Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 96 IV 80



96 IV 80

19. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 3. Juli 1970
i.S. Schneider gegen Statthalteramt Bülach Regeste

    Art. 35 Abs. 4 SVG; Überholen auf Strassenverzweigungen.

    Das Verbot, auf unübersichtlichen Strassenverzweigungen zu überholen,
gilt nur für gleichwertige Strassen. Auf Hauptstrassen darf auch überholt
werden, wenn die einmündende Nebenstrasse unübersichtlich ist (Art. 11
Abs. 4 VRV). Auslegung des Begriffs "auf Strassenverzweigungen".

Auszug aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Gemäss Art. 35 Abs. 4 SVG darf in unübersichtlichen Kurven, auf
und unmittelbar vor Bahnübergängen ohne Schranken sowie vor Kuppen nicht
überholt werden, auf Strassenverzweigungen nur, wenn sie übersichtlich
sind und das Vortrittsrecht anderer nicht beeinträchtigt wird.

    Soweit das Überholen auf Strassenverzweigungen in Frage steht, gilt
der Grundsatz des Gesetzes indessen nur für gleichwertige Strassen. Der
auf der Hauptstrasse Fahrende darf auch auf unübersichtlichen Verzweigungen
überholen (Art. 11 Abs. 4 VRV).

    b) Die Vorinstanz wirft dem Beschwerdeführer vor, er habe vor der
Strassenverzweigung überholt, obschon er nach Art. 11 Abs. 4 VRV erst
auf derselben hätte überholen dürfen. Dieser Rechtsauffassung ist nicht
zuzustimmen. Aus der Entstehungsgeschichte von Art. 35 Abs. 4 SVG ergibt
sich, dass "auf" Strassenverzweigungen mit "bei" oder "im Bereiche
von" Strassenverzweigungen gleichgesetzt werden muss. Der Vorentwurf
zum SVG vom Januar 1952 enthielt keine besondere Vorschrift über das
Überholen bei Kreuzungen. Die Frage, ob bei Kreuzungen das Überholen
entgegen den Vorschriften des MFG zu gestatten sei, gab bereits bei
den ersten Beratungen der ausserparlamentarischen Expertenkommission zu
Diskussionen Anlass. Nachdem diese in der Sitzung vom 10./11. November
1952 grundsätzlich beschlossen hatte, das Überholen bei Kreuzungen,
allerdings durch ein "Temperament" abgeschwächt, zu gestatten, lautete
die Bestimmung im Vorentwurf vom 9. Mai 1953 (Art. 36 Abs. 3):

    "Auf Bahnübergängen und Strassenkreuzungen darf nicht überholt werden."

    Dazu war in Klammer als Eventuallösung folgende Abschwächung
vorgesehen:

    "Auf Bahnübergängen, unübersichtlichen Kurven und bei Schulen darf
nicht überholt werden, auf Strassenkreuzungen, Gabelungen und Einmündungen
nur, wenn das Vortrittsrecht anderer Fahrzeuge nicht beeinträchtigt wird."

    In der Folge ging die Eventuallösung in etwas modifizierter
Form ins Gesetz über, wobei die Formulierung "auf Strassenkreuzungen
..." dem Grundsatz nach beibehalten wurde, obschon auch in den späteren
Beratungen durchwegs der Ausdruck "bei" Verwendung fand. Das Wort "auf"
hatte solange einen guten Sinn, als für Kreuzungen ein Überholverbot
statuiert wurde. Missverständlich wurde es jedoch, als die Kommission das
Überholverbot aufhob und positiv regelte, wann das Überholen bei Kreuzungen
erlaubt sein soll. Unter diesen Umständen muss der gesetzliche Begriff
"auf" Strassenverzweigungen dahin verstanden werden, dass er auch den
Raum vor einer solchen mitumfasst. Es wäre denn auch nicht einzusehen,
warum vor einer Verzweigung nicht soll überholt werden können, wenn auf
dieser selber das Überholen gestattet ist.