Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 96 I 145



96 I 145

26. Auszug aus dem Urteil vom 27. Mai 1970 i.S. L. gegen H. und
Appellationshof des Kantons Bern. Regeste

    Garantie des Wohnsitzgerichtsstandes (Art. 59 BV).

    Der in gewissen kantonalen Zivilprozessordnungen für die
Arrestprosequierungsklage vorgesehene Gerichtsstand des Arrestortes gilt
nur im Rahmen des Art. 59 BV (Erw. 2).

    Begriff des" festen Wohnsitzes "im Sinne des Art. 59 BV. Der Grundsatz,
dass der einmal begründete Wohnsitz bis zum Erwerb einesneuen bestehen
bleibt (Art. 24 Abs. 1 ZGB), gilt nicht; in Betracht fällt nur ein
effektiver Wohnsitz, wobei die Verhältnisse zur Zeit der Anhängigmachung
der Klage massgebend sind (Erw. 4).

Sachverhalt

    A.- Die Ehegatten H. schlossen am 4. September 1968, nach der
Scheidung ihrer Ehe, einen Vergleich, den das Amtsgericht Bern gemäss
Art. 158 Ziff. 5 ZGB genehmigte. Gemäss diesem Vergleich übernahm die
Ehefrau (jetzt Frau L.) die Liegenschaft X. in Bern und verpflichtete
sich, eine Summe die nach den im Vergleich getroffenen Vereinbarungen zu
berechnen ist, am 1. Juni 1969 zu bezahlen. Der Ehemann berechnete seine
Gesamtforderung in der Folge auf Fr. 129'451.25.

    Ende April 1969 betrieb H. die Schuldnerin auf Sicherheitsleistung,
doch konnte der Zahlungsbefehl an ihrer Adresse Blauenstrasse 45 in
Basel nicht zugestellt werden und kam zurück mit dem Vermerk: "Schuldner
ist ausgezogen laut Polizeirapport vom 13. Mai 1969". Gegen einen am
9. Juli 1969 dem Anwalt der Schuldnerin zugestellten, auf Zahlung von
Fr. 129'451.25 gerichteten Zahlungsbefehl wurde für die ganze Summe
Rechtsvorschlag erhoben. Darauf verlangte H., dass die Liegenschaft
X. in Bern zur Sicherung seiner Ansprüche mit Arrest belegt werde. Der
Gerichtspräsident IV von Bern bewilligte den Arrest am 24. Juli
1969 gestützt auf Art. 271 Ziff. 1 und 2 SchKG. Die Schuldnerin erhob
Arrestaufhebungsklage, wurde aber vom Gerichtspräsident IV von Bern und
vom Appellationshof des Kantons Bern abgewiesen, von diesem mit Urteil vom
4. Dezember 1969. Eine hiegegen erhobene staatsrechtliche Beschwerde der
Schuldnerin ist vom Bundesgericht mit Urteil vom heutigen Tage verworfen
worden.

    B.- Unmittelbar nach Zustellung der Arresturkunde reichte
H. am 1. September 1969 beim Appellationshof des Kantons Bern
Arrestprosequierungsklage ein. Der Appellationshof stellte die Klage
der Beklagten am 4. September 1969 zu, setzte ihr Frist zur Beantwortung
bis 26. September und forderte sie auf, innert der gleichen Frist einen
Gerichtskostenvorschuss von Fr. 1000.-- zu bezahlen. Die Beklagte leistete
den Vorschuss nicht, reichte aber fristgerecht eine Klageantwort ein, mit
der sie - ohne sich materiell zur Sache zu äussern - den Antrag stellte,
die Klage sei mangels örtlicher Zuständigkeit von der Hand zu weisen. Der
Appellationshof forderte sie in der Folge ein zweites Mal zur Zahlung
des verlangten Vorschusses auf und erklärte sie, als sie auch dieser
Aufforderung nicht nachkam, mit Verfügung vom 2. Dezember 1969 gemäss
Art. 286 bern. ZPO "säumig".

    Im Anschluss an diese Verfügung erhob Frau L. staatsrechtliche
Beschwerde, mit der sie u.a. Verletzung des Art. 59 BV geltend machte
und behauptete, sie wohne seit mindestens vier Jahren in Basel und habe
den dortigen Wohnsitz nie aufgegeben.

    Das Bundesgericht weist diese Rüge ab.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Kläger begründete die örtliche Zuständigkeit des
Appellationshofes mit dem Hinweis auf Art. 25 Abs. 2 bern. ZPO,
wonach "die Klage auf Begründetheit einer Forderung, für welche
Arrest herausgenommen ist", am Orte der Arrestnahme angebracht
werden kann. Dieser Gerichtsstand des Arrestortes gilt jedoch, wie
Rechtsprechung und Lehre einhellig annehmen, nur im Rahmen des Art. 59
BV; aufrechtstehende, in der Schweiz, aber nicht im Kanton Bern wohnende
Arrestschuldner brauchen sich an dem im Kanton Bern gelegenen Ort der
Arrestnahme nicht auf die Arrestprosequierungsklage einzulassen (BGE
40 I 499, 85 II 363 E. 1 a.E.; LEUCH N. 5 zu Art. 25 ZPO; BURCKHARDT,
Komm. der BV S. 564 oben; JAEGER-DAENIKER N. 11 zu Art. 278 SchKG;
GULDENER, Schweiz. Zivilprozessrecht S. 83 Anm. 37 sowie internat. und
interkant. Zivilprozessrecht der Schweiz S. 73 Anm. 224 und S. 186 Anm. 29
lit. a).

Erwägung 4

    4.- Dass die Beschwerdeführerin "aufrechtstehend" im Sinne des
Art. 59 BV, d.h. zahlungsfähig sei, ist nicht streitig. Die Vermutung
spricht für die Zahlungsfähigkeit (BGE 41 I 115; BURCKHARDT aaO S. 543;
AUBERT, Traité de droit constitutionnel suisse Nr. 852), und der
Beschwerdegegner behauptet nicht und versucht noch weniger darzutun,
dass die Beschwerdeführerin zahlungsunfähig sei. Zu prüfen ist einzig,
ob sie im massgebenden Zeitpunkt einen "festen Wohnsitz" im Sinne des
Art. 59 BV gehabt habe. Dem Beiwort "fest", das im französischen Text
fehlt, kommt dabei keine Bedeutung zu (BURCKHARDT aaO S. 544).

    a) Die Frage des Wohnsitzes ist für einen Arrestprosequierungsprozess
unabhängig vom vorausgegangenen Arrestbewilligungs- und von einem
allfälligen Arrestaufhebungsverfahren zu prüfen, denn es kommt auf
die Verhältnisse zur Zeit der Anhängigmachung der Klage an (vgl. BGE
81 I 58/9 und dort zitierte frühere Urteile). Wenn ein Schuldner,
dessen Vermögensgegenstände wegen Fehlens eines festen Wohnsitzes
gemäss Art. 271 Ziff. 1 SchKG mit Arrest belegt worden sind, nachher
vor Einreichung der Arrestprosequierungsklage einen festen Wohnsitz in
der Schweiz begründet, so kann er sich für diese Klage auf die Garantie
des Art. 59 BV berufen. Er kann es übrigens auch, ohne dass sich die
Wohnsitzverhältnisse seit der Arrestbewilligung verändert haben, so wenn
er auf die Arrestaufhebungsklage verzichtet hat oder mit ihr abgewiesen
worden ist. Die vorliegende Arrestprosequierungsklage ist am 1. September
1969 eingereicht worden. Es fragt sich daher, ob die Beschwerdeführerin,
wie sie behauptet, in diesem Zeitpunkt ihren Wohnsitz in Basel hatte.

    b) Die Beschwerdeführerin, die früher unbestrittenermassen in Basel
gewohnt, ihre dortige Wohnung aber spätestens Ende Juni 1969 aufgegeben
hat, hat sich für ihre Behauptung, sie habe weiterhin in Basel Wohnsitz
gehabt, mit Recht weder in der vorliegenden Beschwerde noch in derjenigen
gegen die Abweisung der Arrestaufhebungsklage auf Art. 24 Abs. 1 ZGB
berufen, wonach der einmal begründete Wohnsitz einer Person bestehen
bleibt bis zum Erwerb eines neuen Wohnsitzes. In zwei älteren Urteilen
des Bundesgerichts (BGE 32 I 80, 40 I 423/4) ist freilich beiläufig
die Meinung geäussert worden, der (früher in Art. 3 Abs. 2 NAG und nun
in Art. 24 Abs. 1 ZGB enthaltene) Grundsatz der Fortdauer eines einmal
begründeten, aber aufgegebenen Wohnsitzes könnte bei der Anwendung des
Art. 59 BV beachtet werden. Indessen ist, obwohl in BGE 32 I 80 von
einer dahingehenden Rechtsprechung die Rede ist, kein Urteil zu finden,
in welchem ein bloss gemäss Art. 24 Abs. 1 ZGB weiter bestehender Wohnsitz
als fester Wohnsitz im Sinne des Art. 59 BV anerkannt worden wäre. Nach
dem Zweck dieser Vorschrift kann nur ein effektiver Wohnsitz als fester
Wohnsitz gelten und ist derjenige, der den bisherigen Wohnsitz tatsächlich
aufgibt, ohne einen neuen zu begründen, als wohnsitzlos zu behandeln,
sonst käme es, wie BURCKHARDT (aaO S. 545 unten) zutreffend bemerkt,
kaum mehr vor, dass jemand keinen festen Wohnsitz hat. Die Auffassung
GULDENERS, dass Art. 24 Abs. 1 ZGB auch im Rahmen von Art. 59 BV gelte
(Das internat. und interkant. Zivilprozessrecht der Schweiz S. 71 Anm. 212)
ist, abgesehen von dem nach dem Gesagten nicht schlüssigen Hinweis auf BGE
32 I 80, nicht weiter begründet und steht in einem gewissen Widerspruch
zu seiner an anderer Stelle geäusserten Auffassung, Art. 24 ZGB sei nicht
anwendbar, wenn "an das Fehlen eines Wohnsitzes in der Schweiz prozessuale
Folgen geknüpft sind" (Schweiz. Zivilprozessrecht S. 76 Anm. 6).

    c) Damit ein Ort als effektiver Wohnsitz, d.h. als Lebensmittelpunkt
einer Person gelten kann, ist zuallererst erforderlich, dass sie sich dort
aufhalte (BGE 86 I 15 E. 4, 94 I 325/6). Dieser Aufenthalt darf nicht in
einer blossen Anwesenheit bestehen; erforderlich ist vielmehr ein "Wohnen",
wozu die Benützung von Räumen gehört (EGGER, N. 20 zu Art. 23 ZGB). Steht
einer Person an einem Ort eine solche Wohngelegenheit zur Verfügung,
so dauert ihr Wohnsitz an diesem Ort auch fort, wenn sie für Ferien, aus
beruflichen oder sonstigen Gründen während kürzerer oder selbst längerer
Zeit vorübergehend abwesend ist. Dagegen geht der Wohnsitz verloren, wenn
sie mit dem Weggang auch die ihr zum Wohnen dienenden Räume aufgibt. So
verhält es sich im vorliegenden Falle. Die Beschwerdeführerin hat ihre
Wohnung an der Blauenstrasse in Basel spätestens Ende Juni 1969 (nach dem
auf dem Zahlungsbefehl vom 30. April 1969 erwähnten Polizeirapport vom
13. Mai 1969 schon wesentlich früher) aufgegeben, ist zunächst im Juli im
Tessin in den Ferien gewesen und hat anschliessend bei ihren zukünftigen
Schwiegereltern in Aesch/BL gewohnt, und zwar, wie sich aus der Eingabe
ihres Anwaltes vom 10. Oktober 1969 an den Appellationshofergibt,
noch anfangs Oktober. Damit waren alle tatsächlichen Beziehungen
zu Basel abgebrochen, die es rechtfertigen könnten, diesen Ort ab
1. Juli 1969 weiterhin als ihren Wohnsitz zu betrachten. Der Umstand,
dass sie sich polizeilich nicht abgemeldet hat, genügt nicht, zumal da
sie weder den basel-städtischen Behörden noch dem Beschwerdegegner eine
neue Adresse in Basel angegeben hat, so dass es in einer Verfügung des
Zivilgerichts Basel-Stadt vom 22. Juli 1969 heisst, man wisse nicht, wo
die Beschwerdeführerin wohne. Mag sie auch stets die Absicht gehabt haben,
nach Basel zurückzukehren, so wusste sie doch im massgebenden Zeitpunkt
(1. September 1969) und noch in den 5 darauf folgenden Wochen nicht,
wann sie dort eine passende Wohnung finden würde. In dieser Zeit, in
welcher sie weder durch einen Arbeitsplatz noch durch eine Wohnung mit
Basel tatsächlich verbunden war, hatte sie daher dort keinen Wohnsitz
mehr. Dass sie, falls sich ihr Wohnsitz am 1. September 1969 nicht mehr
in Basel befunden haben sollte, einen solchen anderswo begründet habe,
hat sie selber nie behauptet. Somit hatte sie im massgebenden Zeitpunkt
keinen Wohnsitz und ist die Beschwerde wegen Verletzung des Art. 59
BV unbegründet.