Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 96 IV 72



96 IV 72

17. Urteil des Kassationshofes vom 3. Juli 1970 i.S. Berger gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden. Regeste

    Art. 310 Ziff. 1 StGB; Befreiung von Gefangenen.

    1.  Die Anwendung von Gewalt, Drohung oder List ist auch für die
Hilfe zur Flucht erforderlich (Erw. 2).

    2.  Die Begünstigung eines bereits in Freiheit gelangten Gefangenen
fällt nicht unter Art. 310 StGB (Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- Der im März 1969 auf Veranlassung seines Vormundes wegen
Liederlichkeit in die Arbeitserziehungsanstalt Realta eingewiesene Nikolaus
Rozeck vereinbarte anlässlich eines Besuches seiner Braut Elisabeth Marugg
am 7. April 1969 mit dieser, dass sie ihn am Abend des 12. April 1969 mit
einem Auto an einer bestimmten Stelle in der Nähe der Anstalt erwarten
werde. Fräulein Marugg sicherte sich die Mitwirkung ihrer Freundin
Katharina Suter, und diese zog ihren Freund Hans Frey ins Vertrauen.

    Die drei fuhren am 12. April 1969 mit einem auf Veranlassung des Frey
durch den Taxichauffeur Hans-Ulrich Berger gemieteten Auto nach Chur.
Ursprünglich war beabsichtigt, dass Berger den Wagen steuern sollte. Im
Einvernehmen mit Frey blieb er aber zuhause, um nicht in die Sache
verwickelt zu werden. In Chur mieteten die drei einen zweiten Wagen und
fuhren nach Realta weiter. Auf das vereinbarte Hupsignal halfen sich Rozeck
und der von diesem eingeweihte Mitinsasse Walter Bachmann gegenseitig beim
Übersteigen der Mauer. Sie gelangten zu den wartenden Autos und fuhren
mit ihren Helfern nach Zürich. In der Wohnung von Berger gab dieser dem
nur mit Hemd und Hose bekleideten Bachmann abgelegte Kleider sowie Geld
und führte ihn darauf im Auto nach Urdorf.

    Berger war von Anfang an über die ganze Sachlage unterrichtet.

    B.- Das Kreisgericht Thusis erklärte am 5. November 1969 Marugg,
Suter, Berger und Rozeck der Gefangenenbefreiung gemäss Art. 310 Ziff. 1
StGB schuldig. (Das Verfahren gegen Frey war nach Zürich überwiesen und
dort eingestellt worden.)

    Berger wurde zu 10 Tagen Gefängnis mit bedingtem Strafvollzug
verurteilt. Im Berufungsverfahren setzte der Kantonsgerichtsausschuss
von Graubünden am 19. März 1970 die Gefängnisstrafe auf 5 Tage herab.

    C.- Berger führt gegen das kantonsgerichtliche Urteil
Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag auf Freisprechung. Er macht geltend,
die Vorinstanz habe Art. 310 Ziff. 1 StGB verletzt, weil weder Gewalt
noch List oder Drohung angewandt und die Flucht aus der Anstalt ohne
fremde Hilfe bewerkstelligt worden sei.

    Die Staatsanwaltschaft beantragt Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Befreiung von Gefangenen gemäss Art. 310 Ziff. 1 StGB macht
sich schuldig, "wer mit Gewalt, Drohung oder List einen Verhafteten,
einen Gefangenen oder einen andern auf amtliche Anordnung in eine Anstalt
Eingewiesenen befreit oder ihm zur Flucht behilflich ist".

Erwägung 2

    2.- Es liegt auf der Hand, dass der Beschwerdeführer weder mit der
Miete des Wagens und dessen Überlassung an die Fluchthelfer noch durch
das Zurverfügungstellen seiner Wohnung und das Aushelfen mit Kleidern und
Geld Gewalt, Drohung oder List angewandt hat. Auch die Vorinstanz nimmt
das nicht an. Hingegen vertritt sie die Auffassung, die Anwendung von
Gewalt, Drohung oder List sei nur für die eigentliche Gefangenenbefreiung
erforderlich, nicht auch für die Hilfe zur Flucht.

    a) Die Berufung des Kantonsgerichts auf HAFTER, Bes. Teil S. 816,
schlägt nicht durch. Dieser findet, wenn man Gewalt, Drohung und List auch
bei der Hilfe zur Flucht fordere, werde dieser Tatbestand ungebührlich
eingeengt. Er untersucht indessen nicht, ob diese Lösung dem Sinn des
Gesetzes entspreche. VASALLI, L'evasione nel diritto penale svizzero
S. 127, nimmt an, dies sei die Auffassung der Doktrin, verweist jedoch
lediglich auf HAFTER.

    b) Wie VASALLI, aaO, zutreffend feststellt, ist die von HAFTER
vertretene Meinung das Gegenteil dessen, was der historische Gesetzgeber
wollte. Das geht aus ZUERCHERS Motiven zum Vorentwurf von 1908 (S. 384
a.E.) hervor; ferner aus dem Votum MUELLER in der 2. Expertenkommission
(Prot. V S. 261), der erklärte: "Man ist einig, dass sich die Worte
Gewalt, Drohung oder List auf die Befreiung und auf die Hilfeleistung
dazu beziehen sollen".

    c) Dieser Wille ist im Wortlaut des Art. 310 Ziff. 1 StGB unvollkommen
zum Ausdruck gebracht worden. Er lässt in allen drei Sprachen die eine wie
die andere Auffassung zu. Immerhin spricht die grammatikalische Auslegung
eher dafür, dass die Einschränkung beide Begehungsformen erfassen soll.

    d) Dem Zweckgedanken und der Systematik des Gesetzes entspricht
es, auch die Hilfe zur Flucht lediglich dann gemäss Art. 310 StGB zu
bestrafen, wenn List, Gewalt oder Drohung angewandt wurden. Das Gesetz
lässt den einzelnen Gefangenen, der sich selbst befreit, straflos. Auch
derjenige ist nicht nach Art. 310 strafbar, der einen Gefangenen ohne
Anwendung von List, Gewalt oder Drohung befreit. Befreiungshandlungen
greifen jedoch unmittelbarer in den Anstaltsgewahrsam ein als die blosse
Hilfe zur Flucht. Es ist nicht einzusehen, wieso letztere strafwürdiger
sein sollte als die eigentliche Befreiung.

    Die Fluchthilfe für einen Strafgefangenen bleibt nicht straflos,
wenn sie ohne Anwendung von Gewalt, List oder Drohung geschieht. In
diesem Falle kommt Art. 305 zur Anwendung, der jeden mit Strafe bedroht,
der jemanden der Strafverfolgung, dem Strafvollzug oder dem Vollzug einer
richterlich angeordneten Massnahme entzieht. Art. 305 betrifft indessen
nur die dort abschliessend aufgezählten Kategorien von Gefangenen.

    Administrativ Eingewiesene fallen nicht darunter. Wer einen
administrativ Verwahrten, der sich dem Zugriff der Behörden entzogen
hat, begünstigt, ist nach Art. 305 nicht strafbar. Wird jedoch ein
administrativ Verwahrter mit List, Gewalt oder Drohung befreit oder
wird ihm auf solche Weise zur Flucht verholfen, kommt Art. 310 StGB
zum Zug. Weil die Anwendung dieser besonderen Mittel ein besonderes
Bedürfnis nach Bestrafung schafft, sind bei Art. 310 die administrativ
Eingewiesenen richtigerweise nicht ausgeklammert worden. Wollte man mit
der Vorinstanz annehmen, die Fluchtbegünstigung sei nach Art. 310 in
jedem Falle strafbar, auch ohne Anwendung von List, Gewalt oder Drohung,
dann würde der bewussten Einschränkung des Art. 305 StGB auf Strafgefangene
für diese Form der Tatbegehung die praktische Bedeutung genommen.

    Die Vorinstanz hat somit Art. 310 StGB verletzt, indem sie den
Beschwerdeführer verurteilte, obwohl er weder List noch Gewalt oder
Drohung angewandt hat. 3. - Die Vorinstanz ist ferner der Auffassung,
Art. 310 StGB finde auch auf die Begünstigung eines bereits in Freiheit
gelangten Gefangenen Anwendung, der sich einer neuerlichen Verhaftung und
Rückversetzung in eine Anstalt zu entziehen trachtet. Dementsprechend hat
sie Berger dafür bestraft, dass er das Auto zur Verfügung stellte und
nachher Bachmann mit Kleidern und Geld aushalf. Damit hat sie Art. 310
erneut verletzt.

    Die Gefangenenbefreiung ist vollendet im Augenblick, wo der Gefangene
die Freiheit erlangt hat. Die Flucht ist gelungen, wenn der Gefangene
alle zur Sicherung des Gewahrsams aufgerichteten Hindernisse überwunden
hat. Nur bis zu diesem Zeitpunkt kann ein Dritter dem Gefangenen zur Flucht
verhelfen. Die Hilfe, die dem Flüchtigen nach der Befreiung gewährt wird,
fällt nicht unter Art. 310 StGB. Dem entspricht auch die unzweideutige
Formulierung dieser Bestimmung: Bestraft wird der Dritte, der einem
Gefangenen "zur Flucht" hilft. Noch deutlicher sind die romanischen Texte:
"... fait évader une personne arrêtée. .. ou lui aura prêté assistance
pour s'évader. .." und ". .. o le presta aiuto nell'evasione. ..". Die
Hilfe zur Flucht muss also bei der Entweichung, bei der Befreiung geleistet
werden, um unter Art. 310 StGB zu fallen. Dass die später geleistete Hilfe
auch nach Art. 305 nicht bestraft wird, wenn der Geflohene administrativ
eingewiesen war, entspricht dem Willen des Gesetzes und darf vom Richter
nicht durch eine sinn- und zweckwidrige Auslegung von Art. 310 geändert
werden.

Erwägung 4

    4.- Ob anders zu entscheiden wäre für den Fall, dass die Flucht
ohne die Zusicherung der späteren Hilfeleistung durch einen Dritten
unterblieben wäre, kann dahingestellt bleiben. Es wird nicht behauptet,
die beiden Anstaltsinsassen wären ohne die von Berger geleistete Hilfe
nicht entwichen.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Kantonsgerichtes Graubünden vom 19. März 1970 aufgehoben und die Sache
zur Freisprechung des Beschwerdeführers an die Vorinstanz zurückgewiesen.