Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 96 I 617



96 I 617

95. Urteil vom 16. Dezember 1970 i.S. Bachmann gegen Obergericht und
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau. Regeste

    Art. 4 BV; Treu und Glauben im öffentlichen Recht; Verweigerung des
rechtlichen Gehörs. Zuwiderhandlung gegen das Gewässerschutzgesetz.

    Die Aufhebung eines von der Verwaltungsbehörde erlassenen Verbotes
muss weder in gleicher Form noch ausdrücklich erfolgen. Nach dem Grundsatz
von Treu und Glauben können behördliche Zusicherungen oder sonstiges
Verhalten der Behörden genügen.

    Verweigerung des rechtlichen Gehörs durch Nichtabnahme von Beweisen
für solche behördliche Zusicherungen.

Sachverhalt

    A.- Otto Bachmann betreibt in Bottenwil, wo er wohnt, eine
Pelzzurichterei. Die häuslichen Abwässer und diejenigen seines Betriebes
fliessen in die Uerke.

    Die Baudirektion des Kantons Aargau erliess am 1. Juni 1966 folgende
Verfügung:

    "1. Das Einleiten von gewerblichem Abwasser aus Ihrem Betrieb in die
Uerke hat spätestens ab 1. Oktober 1966 zu unterbleiben.

    2. Die Verhältnisse bezüglich häuslichem Abwasser aus Ihrer
Liegenschaft sind ebenfalls bis spätestens 1. Oktober 1966 zu sanieren. Die
Pläne hierfür sind rechtzeitig dem Gewässerschutzamt vorzulegen, damit
die Einleitungsbewilligung ausgestellt werden kann."

    Mit Verfügung der Baudirektion vom 22. November 1966 ist "die
Durchsetzung des Abwassereinleitungsverbotes aus der Pelzzurichterei"
bis zum 1. Mai 1967 aufgeschoben worden.

    Am 12. Juni 1967 erteilte die Baudirektion Bachmann die Bewilligung,
die häuslichen Abwässer geklärt in die Uerke zu leiten. Art. 1 Abs. 2 der
"Besonderen Bedingungen und Auflagen" dieser Bewilligung lautet:

    "Die Industrieabwasserverhältnisse werden durch die Erstellung eines
Neubaues innerhalb des Kanalisationsrayons geordnet."

    B.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau erhob am 3. Oktober
1969 Anklage gegen Bachmann wegen Verletzung von Art. 3 des
Gewässerschutzgesetzes. Die Anklage wirft Bachmann vor, in bewusster
Zuwiderhandlung gegen die Verfügung der Baudirektion vom 1. Juni 1966
auch nach dem 1. Oktober 1966 gewerbliche Abwässer in die Uerke geleitet
zu haben.

    Das Bezirksgericht Zofingen nahm gestützt auf die Bewilligung der
Baudirektion vom 12. Juni 1967 und das durchgeführte Beweisverfahren an,
Bachmann sei teils durch behördliche Duldung, teils durch eine "informelle,
aber schriftliche Bewilligung" über den 1. Mai 1967 hinaus berechtigt
gewesen, "bis zum Zeitpunkt der Inbetriebnahme der Gemeindekläranlage
die Industrieabwasser weiterhin in die Uerke zu leiten." Es sprach ihn
deshalb von der Anklage der fortgesetzten vorsätzlichen Zuwiderhandlung
gegen Art. 3 Abs. 1 und 3 des Gewässerschutzgesetzes frei.

    Hingegen fand das Bezirksgericht Zofingen Bachmann schuldig der
wiederholten und fortgesetzten Widerhandlung gegen Bedingungen der
ihm am 12. Juni 1967 von der Baudirektion erteilten Bewilligung für
die Einleitung der häuslichen Abwässer in die Uerke, weil er seit
Erstellung einer Kläranlage für die häuslichen Abwässer auch die
industriellen Abwässer über diese Anlage in die Uerke geführt habe.
Es verurteilte ihn aus diesem Grunde wegen Verletzung von Art. 3 Abs. 2
des Gewässerschutzgesetzes zu einer Busse von Fr. 150.--. Bachmann hat
diese Verurteilung und Bestrafung ausdrücklich akzeptiert.

    C.- Auf Berufung der Staatsanwaltschaft hin hat das Obergericht
des Kantons Aargau (I. Strafkammer) am 17. April 1970 in Abänderung
des bezirksgerichtlichen Urteils Bachmann im Sinne der Anklage der
fortgesetzten vorsätzlichen Widerhandlung gegen Art. 3 Abs. 1 und 2
Gewässerschutzgesetz schuldig befunden und gestützt auf Art. 15 Abs. 1
dieses Gesetzes mit Fr. 3000.-- Busse bestraft. Es nahm auf Grund der
Verfügung der Baudirektion vom 22. November 1966 an, vom 1. Mai 1967
an sei die weitere Ableitung der gewerblichen Abwässer in die Uerke
mit einem klaren Verbot belegt gewesen, gegen das Bachmann zumindest
eventualvorsätzlich verstossen habe.

    D.- Mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4
BV beantragt Bachmann die Aufhebung des Urteils des Obergerichtes vom
17. April 1970. Die Beschwerdebegründung ist, soweit erheblich, aus den
Erwägungen ersichtlich.

    E.- Das Obergericht des Kantons Aargau hat auf Gegenbemerkungen
verzichtet; die Staatsanwaltschaft beantragt Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Art. 3 Abs. 1 des Gewässerschutzgesetzes vom 16. März 1955
(GSchG) dürfen Abwässer aus Wohn-, Unterkunfts- und Arbeitsstätten,
Fabriken, gewerblichen und landwirtschaftlichen Betrieben nur mit
Bewilligung des Kantons mittelbar oder unmittelbar in Gewässer eingebracht
werden.

    Der Beschwerdeführer hat nicht in Abrede gestellt, die Abwässer
seines Betriebes ungeklärt in die Uerke zu leiten. Hingegen hat er
behauptet, dies mit Bewilligung der zuständigen kantonalen Instanz getan
zu haben. Er bestreitet deshalb eine Verletzung von Art. 3 GSchG. Er
verwies auf schriftliche amtliche Verlautbarungen der Baudirektion des
Kantons Aargau und des ihr angegliederten Gewässerschutzamtes, wonach
die Abwässerverhältnisse seines Gewerbebetriebes nur durch den Anschluss
an die geplante, aber noch nicht erstellte Kläranlage der Gemeinde
Bottenwil geregelt werden können. Er habe zu diesem Zwecke eine Parzelle
innerhalb des Kanalisationsrayons erworben und einen Fabrikneubau
projektiert. Deshalb sei ihm über den 1. Mai 1967 hinaus bis zur
Fertigstellung der Gemeindekläranlage die Aufrechterhaltung des bisherigen
Zustandes, d.h. die Ableitung der ungeklärten Betriebsabwässer in die
Uerke, wenn auch nicht durch formelle Verfügungen, so doch wiederholt
schriftlich und mündlich von den zuständigen Instanzen bewilligt worden. Er
berief sich dafür vor beiden kantonalen Instanzen unter anderem auf die
Zeugen Ferdinand Rohr, Direktionsadjunkt der kantonalen Baudirektion,
und Rudolf Ott, Beamter des kantonalen Amtes für Gewässerschutz.

    Auf dieses Beweisanerbieten sind weder Bezirksgericht noch Obergericht
eingetreten. Die Zeugen wurden nicht vernommen. Darin erblickt der
Beschwerdeführer eine Verweigerung des rechtlichen Gehörs.

Erwägung 2

    2.- Der Umfang des Anspruchs auf rechtliches Gehör wird zunächst
grundsätzlich durch die kantonalen Verfahrensvorschriften umschrieben. Wo
dieser kantonale Rechtsschutz sich als ungenügend erweist, greifen
die unmittelbar aus Art. 4 BV folgenden, also bundesrechtlichen
Verfahrensregeln zur Sicherung des rechtlichen Gehörs Platz, die dem Bürger
in allen Streitsachen ein bestimmtes Mindestmass an Verteidigungsrechten
gewährleisten (BGE 92 I 186). Ob der unmittelbar aus Art. 4 BV fliessende
Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt ist, ist vom Bundesgericht frei
zu prüfen (BGE 94 I 522).

    a) Der Beschwerdeführer rügt keine Verletzung kantonaler prozessualer
Vorschriften. Es stellt sich deshalb lediglich die Frage, ob die
unmittelbar aus Art. 4 BV sich ergebenden Verfahrensregeln verletzt
worden sind. Diese verfolgen im Strafprozess vor allem den Zweck, die
Wahrheitsfindung und Verwirklichung des materiellen Strafrechtes in
einer Weise herbeizuführen, die den Angeschuldigten gegen die Gefahr
staatlichen Machtmissbrauchs durch behördliche und richterliche Willkür
und gegen die Beeinträchtigung seiner Verteidigungsrechte schützt (BGE
95 I 4). Zu den fundamentalen Verteidigungsrechten gehört der Anspruch
des Angeschuldigten, den Entlastungsbeweis mit allen erheblichen und
tauglichen Beweisen zu führen (vgl. BGE 92 I 261). Eine Beeinträchtigung
dieses Anspruches verletzt daher Art. 4 BV.

    b) Art. 3 GSchG untersagt die Einführung von Abwässern in Gewässer
nicht schlechthin, sondern nur ohne Bewilligung des Kantons. Das Fehlen
einer kantonalen Bewilligung ist somit Tatbestandsmerkmal. Der Nachweis
einer Bewilligung ist demnach erheblich. Seine Verweigerung gegenüber
einem Angeklagten, der wegen bewilligungslosen Einleitens von Abwässern
in Gewässer beschuldigt wird, verletzt dessen Verteidigungsrechte.

    c) Mit den Zeugen Rohr und Ott wollte der Beschwerdeführer zu
seiner Entlastung beweisen, dass ihm entgegen der Anklage vom Kanton
das Ableiten der Abwässer seines Betriebes in die Uerke bewilligt worden
sei. Das Obergericht hat das Vorhandensein einer Bewilligung verneint,
ohne auf den Beweisantrag des Beschwerdeführers einzutreten. Weshalb es
ihn übergangen hat, ist mangels Begründung nicht feststellbar. Diese
Verweigerung der Beweisabnahme hätte vor Art. 4 BV nur dann Bestand,
wenn der beantragte Zeugenbeweis offensichtlich untauglich wäre, das
Vorliegen einer Bewilligung im Sinne von Art. 3 GSchG zu beweisen. Davon
kann indessen keine Rede sein.

    Das Obergericht führt aus, ein Aufschub oder eine anderweitige
Modifizierung des am 22. November 1966 ausgesprochenen Verbotes
hätte ausdrücklich und in gleicher Form wie das Verbot selber verfügt
werden müssen. Das Verbot erging durch eine formelle Verfügung der
Baudirektion. Das Obergericht scheint der Auffassung zu sein, eine
das Verbot aufhebende Bewilligung, die in anderer Form ergangen
sei, sei unbeachtlich. Diese Annahme findet indessen keine Stütze
im Gesetz und ist schlechterdings unhaltbar. Weder schreibt Art. 3
GSchG für die Bewilligung des Kantons eine bestimmte Form vor, noch
nennt das Obergericht eine entsprechende kantonale Bestimmung oder
Übung. Auch allgemeine Rechtsgrundsätze schliessen die Beachtung
sogar stillschweigender Willensäusserungen im Verwaltungsverfahren
nicht schlechthin aus und gebieten, dass aus mangelhafter Eröffnung
einer Verfügung den Beteiligten keinerlei Rechtsnachteil erwachsen darf
(IMBODEN, Schweiz. Verwaltungsrechtspflege, 3. Aufl., Nr. 345 II c, 515
II, 615, 623 I c). Schliesslich verschafft der unmittelbar aus Art. 4
folgende und auch im Verwaltungsrecht geltende Grundsatz von Treu und
Glauben dem Bürger einen Anspruch auf Schutz des berechtigten Vertrauens
auf behördliche Zusicherungen und sonstiges, bestimmte Erwartungen
begründendes Verhalten der Behörden (BGE 94 I 520 Erw. 4 a). Mit den
Zeugen Rohr und Ott, den für die Erteilung von Bewilligungen im Sinne
von Art. 3 GSchG unbestrittenermassen zuständigen Sachbearbeitern der
kantonalen Baudirektion bzw. des kantonalen Gewässerschutzamtes, will
der Beschwerdeführer den Beweis für derartige behördliche Zusicherungen
mit Bezug auf die weitere Erlaubnis, die betrieblichen Abwässer in die
Uerke zu leiten, führen. Dieser Beweis bezieht sich somit auf Tatsachen,
die für die Entscheidung erheblich sind. Er war deshalb abzunehmen, und
die Verweigerung der Abnahme stellt eine Verweigerung des rechtlichen
Gehörs dar.

    Das Obergericht widerlegt seine Auffassung, nur eine formelle
Verfügung hätte das formelle Verbot vom 22. November 1966 aufheben können,
übrigens selbst, wenn es gleichzeitig ausführt, im Zweifel hätte sich für
den Beschwerdeführer "eine sofortige Rückfrage beim Gewässerschutzamt
geradezu aufgedrängt." Daraus folgt, dass das Obergericht auch einer
formlosen Auskunft rechtserhebliche Bedeutung beimisst. Gerade dass ihm
im Verlaufe seiner Verhandlungen mit dem Gewässerschutzamt schriftlich
und mündlich, aber formlos, trotz des Verbotes vom 22. November 1966 die
weitere Ableitung der industriellen Abwässer in die Ürke vorübergehend
gestattet worden sein soll, will der Beschwerdeführer durch die Zeugen
Rohr und Ott beweisen.

Erwägung 3

    3.- Die vom Beschwerdeführer beantragte Beweisergänzung war
im übrigen umso unerlässlicher, als sich aus dem Akteninhalt
kaum überwindliche Zweifel sowohl an der Erfüllung des objektiven
gesetzlichen Straftatbestandes wie an der Schuld des Beschwerdeführers
ergeben. Tatsächlich enthalten die Akten ernsthafte Belege für die
Richtigkeit der Darstellung des Beschwerdeführers, wonach bis zum Neubau
und möglichen Anschluss an die projektierte Gemeindekläranlage Bottenwil
die weitere Ableitung der ungeklärten Abwässer in die Uerke in bisheriger
Weise geduldet worden sei.

    So schrieb der Vorsteher des kantonalen Gewässerschutzamtes dem
Gemeinderat Bottenwil unter anderem am 11. Januar 1968:

    "Abwasserverhältnisse im bestehenden Betrieb. Der Neubau muss
spätestens im Zeitpunkt der Inbetriebnahme der Gemeindekläranlage
ebenfalls betriebsbereit sein. Ein weiteres Zugeständnis hinsichtlich der
Beseitigung von gewerblichem Abwasser im Altbau kann nicht gegeben werden.
Wir verweisen auf die bisherige Korrespondenz und die Besprechungen mit
Herrn Bachmann sowie die Abwassereinleitungsbewilligung Nr. 09.21.28.2447
vom 12. Juli 1967."

    Im Schreiben des Gewässerschutzamtes vom 25. Juli 1969 an das Bezirkamt
Zofingen steht:

    "... Die endgültige Sanierung dieses Gewerbebetriebes kann tatsächlich
nur durch den Anschluss des industriellen Abwassers an die Kläranlage
der Gemeinde erreicht werden.

    2. Die Voraussetzungen für die Verlegung des Betriebes können nunmehr
mit der Genehmigung des generellen Kläranlageprojektes als erfüllt
betrachtet werden."

    In der Überweisungsverfügung an die Staatsanwaltschaft vom 26. August
1969 stellt der Bezirksamtmann Zofingen fest:

    "Die Einführung der Industrieabwässer sind seitens des
Gewässerschutzamtes nie untersagt worden. Seit Jahren wartet man auf die
Erstellung der Gemeindekläranlage. Nach dem Befund des Chem. Laboratoriums
Aarau enthielten die Wasserproben keine direkten Giftstoffe. Das
Gewässerschutzamt weist auf eine Anfrage darauf hin, dass die endgültige
Sanierung des Gewerbebetriebes des Angeschuldigten nur durch den Anschluss
an die Kläranlage der Gemeinde erreicht werden kann."

    Der Zeuge Schaub, Sachbearbeiter des Gewässerschutzamtes, erklärte,
nach seiner Meinung sei die weitere Einleitung der Industrieabwässer
in die Uerke vom Gewässerschutzamt so lange geduldet worden, bis eine
Kläranlage der Gemeinde in Betrieb sei.

    Im Lichte dieser aktenmässig belegten Willensäusserungen des
Gewässerschutzamtes erscheint die Auffassung des Obergerichtes fragwürdig,
es sei unerfindlich, wieso aus Art. 1 Abs. 2 der "Besonderen Bedingungen
und Auflagen" der Verfügung der Baudirektion vom 12. Juni 1967 in guten
Treuen eine Bewilligung, die gewerblichen Abwässer weiterhin in die Uerke
abzuleiten, herauszulesen sein soll. Die erwähnten Beweise verleihen dieser
Auslegung, entsprechend der Auffassung des Bezirksgerichtes Zofingen,
vielmehr Glaubwürdigkeit.

Erwägung 4

    4.- Die Beschwerde bezieht sich nur auf die Verurteilung
des Beschwerdeführers gemäss Art. 3 Abs. 1 GSchG. Insoweit ist sie
begründet. Seine Verurteilung wegen Verletzung von Art. 3 Abs. 2 GSchG
hat der Beschwerdeführer ausdrücklich anerkannt und mit der Beschwerde
unangefochten gelassen. Trotzdem ist das ganze Urteil des Obergerichtes
aufzuheben, da darin eine Gesamtstrafe für beide Straftatbestände
ausgesprochen ist.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird gutgeheissen und das Urteil des Obergerichts des
Kantons Aargau (I. Strafkammer) vom 17. April 1970 aufgehoben.