nicht derart, dass mit
Wahrscheinlichkeit angenommen werden darf, sie sei vom Gedanken an
Ergänzungsleistungen mitbestimmt gewesen. Er hat entscheidend darauf
abgestellt, dass die seit 1944 dem Sohn A. ausgerichteten Vorempfänge
bereits im Jahre 1961 den Betrag von Fr. 18 800.-- erreicht hatten und
dass mit den im Jahre 1966 ausgerichteten Vorempfängen die übrigen Kinder,
mit einer Ausnahme, ebenfalls annähernd diesen Betrag erhielten. Ferner
weist die Vorinstanz darauf hin, dass der Beschwerdegegner im Jahre 1966,
als er den grössten Teil der vom Sozialamt als anrechenbar betrachteten
Vorempfänge ausrichtete, noch erwerbstätig war und einen Jahreslohn
bezog, welcher einen Anspruch auf Ergänzungsleistungen von vorneherein
ausschloss. Ferner sei seine Persönlichkeit nicht derart, dass angenommen
werden dürfte, er sei schon im Jahre 1966 darauf ausgegangen, durch
Ausrichtung weiterer Vorempfänge die Voraussetzungen für den Bezug einer
Ergänzungsleistung nach Aufgabe der Erwerbstätigkeit zu schaffen. Nichts
deutet darauf hin, dass diese tatsächlichen Feststellungen des kantonalen
Richters unzutreffend wären. Dies gilt auch bezüglich der Auffassung,
die im Jahre 1968 erfolgten Abtretungen von insgesamt Fr. 4500.--,
deren Anrechnung zudem das heutige Vermögen des Beschwerdegegners
nicht über den Freibetrag von Fr. 15 000.-- anwachsen liesse, seien
nicht in der Absicht erfolgt, die Ergänzungsleistung um den Ertrag des
abgetretenen Vermögens zu erhöhen. Von dieser vom kantonalen Richter auf
Grund pflichtgemässer Beweiswürdigung gewonnenen Überzeugung abzugehen,
besteht für den letztinstanzlichen Richter auch gestützt auf seine
gemäss rev. OG erweiterte Überprüfungsbefugnis kein Anlass. Daran
vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass in dem in EVGE 1967
S. 180 auszugsweise veröffentlichten Urteil die Annahme des kantonalen
Richters, die Umgehungsabsicht sei im Falle einer im Jahre 1962 erfolgten
Vermögensabtretung trotz Gesuchseinreichung erst im Jahre 1966 zu bejahen,
geschützt wurde. Damals handelte es sich nur darum, zu prüfen, ob diese
Feststellung nicht willkürlich sei.

    Endlich ist darauf hinzuweisen, dass der Schluss auf Umgehungshandlung
gemäss Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG unzulässig ist, wenn dem Ansprecher
bloss vorgeworfen werden kann, er habe die Folgen seines Verzichts aus
pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht bedacht.