Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 96 IV 118



96 IV 118

31. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 11. Dezember 1970
i.S. Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn gegen X. und Konsorten.
Regeste

    Begriff des Frauenhandels gemäss Art. 202 StGB.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die Vorinstanz sah in der Anwerbung von Frauen durch Frau X. für
das eigene Etablissement in Abidjan keinen Frauenhandel im Sinne des
Art. 202 StGB. Sie hielt dafür, dass nicht Händler sein könne, wer für
das eigene Geschäft Frauen anwerbe. Die Annahme von Frauenhandel setze
voraus, dass ein Dritter hinzutrete, welchem die angeworbenen Frauen
überliefert würden.

    Demgegenüber vertritt die Staatsanwaltschaft die Auffassung, dass
der Begriff des Handeltreibens im Sinne von Art. 202 StGB weiter als der
übliche Begriff des Handels gehe; denn Ziff. 1 der zitierten Bestimmung
stemple bereits das Anwerben, Verschleppen oder Entführen zum Handel,
d.h. das durch Art. 202 StGB geschützte Rechtsgut liege bereits im
Schutz der Frauen und Kinder davor, dass sie angeworben, verschleppt oder
entführt würden, um der Unzucht zugeführt zu werden. Das Schutzbedürfnis
der potentiellen Opfer hange nicht davon ab, ob der Täter in Gewinnsucht
Handel treibe. Art. 202 StGB setze denn auch keine Gewinnsucht oder
Gewerbsmässigkeit voraus.

Erwägung 2

    2.- Nach dem Wortlaut von Art. 202 Ziff. 1 StGB lassen sich mit guten
Gründen beide Auffassungen vertreten und es fragt sich, welcher Sinngehalt
dieser Bestimmung zukommt.

    a) In den verschiedenen Vorentwürfen zum StGB wurde der Tatbestand
des Frauen- oder Mädchenhandels verschieden, enger oder weiter als in
der heutigen Fassung, umschrieben. Die schweizerische Gesetzgebung wurde
indessen massgeblich von den internationalen Übereinkommen her beeinflusst,
welche im Bestreben abgeschlossen worden waren, den international
tätigen, bestens organisierten Mädchenhändlern das Handwerk zu legen,
welche insbesondere die Bordelle in aller Welt mit immer neuer "Ware"
versorgten oder aber auch Lebemännern Frauen überlieferten. Bereits im
Jahre 1905 schloss sich die Schweiz dem internationalen Übereinkommen
betreffend Unterdrückung des Mädchenhandels vom 18. Mai 1904 an,
welches die Vertragsstaaten zur Unterdrückung dieses Handels verschiedene
staatliche Einrichtungen zu schaffen verpflichtete. Dass die Kontrahenten
Strafbestimmungen erlassen müssten, sah es nicht vor (AS n.F. Bd. 21
S. 37 ff.). Dies geschah dagegen im internationalen Übereinkommen zur
Bekämpfung des Mädchenhandels vom 4. Mai 1910, welches die Schweiz erst
im Jahre 1925 ratifizierte. Nach dessen Art. 1 und 2 verpflichteten sich
die Vertragsstaaten, den mit Strafe zu bedrohen, der, um der Unzucht eines
andern Vorschub zu leisten, eine minderjährige Frau oder ein minderjähriges
Mädchen, selbst mit deren Einwilligung, zu unsittlichem Zwecke anwirbt,
verschleppt oder entführt, oder der, um der Unzucht eines andern Vorschub
zu leisten, eine volljährige Frau oder ein volljähriges Mädchen durch
Täuschung oder mittels Gewalt, Drohung, Missbrauch des Ansehens oder
durch irgendein anderes Zwangsmittel zu unsittlichem Zwecke anwirbt,
verschleppt oder entführt, auch wenn die einzelnen Tatsachen, welche die
Merkmale der strafbaren Handlung bilden, auf verschiedene Länder entfallen.

    Als Minderjährige wurden dabei im Schlussprotokoll gemäss lit. B
die weniger als zwanzig Jahre alten Mädchen und Frauen bezeichnet (AS
n.F. Bd. 42 S. 180, 185). In der späteren Übereinkunft vom 30. September
1921 wurde die Geltung der beiden genannten Übereinkommen von 1904 und
1910 auf den Handel mit Kindern beiderlei Geschlechts ausgedehnt und
das Schutzalter für Minderjährige gleichzeitig auf 21 Jahre erhöht (AS
n.F. Bd. 42 S. 187/8).

    Da im Bund vorerst die Grundlagen zur Ratifikation des Abkommens
von 1910 geschaffen werden mussten, fanden die internationalen Abkommen
ihren Niederschlag vorerst in den Entwürfen zum StGB. Dessen endgültige
Verabschiedung liess indessen auf sich warten, so dass sich der Bundesrat
entschloss, ein besonderes Gesetz über die Bekämpfung des Frauen- und
Kinderhandels zu erlassen, damit er die Übereinkunft von 1910 ratifizieren
lassen konnte. Am 25. November 1924 legte der Bundesrat den Entwurf
eines solchen Bundesgesetzes vor und beantragte der Bundesversammlung
gleichzeitig die Ratifikation der internationalen Übereinkommen von
1910 und 1921. Gemäss Art. 1 des Gesetzesentwurfes hätte bestraft
werden sollen,

    -  wer, um der Unzucht eines andern Vorschub zu leisten, eine Person,
die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, anwirbt, verschleppt
oder entführt;

    - wer, um der Unzucht eines andern Vorschub zu leisten, eine weibliche
Person, die das 21. Lebensjahr vollendet hat, gewerbsmässig oder durch
Täuschung, Gewalt, Drohung, Missbrauch ihrer Notlage oder ihrer durch
ein Amts- oder Dienstverhältnis oder auf ähnliche Weise begründeten
Abhängigkeit oder durch irgendein anderes Zwangsmittel anwirbt, verschleppt
oder entführt;

    - wer Anstalten zu gewerbsmässigem Frauen- oder Kinderhandel trifft.

    Die Botschaft führte aus, das Verhandeln selbst sei deshalb als
Tatbestandsmerkmal nicht genannt worden, weil das Delikt des Frauenhandels
schon mit dem Anwerben und Befördern zum Zwecke des Verhandelns vollendet
sei. Werde das Verhandeln von einer am Anwerben und Verschleppen nicht
beteiligten Person besorgt, so sei es regelmässig als Kuppelei, als Versuch
hiezu oder als Gehilfenschaft oder Begünstigung bei Frauenhandel strafbar
(Bundesblatt 1924, Band III, S. 1018 f.).

    Die Kommission des Ständerates beantragte für Art. 1 Ziff. 1 die
Fassung:

    "Wer Frauen- oder Kinderhandel treibt, indem er eine Person, die
das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, anwirbt, verschleppt oder
entführt, um der Unzucht eines andern Vorschub zu leisten, wer Frauenhandel
treibt, indem er eine weibliche Person, die das 21. Lebensjahr vollendet
hat, gewerbsmässig oder durch Täuschung, Gewalt, Drohung, Missbrauch ihrer
Notlage oder ihrer durch ein Amts- oder Dienstverhältnis oder auf ähnliche
Weise begründeten Abhängigkeit oder durch irgendein anderes Zwangsmittel
anwirbt, verschleppt oder entführt, um der Unzucht eines andern Vorschub
zu leisten, wird mit Zuchthaus bestraft." (Sten. Bull. des Ständerates
1925, S. 17).

    Der Berichterstatter der ständerätlichen Kommission erklärte dazu,
dass mit der vorgeschlagenen Formulierung klar gemacht worden sei, dass
die einzeln aufgeführten Tatbestände nach dieser Bestimmung nur dann
strafbar seien, wenn sie einen Akt des Handeltreibens mit Frauen oder
Kindern darstellten (Sten. Bull. des Ständerates 1925, S. 18). Bundesrat
Häberlin lehnte diese Fassung als zu weitgehend entschieden ab.

    Die nationalrätliche Kommission schlug in der Folge vor, es sei
zu bestrafen,

    "wer, um der Unzucht eines andern Vorschub zu leisten, mit Frauen
oder Minderjährigen Handel treibt, insbesondere indem er sie anwirbt,
verschleppt oder entführt" (Sten. Bull. des Nationalrates 1925, S. 525).

    Wie den Ausführungen des Berichterstatters der nationalrätlichen
Kommission zu entnehmen ist, deckte sich der Vorschlag der Kommission
mit jenem der 2. Expertenkommission für das StGB (Sten. Bull. des
Nationalrates 1925, S. 526). In den Beratungen im Nationalrat erklärte
Bundesrat Häberlin, dieser Fassung könne er deshalb zustimmen, weil Art. 1
nun klar sage, dass nur ein eigentliches "Handeln" oder "Verhandeln" von
Frauen als Frauenhandel bestraft werden solle, wogegen der bundesrätliche
Entwurf einzelne Tatbestände enumeriere, nicht aber vom Handeltreiben
gesprochen habe (Sten. Bull. des Nationalrates 1925, S. 527). Die von
der nationalrätlichen Kommission vorgeschlagene Fassung fand m beiden
Räten Zustimmung (AS n.F. Band 42, S. 9); später wurde Art. 1 Ziff. 1
des Bundesgesetzes über Frauen- und Kinderhandel unverändert ins StGB
übernommen.

    Die historische Auslegung spricht demnach dafür, dass Art. 202 StGB nur
Anwendung findet, wenn der Täter tatsächlich Handel treibt, nicht dagegen
wenn er, ohne an einem Handeltreiben beteiligt zu sein, Frauen anwirbt,
verschleppt oder entführt, wenngleich in beiden Fällen seine Tätigkeit
objektiv genau die gleiche sein kann. Dies lässt sich insbesondere den
Voten in den parlamentarischen Beratungen entnehmen.

    b) Den gleichen Schluss erlaubt die teleologische
Auslegungsmethode. Die Bestimmungen über den Frauen- und Kinderhandel
sollen dem international tätigen, organisierten Händlertum den Riegel
schieben, welches insbesondere den Nachschub "lebender Ware" für die
Bordelle in aller Welt besorgt. Zu diesem Zwecke wurden denn auch
die verschiedenen internationalen Abkommen geschlossen, von welchen
seinerseits Art. 202 StGB ausging. Diese Bestimmung will also die
Lieferanten gewerbsmässiger Kuppler, die Vermittlung "lebender Ware"
an diese treffen (THORMANN/VAN OVERBECK, Schweiz. Strafgesetzbuch,
bes. Teil, N. 1 zu Art. 202 StGB; HAFTER, Frauen- und Kinderhandel,
Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht, Band 46, 1932, S. 295;
SCHWANDER, Das Schweizerische Strafgesetzbuch, S. 424, Nr. 650).

    c) Im Schrifttum behauptet einzig Stämpfli, jede der angeführten
Handlungen (Anwerben, Verschleppen, Entführen) stehe selbständig
unter Strafe; er setzt nicht voraus, dass diese Tätigkeiten mit einem
Handeltreiben in Verbindung stehen müssen (STÄMPFLI, SJZ, Band 22, S. 296).
Demgegenüber erklärt HAFTER (Schweizerisches Strafrecht, bes. Teil I, S.
154), dass alles, was der Frauen- oder Kinderhändler im einzelnen vorkehre,
nur Teil des Handeltreibens sei. Der Händler werde, bis er ein Geschäft
abgeschlossen habe, Art. 202 StGB regelmässig mehrfach erfüllen: Er treffe
Anstalten, seine Beziehungen spielen zu lassen, unterhandle, werbe an
und verschleppe vielleicht auch. Alle diese Tätigkeiten müssten unter dem
Gesichtspunkt des Handeltreibens zu einer Deliktseinheit zusammengefasst
werden. In gleicher Weise verstehen THORMANN/VAN OVERBECK (aaO. N. 4) und
SCHWANDER (aaO) das Anwerben, Verschleppen oder Entführen als Teilakte
des Handeltreibens, und auch LOGOZ (Commentaire du Code pénal suisse,
partie spéciale I, p. 346) legt das Schwergewicht auf den Begriff des
Handeltreibens (commerce).

    Wenn aber die in Art. 202 Ziff. 1 StGB aufgeführten Tätigkeiten als
Teilakt des Handeltreibens zu verstehen sind, so muss umgekehrt geschlossen
werden, dass diese Handlungen nur dann unter Art. 202 StGB fallen können,
wenn ihnen im Rahmen eines Frauen- oder Kinderhandels Bedeutung zukommt
(HAFTER, Frauen- und Kinderhandel, aaO). Daher kann nicht schon jedes
Anwerben, Verschleppen oder Entführen als Frauen- oder Kinderhandel
angesprochen werden. Dies ist auch daraus abzuleiten, dass verschiedene
andere Bestimmungen des StGB Schutz gegen solche Handlungen bieten;
so sind insbesondere Art. 182 und 183 StGB geeignet, das Verschleppen
oder Entführen als strafbare Handlung zu erfassen, wenn eine Verbindung
zu einem eigentlichen Frauenhandel fehlt. Liegt ein solcher jedoch vor,
so gilt Art. 202 als Spezialbestimmung alle mit dem Frauenhandel in
Beziehung stehenden Tätigkeiten ab (SCHNEIDER, Der Mädchenhandel und
seine Bekämpfung im Schweiz. Recht, S. 157).

    d) Diese Überlegungen führen dazu, dass als Frauen- und Kinderhandel
nur der eigentliche Handel, das Verhandeln, das Vermitteln an Kuppler zu
bezeichnen ist. Stellen in Art. 202 Ziff. 1 StGB genannte Tätigkeiten
nicht Teilakte dieses Handeltreibens dar, so entfällt die Strafbarkeit
nach der genannten Bestimmung. Eine andere Betrachtungsweise würde den
Tatbestand von Art. 202 StGB übermässig ausweiten; auf diese Gefahr machte
neben Bundesrat Häberlin auch HAFTER in seinem Aufsatz über Frauen- und
Kinderhandel (aaO) aufmerksam. So müsste, wenn man Art. 202 StGB anders
als hier dargelegt auslegen wollte, möglicherweise bereits ein aktiver
Zuhälter als Frauenhändler bestraft werden, der eine Frau, die sich
bisher nicht als Dirne betätigte, auf die Strasse schickt. Desgleichen
müsste jeder Kuppler, welcher der Unzucht einer neu in seinen "Dienst"
tretenden Prostituierten - sei sie dies bereits oder nicht - Vorschub
leistet, nach Art. 202 StGB bestraft werden. Denn in beiden Fällen muss
die Frau zuerst angeworben werden: im Falle des Zuhälters dazu, dass sie
überhaupt der gewerbsmässigen Unzucht nachgeht, und im Falle des Kupplers
dazu, dass dieser ihr seine eigenen Kunden zuführen kann. Diese Tragweite
kommt Art. 202 StGB nicht zu.