Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 96 I 531



96 I 531

82. Urteil vom 16. Dezember 1970 i.S. X. gegen Y. und Kanton Thurgau,
Staatsanwaltschaft und Obergericht. Regeste

    Willkür; kantonales Strafprozessrecht, Kostenauflage.

    Fall von Überbindung der Kosten einer eingestellten Strafuntersuchung
an den Anzeiger wegen leichtfertiger und mutwilliger Anzeigeerstattung.

Sachverhalt

    A.- Frau X. hat am 3. März 1967 von Gilbert Maria Podmaniczky ein
Gemälde, darstellend "Madonna mit Kind", zum Preise von DM 300'000.--
erworben. Mitgeliefert wurden drei Gutachten von Prof. Leo van Puyvelde
vom 1. Mai 1951, Prof. Hermann Voss vom 2. August 1962 und Prof.
Kurt Gerstenberg vom 8. August 1962. Jedes dieser Gutachten befand sich
handschriftlich auf der Rückseite einer Schwarzweissphoto des Gemäldes. Sie
bestätigten alle, das begutachtete Bild sei ein eigenhändiges Werk von
Peter Paul Rubens.

    Das Gemälde stammte aus dem Besitz von Y., der es mit den erwähnten
Gutachten unmittelbar vorher, Ende Februar/Anfang März 1967, dem Münchner
Kunsthändler Alexander Gebhardt für DM 35'000.-- verkauft hatte.

    B.- Am 7. Oktober 1967 liess Frau X. durch ihren Anwalt bei der
Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau Strafanzeige gegen Y. wegen
Urkundenfälschung und Betrug erstatten, weil das von ihr als echt erworbene
Gemälde eine Fälschung sei. Sie beschuldigte Y., das echte Werk und eine
Kopie davon besessen zu haben. Von der Kopie habe er Schwarzweissphotos
herstellen lassen. Es sei ihm gelungen, den Gutachtern, die das echte
Werk begutachtet hatten, für die Erstellung ihres Gutachtens die Photos
der Kopie zu unterschieben. Das gefälschte Bild habe er mit den auf diese
Art und Weise arglistig beschafften Gutachten, die sich auf das Original
beziehen, aber sich auf der Rückseite von Photos des gefälschten Gemäldes
befinden, zu ihrer Täuschung und Schädigung in Verkehr gebracht. Von dem
Kaufpreis, den sie bezahlt habe, habe Y. etwa DM 40'000.-- erhalten. Es
sei deshalb anzunehmen, dass Y. vom sichern Boden der Schweiz aus,
möglicherweise als Schlüsselfigur, gewerbsmässig mit einer Bande von
Kunstfälschern in Deutschland zusammenarbeite.

    Zur Begründung dieser Beschuldigung liess Frau X. in der Strafanzeige
ausführen, sie habe vom erworbenen Bild eine Farbphotographie aufnehmen
lassen und diese dem sachverständigen Gerstenberg unterbreitet. In
seiner eidesstattlichen Versicherung vom 16. Juni 1967 habe dieser
daraufhin erklärt, die Farbphoto stelle mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit nicht das von ihm am 8. August 1962 expertisierte
Gemälde von Rubens dar. Nach Besichtigung des in ihrem Besitze
befindlichen Bildes in St. Gallen habe Prof. Gerstenberg schliesslich
in einer eidesstattlichen Erklärung vom 27. Juni 1967 bestätigt, dieses
sei mit dem von ihm am 8. August 1962 begutachteten Originalgemälde von
Rubens nicht identisch.

    Am gleichen Tage, da er zuhanden von Frau X. seine eidesstattliche
Versicherung vom 16. Juni 1967 abgab, unterzeichnete Prof. Gerstenberg eine
ihm von Podmaniczky und einem gewissen Dr. Schön vorgelegte Bestätigung,
wonach es doch möglich sei, dass die ihm vorgelegte Farbphoto das von
ihm begutachtete Original wiedergebe, er sich aber durch die Farben der
Photographie geirrt habe. Am 17. Juni 1967 sandte Prof. Gerstenberg
Frau X. die Kopie dieser am Vortage unterzeichneten und mit seiner
eidesstattlichen Versicherung vom 16. Juni 1967 nicht im Einklang
stehenden Bestätigung. Diese war mit einer vom 17. Juni 1967 datierten
Widerrufserklärung versehen, gemäss welcher er seine Bestätigung vom
16. Juni 1967 widerrufe und bei seiner Erklärung verbleibe, dass er in
der ihm vorgelegten Farbphoto nicht das Gemälde erkennen könne, das er
am 3. August 1962 begutachtet habe. In der Strafanzeige wurden diese
Bestätigung Gerstenbergs vom 16. Juni 1967 und ihr Widerruf vom 17. Juni
1967 nicht erwähnt.

    C.- Die Strafuntersuchung gegen Y. wurde vom Verhörrichteramt
des Kantons Thurgau durchgeführt. Sie wurde, entsprechend dem Antrag
des Verhörrichteramtes und der Staatsanwaltschaft, mit Entscheid der
Anklagekammer vom 12. November 1969/9. Januar 1970 eingestellt. Die
Untersuchungskosten von Fr. 2'187.75 wurden der Verzeigerin, Frau X.,
auferlegt, weil diese die Anzeige in leichtfertiger und mutwilliger Weise
erhoben habe.

    Gegen die Auferlegung der Untersuchungskosten beschwerte sich Frau
X. beim Obergericht des Kantons Thurgau. Dieses wies die Beschwerde mit
Beschluss vom 4. Juni 1970 ab, weil die Anzeige ausschliesslich gestützt
auf die widersprüchlichen Gutachten Gerstenbergs und somit leichtfertig
und mutwillig erstattet worden sei.

    D.- Gegen diesen Entscheid des Obergerichts hat Frau X.
staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV erhoben mit
dem Antrag, ihn aufzuheben. Die Begründung der Beschwerde ergibt sich,
soweit wesentlich, aus den nachstehenden Erwägungen.

    E.- Das Obergericht, die Anklagekammer und die Staatsanwaltschaft
des Kantons Thurgau sowie Y. beantragen die Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- (Legitimation).

Erwägung 2

    2.- a) (Verbot neuer Vorbringen; 94 I 144).

    b) Der Beschwerdegegner Y. hat mit seinen Gegenbemerkungen
zur Beschwerde eine Anzahl neuer Akten eingereicht. Er verlangt,
diese vertraulich zu behandeln und sie der Beschwerdeführerin nicht
zu öffnen. Würde diesem Begehren entsprochen und nähme das Gericht
darin Einsicht, so würde ihm bekannt, was einer Prozesspartei, der
Beschwerdeführerin, unbekannt bleibt. Dem Entscheid Akten zu Grunde zu
legen, zu denen die Beschwerdeführerin keine Stellung beziehen konnte,
käme einer Gehörsverweigerung gleich. Eine vertrauliche Aktenentgegennahme
kann nur ganz ausnahmsweise in Kauf genommen werden, und zwar im Interesse
des grundsätzlich Einsichtsberechtigten, um richterlich überprüfen zu
können, ob diesem Einsichtsrecht zu Recht berechtigte und schützenswerte
Geheimhaltungsinteressen entgegengehalten werden (BGE 95 I 109). Ein
solcher seltener Ausnahmefall liegt nicht vor und wird auch nicht geltend
gemacht. Diese "vertraulichen Akten" sind deshalb aus dem Recht zu weisen,
und die darauf bezüglichen Ausführungen in der Beschwerdeantwort sind
nicht zu beachten. Die Nichtbeachtung dieser neuen Vorbringen und Akten
folgt überdies aus dem Verbot neuer Vorbringen.

Erwägung 3

    3.- Die Untersuchung wurde als kriminelle Untersuchung im Sinne
des Gesetzes über das Geschworenengericht vom 24. März 1852 (GGG)
geführt. Die für die Einstellung der Untersuchung massgebenden §§ 83-85
GGG sehen keine Kostenauflage an den Verzeiger vor. Das Obergericht
hat seinen Kostenentscheid auf § 84 GGG in Verbindung mit § 31 lit. a
der auf korrektionelle Straffälle anwendbaren Strafprozessordnung vom
26. November 1867 gestützt. Darnach können bei Einstellung der Untersuchung
"die ergangenen Kosten teilweise oder ganz dem Denunzianten oder dem
Angeklagten oder beiden" auferlegt werden. Wie das Obergericht ausführt,
werden nach ständiger Praxis dem Verzeiger die Kosten dann überbunden,
wenn er in leichtfertiger und mutwilliger Weise Strafanzeige erhoben hat.

    Die Beschwerdeführerin betrachtet die Anwendung von § 31 lit. a StPO in
Verbindung mit § 84 GGG als "fragwürdig", macht aber deswegen weder eine
Verletzung kantonalen Verfahrensrechtes noch eine Verletzung von Art. 4
BV geltend. Sie anerkennt vielmehr, dass nach ständiger thurgauischer
Rechtsprechung auch bei Einstellung einer kriminellen Untersuchung die
Kostenauflage an den Anzeiger möglich ist, sofern dieser in verwerflicher,
leichtfertiger oder mutwilliger Weise Strafanzeige erstattet hat. Nach
ihrer Auffassung hat das Obergericht ihr aber willkürlich Leichtfertigkeit
bei der Erstattung der Strafanzeige vorgeworfen und deshalb mit der
Kostenüberbindung Art. 4 BV verletzt.

Erwägung 4

    4.- Das Obergericht wirft der Beschwerdeführerin deshalb
Leichtfertigkeit und Mutwilligkeit vor, weil sie ihre Beschuldigungen
in der Strafanzeige ausschliesslich auf die Gutachten und Erklärungen
Gerstenbergs gestützt habe, während diese widersprüchlichen Äusserungen
Gerstenbergs, insbesondere seine nur schwer verständliche Handlungsweise
am 16./17. Juni 1967, zu besonderer Vorsicht hätten Anlass geben müssen
und zusätzliche Abklärungen erfordert hätten. Die Beschwerdeführerin
wendet ein, diese Auffassung sei willkürlich, weil aktenwidrig. Die Rüge
ist unbegründet.

    a) Die Anzeige gegen Y. beruht auf der Annahme, der Beschwerdeführerin
sei nicht das von den Experten Puyvelde, Voss und Gerstenberg
begutachtete Gemälde, sondern eine Kopie davon geliefert worden.
Diese Annahme stützte die Beschwerdeführerin in ihrer Strafanzeige auf
die beiden eidesstattlichen Erklärungen Gerstenbergs vom 16. Juni 1967
und 17. Juni 1967, wonach die ihm vorgelegte Farbphotographie mit an
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht das von ihm am 8. August
1962 expertisierte Gemälde von Rubens darstelle und wonach das ihm in
St. Gallen gezeigte Bild mit absoluter Sicherheit nicht mit dem von
ihm begutachteten Bild identisch sei. Insoweit kann somit von einer
aktenwidrigen Annahme des Obergerichtes keine Rede sein.

    b) Diese beiden eidesstattlichen Erklärungen Gerstenbergs waren an
sich geeignet, Zweifel an der Identität des von der Beschwerdeführerin
erworbenen mit dem von Gerstenberg begutachteten Gemälde zu wecken. Das
Verhalten Gerstenbergs vom 16./17. Juni 1967 andererseits musste diese
Zweifel erschüttern. Denn die abweichend von der eidesstattlichen
Versicherung vom 16. Juni 1967 gleichentags abgegebene Bestätigung,
die Farbphotographie stelle möglicherweise doch das von ihm begutachtete
Gemälde dar, und der am nächsten Tag erfolgte Widerruf dieser Bestätigung
verrieten die Unsicherheit Gerstenbergs und die Unzuverlässigkeit seiner
verschiedenen, widersprüchlichen Beurteilungen. Es fällt denn auch auf
und ist offensichtlich nicht einem Versehen zuzuschreiben, dass die
Beschwerdeführerin diese Bestätigung Gerstenbergs vom 16. Juni 1967 und
deren Widerruf in der Strafanzeige verschwiegen hat. Das Obergericht
verfiel deshalb nicht in Willkür mit seiner sachlich vertretbaren
Auffassung, wenn ein namhafter Gelehrter seine Meinung so oft ändere,
Erklärungen abgebe und diese kurz darauf widerrufe, so hätte für die
Beschwerdeführerin Anlass zu besonderer Vorsicht bestanden und zusätzliche
Abklärungen wären absolut unerlässlich gewesen. Frei von Willkür ist
auch die obergerichtliche Feststellung, entsprechende Untersuchungen
seien unterblieben. Denn die Strafanzeige enthält keine Angaben über
derartige Untersuchungen, die der Abklärung der widersprüchlichen
Äusserungen Gerstenbergs dienten und dessen These von der Nichtidentität
des begutachteten und des der Beschwerdeführerin gelieferten Bildes
stützen sollten.

    c) Diese Nichtidentität, selbst wenn sie festgestanden wäre oder
von der Beschwerdeführerin gutgläubig hätte angenommen werden dürfen,
vermochte zudem für sich allein die Verzeigung des Y. wegen Betruges
und Urkundenfälschung nicht zu rechtfertigen, da mit ihr allein
weder die Tatbestandsmerkmale des einen noch des anderen Deliktes
erfüllt waren. Die Beschwerdeführerin erhob deshalb auch die weiteren
Beschuldigungen, Y. habe sich die auf das Original beziehenden Gutachten
arglistig beschafft und zusammen mit der Fälschung zu ihrer Täuschung
und Schädigung in Verkehr gebracht, weshalb anzunehmen sei, dass er -
möglicherweise als Schlüsselfigur - gewerbsmässig mit einer Bande von
Kunstfälschern zusammen arbeite.

    Keine dieser Beschuldigungen konnte sich auf die Äusserungen
Gerstenbergs stützen, die sich ausschliesslich auf die Identität des von
ihm begutachteten mit dem von der Beschwerdeführerin erworbenen Gemälde
bezogen, ohne sich mit der Frage des Zustandekommens der Gutachten oder
des Inverkehrbringens des der Beschwerdeführerin verkauften Bildes samt
Gutachten zu befassen. Andere Unterlagen für diese Beschuldigungen hat die
Beschwerdeführerin in der Strafanzeige nicht vorgebracht. Sie entbehrten
somit jeder Grundlage und beruhten auf haltlosen Verdächtigungen. Darin
liegt ein prozessuales Verschulden, also ein zu missbilligendes Verhalten
(ROBERT KEHL in ZStr. 64 (1949) S. 387 f., vgl. ZR 64 Nr. 51 S. 87 mit
Literaturverweisungen, BGE 84 I 16). Angesichts dieser Umstände durfte das
Obergericht ohne Willkür der Beschwerdeführerin die Untersuchungskosten
wegen leichtfertiger und mutwilliger Anzeigeerstattung auferlegen.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden kann.