Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 96 IV 91



96 IV 91

23. Entscheid der Anklagekammer vom 29. Juni 1970 i.S. Staatsanwaltschaft
des Kantons St. Gallen gegen Verhöramt des Kantons Glarus. Regeste

    Art. 350 Ziff. 1 Abs. 2 StGB, Art. 263 BStP.

    1.  Die nachträgliche Änderung eines von der Anklagekammer
festgesetzten oder von den Kantonen vereinbarten Gerichtsstandes ist nur
aus triftigen Gründen zulässig (Erw. 1).

    2.  Umstände, die bei Aufdeckung neuer Straftaten eine solche Änderung
rechtfertigen (Erw. 2).

Sachverhalt

    A.- Peter Spillmann, von Niederhasli (ZH), wurde auf Grund eines
Haftbefehls des Verhöramtes des Kantons Schwyz vom 24. Juni 1969 in
der Bundesrepublik Deutschland verhaftet, am 3. Februar 1970 an die
Schweiz ausgeliefert und am gleichen Tage den Behörden des Kantons Schwyz
zugeführt.

    Am 3. März 1970 traf die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen
einen "Gerichtsstands-Entscheid", den sie ausser den Behörden des Kantons
Schwyz auch dem Verhöramt des Kantons Glarus und den Staatsanwaltschaften
der Kantone Graubünden und Aargau mitteilte. Sie stellte darin fest, es
lägen gegen Spillmann sechs Strafanzeigen wegen Einbruchsdiebstahls vor,
wobei sich der Tatort in je einem Falle in den Kantonen St. Gallen,
Glarus, Aargau und Graubünden und in zwei Fällen im Kanton Schwyz
befinde. Ausserdem werde Spillmann in drei Fällen des Betruges verdächtigt,
wovon der eine zum Nachteil einer im Kanton Zürich wohnenden Person
und die beiden anderen in Italien begangen worden seien. Ferner würden
ihm mit Travellerchecks in Deutschland und in Paris begangene Betrüge
zur Last gelegt. Die im Ausland gesetzten Tatbestände seien erst im
Verlaufe des Untersuchungsverfahrens bekannt und in das Verfahren
einbezogen worden. Der erste zur Anzeige gelangte Tatbestand sei der
im Kanton St. Gallen (Weesen) begangene Einbruch, der am 16. März 1968
angezeigt worden sei. Alle Taten seien mit gleicher Strafe bedroht, weshalb
Art. 350 Ziff. 1 Abs. 2 StGB anwendbar sei. Es lägen keine Umstände vor,
die eine Abweichung vom gesetzlichen Gerichtsstand aufdrängten. Für die
im Ausland verübten Taten wäre gemäss Art. 348 Abs. 1 StGB mangels eines
Wohnortes des Beschuldigten der Heimatkanton Zürich zuständig, so dass
die acht Tatbestände in fünf Kantonen gesetzt worden seien. Von einem
Schwerpunkt könne also nicht die Rede sein. Im Sinne dieser Erwägungen
werde die Zuständigkeit des Kantons St. Gallen gemäss Art. 350 Ziff. 1
Abs. 2 StGB anerkannt und das Bezirksamt Gaster mit der Durchführung der
Untersuchung betraut. Am 9. März 1970 liess das Verhöramt des Kantons
Schwyz Spillmann dem Bezirksamt Gaster zuführen. Die Untersuchung,
die dieses fortsetzte, ergab, dass der Beschuldigte weitere strafbare
Handlungen begangen hatte. Es werden ihm nunmehr insgesamt fünfzehn
Einbruchsdiebstähle zur Last gelegt, wovon fünf im Kanton Glarus, einer
im Kanton St. Gallen, drei im Kanton Zug, drei im Kanton Aargau, zwei
im Kanton Schwyz und einer im Kanton Graubünden begangen wurden. Die
Fälle von Betrug, die der Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen
schon am 3. März 1970 bekannt waren, bilden weiterhin Gegenstand des
Verfahrens. Daneben wird Spillmann ein weiterer Betrug vorgeworfen, den
er durch Verkauf eines gestohlenen Radioapparates begangen haben soll,
nach seinen Angaben vermutlich in Zürich, eventuell in Deutschland. Es
stellte sich heraus, dass nicht mehr der im Kanton St. Gallen (Weesen)
verübte Einbruchsdiebstahl, der am 16. März 1968 um 7.10 Uhr angezeigt
worden war, Anlass zur ersten Untersuchungshandlung gegeben hatte, sondern
ein im Kanton Glarus (Bilten) begangener, von dem die Kantonspolizei des
Kantons Glarus am 16. März 1968 um 6.20 Uhr Kenntnis erhalten hatte.

    Unter Berufung auf den neuen Sachverhalt ersuchte die
Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen am 27. Mai 1970 das Verhöramt
des Kantons Glarus, die Strafverfolgung zu übernehmen. Das Verhöramt des
Kantons Glarus lehnte dies am 29. Mai 1970 ab.

    B.- Mit Eingabe vom 16. Juni 1970 an die Anklagekammer des
Bundesgerichtes beantragt die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen,
die Behörden des Kantons Glarus zur Verfolgung und Beurteilung aller
dem Spillmann zur Last gelegten strafbaren Handlungen zuständig zu
erklären. Sie beruft sich auf Art. 350 Ziff. 1 Abs. 2 StGB.

    Das Verhöramt des Kantons Glarus beantragt, die Behörden des Kantons
St. Gallen zuständig zu erklären. Es ist der Auffassung, es bestehe kein
triftiger Grund, den Gerichtsstand zu ändern.

Auszug aus den Erwägungen:

              Die Anklagekammer zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach der Rechtsprechung der Anklagekammer ist die nachträgliche
Änderung eines von ihr festgesetzten oder von den Kantonen vereinbarten
Gerichtsstandes nur aus triftigen Gründen zulässig (BGE 69 IV 46 Erw. 2,
71 IV 61, 85 IV 210 Erw. 3). Diese Rechtsprechung geht darauf zurück,
dass gewisse Kantone, wenn sie die Strafverfolgung wegen der in ihrem
Gebiete verübten strafbaren Handlungen nachträglich einstellen, sich der
Pflicht zur Verfolgung und Beurteilung der übrigen Taten zu entziehen
versuchten. In der teilweisen Einstellung der Verfolgung konnte die
Anklagekammer nicht leichthin einen Grund zur Änderung des Gerichtsstandes
sehen, weil Einstellungsbeschlüsse in der Regel erst gefasst werden, wenn
der Sachverhalt, soweit überhaupt möglich, abgeklärt, die Untersuchung
also abgeschlossen ist. Auch wollte sie der Versuchung der Behörden,
zuerst nur die im eigenen Kanton ausgeführten Taten zu untersuchen und
sich nachher der Sache zu entledigen, vorbeugen.

    In der vorliegenden Sache verhält es sich anders. Es liegt kein
Einstellungsbeschluss vor. Das Bezirksamt Gaster hat sich bemüht, die
vorerst nur teilweise bekannt gewesene Kette strafbarer Handlungen des
Beschuldigten umfassend zu ermitteln. Der "Gerichtsstands-Entscheid" der
Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen vom 3. März 1970 beruhte auf
unvollständiger Kenntnis der tatsächlichen Verhältnisse. Würden in einem
solchen Falle der Änderung des Gerichtsstandes durch die Rechtsprechung
der Anklagekammer erhebliche Hindernisse in den Weg gelegt, so müsste
die Bereitschaft der Kantone, die Untersuchung vorläufig an die Hand zu
nehmen und weitere Abklärung zu schaffen, erlahmen. Die Strafverfolgung
würde dadurch gerade in jenen Fällen, in denen die Zusammenarbeit der
Kantone am nötigsten ist, erheblich leiden (vgl. BGE 94 IV 47). Allerdings
soll auch bei nachträglicher Aufdeckung neuer strafbarer Handlungen der
Gerichtsstand nicht jedesmal sofort geändert werden. Den Kantonen kann aber
zugemutet werden, in solchen Fällen die Änderung leichter anzuerkennen,
und die Anklagekammer hat sie eher zu verfügen. Der "triftige Grund"
ist hier weiter auszulegen als in den Fällen, die zu der erwähnten
Rechtsprechung Anlass gegeben haben.

Erwägung 2

    2.- Das Verhöramt des Kantons Glarus geht fehl, wenn es geltend
macht, es rechtfertige sich nicht, wegen des geringfügigen zeitlichen
Unterschiedes von fünfzig Minuten, mit dem die beiden Strafanzeigen
vom 16. März 1968 erstattet wurden, den Gerichtsstand zu ändern. Der
entscheidende Grund der nachgesuchten Änderung liegt nicht in diesem
Zeitunterschied, sondern darin, dass dem Beschuldigten am 3. März
1970 nur sechs Fälle von Einbruchsdiebstahl zur Last gelegt wurden,
während es heute deren fünfzehn sind, und dass damals der Tatort nur je
in einem Falle in den Kantonen Glarus und St.Gallen lag, heute aber in
fünf Fällen im Kanton Glarus und nach wie vor nur in einem Falle im Kanton
St. Gallen. Das Verhöramt des Kantons Glarus versucht zwar das Verbrechen,
das Spillmann in der Nacht vom 15. auf 16. März 1968 in Weesen beging,
in drei Fälle aufzulösen, weil der Beschuldigte damals in drei Baracken
eingedrungen sei. Die drei Baracken standen aber aneinander gereiht im
gleichen Steinbruch und gehörten em und derselben Firma, die daselbst ein
Hartschotterwerk betreibt. Diebstähle wurden nur in zwei dieser Baracken
begangen, und die Schlüssel zur dritten lagen in der zweiten, wo der Täter
sie denn auch behändigte. Das ganze Vorgehen ist offensichtlich als ein
einziges Verbrechen zu würdigen, gleich wie wenn ein Einbrecher in einem
Geschäftshause in mehrere Räume eindringt. Dem Verhöramt des Kantons
Glarus kann auch nicht beigepflichtet werden, wenn es im Bestreben, die
Gerichtsbarkeit in weiteren Fällen dem Kanton St. Gallen zuzuschreiben,
geltend macht, Spillmann habe vor seiner Ausreise in das Ausland bei
seinen Eltern in Amden und vorher bei seiner (nunmehr geschiedenen)
Ehefrau in Buchs (SG) gewohnt, so dass für die im Ausland begangenen
Handlungen St. Gallen zuständig wäre. Bei der Gerichtsstandsvereinbarung
vom 3. März 1970 sind die Behörden davon ausgegangen, Spillmann habe in
der Schweiz keinen Wohnort, so dass er für die im Ausland verübten Taten
an sich in seinem Heimatkanton Zürich verfolgt werden müsste (Art. 348
Abs. 1 StGB). Hieran hat sich nichts geändert.

    Bleibt es somit dabei, dass heute der Kanton St. Gallen nach wie vor
nur mit dem Falle von Weesen an der Sache beteiligt ist, der Kanton Glarus
dagegen in fünf Fällen, die zudem auch im Hinblick auf die Diebsbeute
erheblich schwerer wiegen als der St. Galler Fall, so rechtfertigt es sich,
Glarus zuständig zu erklären, das nach dem Grundsatz der Prävention in
der Anhebung einer Untersuchung (Art. 350 Ziff. 1 Abs. 2 StGB) zuständig
ist. Ob das im Kanton Glarus liegende Übergewicht der verbrecherischen
Tätigkeit Spillmanns es auch rechtfertigen würde, in Anwendung des
Art. 263 BStP vom Gerichtsstand des Art. 350 Ziff. 1 StGB abzuweichen,
wenn sich dieser im Kanton St. Gallen befände, kann offen bleiben. Der
gesetzliche Gerichtsstand befindet sich nicht im Kanton St. Gallen,
sondern im Kanton Glarus, weshalb sich diese Frage gar nicht stellt.

    Dem Verhöramt des Kantons Glarus hilft auch der Einwand nicht, die
Untersuchung sei bald abgeschlossen. Sollte dies zutreffen, so werden
die Behörden des Kantons Glarus umso mehr aus der vom Bezirksamt Gaster
geleisteten Arbeit Nutzen ziehen; sie haben diese Arbeit nicht nochmals zu
leisten (BGE 94 IV 48). Den Behörden des Kantons St. Gallen kann auch nicht
etwa vorgeworfen werden, sie hätten die Untersuchung verschleppt und die
Änderung des Gerichtsstandes über Gebühr hinausgeschoben. Vom 3. März bis
zum Ansuchen vom 27. Mai 1970 sind nicht einmal drei Monate verstrichen.

Entscheid:

Demnach erkennt die Anklagekammer:

    Das Gesuch wird gutgeheissen, und die Behörden des Kantons Glarus
werden zuständig erklärt, Peter Spillmann für die ihm zur Last gelegten
strafbaren Handlungen zu verfolgen und zu beurteilen.