Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 96 II 69



96 II 69

16. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 25. September 1970
i.S. S. gegen H. Regeste

    Rechtsmittelbelehrung; Frist für die Berufung an das Bundesgericht. Der
in Art. 107 Abs. 3 OG für das Gebiet der Verwaltungsrechtspflege
aufgestellte Grundsatz, dass den Parteien aus einer unrichtigen
Rechtsmittelbelehrung keine Nachteile erwachsen dürfen, gilt allgemein. Der
Berufungskläger darf sich auf eine ihm vom obern kantonalen Gericht
erteilte Belehrung über die Dauer der Berufungsfrist (Art. 54 OG)
verlassen, es sei denn, dass ihre Unrichtigkeit ihm bekannt oder für ihn
ohne weiteres klar erkennbar war. Fall, dass das obere kantonale Gericht
die Frist für die Berufung gegen ein vor dem 1. Oktober 1969 gefälltes
Urteil mit 30 Tagen statt gemäss Ziff. III Abs. 2 und 3 des Bundesgesetzes
vom 20. Dezember 1968 über die Änderung des OG mit 20 Tagen angegeben hat
(Erw. 1).

    Ehescheidung; Gestaltung der Elternrechte (Art. 156 ZGB).

    1.  Im Scheidungsverfahren gilt für die Kinderzuteilung die
Offizialmaxime (Erw. 2).

    2.  Voraussetzungen, unter denen bei der Ehescheidung die elterliche
Gewalt beiden Ehegatten entzogen werden darf (Zusammenfassung der
Rechtsprechung; Erw. 3).

    3.  Wann ist ein Ehegatte im Sinne von Art. 285 ZGB nicht imstande,
die elterliche Gewalt auszuüben? Die elterliche Gewalt darf nicht entzogen
werden, wenn Massnahmen nach Art. 283/284 ZGB ausreichen (Erw. 4).

Sachverhalt

    A.- Am 30. September 1969 schied das Kantonsgericht die Ehe zwischen
der 1936 geborenen Klägerin und dem 1933 geborenen Beklagten (von Beruf
Uhrenmacher) auf beidseitiges Begehren gemäss Art. 142 ZGB. Beiden Parteien
wurde die elterliche Gewalt über ihre vier Kinder (drei Knaben und ein
Mädchen, geb. 1959-1964) entzogen. Diese Massnahme wird im Urteil des
Kantonsgerichts im wesentlichen wie folgt begründet:

    a) Im Verlaufe des Scheidungsverfahrens habe sich gezeigt, dass die
Klägerin (der die vier Kinder während des Verfahrens zugeteilt worden
waren) ihrer Aufgabe nicht gewachsen sei. Sie verfüge weder über die
geistigen Fähigkeiten noch insbesondere über die notwendige Energie,
um, auf sich selbst gestellt, die in der Kinderziehung erforderlichen
Entschlüsse zu fassen und konsequent zu verfolgen. Sie sei daher im Sinne
von Art. 285 ZGB nicht imstande, die elterliche Gewalt auszuüben.

    b) Dem Beklagten sei zwar vom Informationsdienst der
Vormundschaftsbehörde eine gewisse erzieherische Begabung nicht
abgesprochen worden. Abgesehen von seiner schweren körperlichen
Behinderung (der Beklagte ist seit seiner Geburt an beiden Beinen
gelähmt und kann nur mit zwei Oberschenkelstützen und zwei Stöcken gehen)
erwähne der Informationsdienst aber als wesentliches Hindernis für eine
Zuteilung der Kinder an ihn vor allem seine labile, unbeherrschte und oft
uneinsichtige Art. Seine ausgeprägte Ichbezogenheit und Unbeherrschtheit,
wie das psychiatrische Gutachten sie darlege, sprächen entscheidend gegen
eine solche Zuteilung. Diese Charaktermängel hätten das Familienleben
während Jahren überschattet. Solche Eigenschaften seien eine schlechte
Grundlage für die Pflege und Erziehung von Kindern, die in seelischer und
geistiger Beziehung einer besonders geduldigen und einfühlenden Betreuung
bedürften. Auch der Beklagte sei deshalb im Sinne von Art. 285 ZGB nicht
imstande, die elterliche Gewalt auszuüben.

    B.- Gegen dieses Urteil hat der Beklagte die Berufung an das
Bundesgericht eingereicht mit dem Antrag, es sei hinsichtlich der
Kinderzuteilung aufzuheben und die vier Kinder seien ihm zur Pflege und
Auferziehung zuzuweisen.

    Die Klägerin beantragt, auf die Berufung sei nicht einzutreten,
eventuell sei sie abzuweisen.

    Das Bundesgericht schützt die Berufung, spricht die vier Kinder dem
Beklagten zu und ersucht die Vormundschaftsbehörde, die Aufsicht auszuüben
und gegebenenfalls Massnahmen nach Art. 283 und 284 ZGB anzuordnen.

Auszug aus den Erwägungen:

Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Das angefochtene Urteil wurde am 30. September 1969 gefällt und
dem Anwalt des Beklagten am 24. Januar 1970 zugestellt. Am Schlusse der
schriftlichen Ausfertigung steht folgende Rechtsmittelbelehrung:

    "Gegen dieses Urteil kann unter Vorlegung desselben, von der Zustellung
an gerechnet, innert der Frist von 30 Tagen bei der Kantonsgerichtskanzlei
die Berufung an das Bundesgericht ergriffen werden."

    Innerhalb der in dieser Rechtsmittelbelehrung genannten Frist, am 23.
Februar 1970, übergab der Anwalt des Beklagten die Berufungsschrift
der Post.

    Die Berufung gegen einen vor dem 1. Oktober 1969 gefällten Entscheid
ist gemäss Ziff. III Abs. 2 und 3 des Bundesgesetzes vom 20. Dezember 1968
über die Änderung des OG binnen 20 Tagen vom Eingang der schriftlichen
Mitteilung des Entscheides an einzulegen, auch wenn im Zeitpunkt dieser
Mitteilung das gemäss dem erwähnten Bundesgesetz revidierte OG mit einer
Berufungsfrist von 30 Tagen (Art. 54 rev. OG) bereits in Kraft stand
(Entscheid des Bundesgerichtes vom 30. Dezember 1969 i.S. Putzi c. Wilhelm
und Mathis, BGE 95 II 379). Die Berufung des Beklagten ist also an sich
verspätet eingereicht worden.

    Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts darf jedoch
einem Rechtsuchenden, der sich auf eine von der zuständigen Behörde
erteilte, sachlich unrichtige Rechtsmittelbelehrung verlassen hat und
verlassen durfte, daraus kein Nachteil erwachsen (BGE 78 I 297 mit
Verweisungen). Dieser Grundsatz ist übrigens in Art. 107 Abs. 3 rev. OG
im Hinblick auf die in Art. 35 Abs. 1 und 2 des Bundesgesetzes über
das Verwaltungsverfahren vorgeschriebene Rechtsmittelbelehrung auf dem
Gebiete der Verwaltungsrechtspflege gesetzlich verankert worden. Er
hat darüber hinaus auf dem gesamten Gebiet der Rechtspflege zu gelten,
auch in Fällen, in denen eine Rechtsmittelbelehrung vom Bundesrecht nicht
vorgeschrieben ist, aber von der Behörde, die den Entscheid erlassen hat,
sei es freiwillig, sei es kraft kantonalen Rechts, erteilt worden ist.

    Aufeine von der zuständigen Behörde erteilte, sachlich unrichtige
Rechtsmittelbelehrung darf sich die Partei, an welche die Belehrung
sich richtet, nur dann nicht verlassen, wenn sie die Voraussetzungen
des in Frage stehenden Rechtsmittels tatsächlich kannte, so dass sie
durch die falsche Belehrung nicht irregeführt werden konnte, oder wenn
die Unrichtigkeit der Belehrung für sie ohne weiteres klar erkennbar
war. Das trifft im vorliegenden Falle nicht zu. Zwar war das Bundesgesetz
vom 20. Dezember 1968 auf den 1. Oktober 1969 in Kraft gesetzt und in der
amtlichen Gesetzessammlung veröffentlicht worden (AS 1969 S. 767). Die
Übergangsbestimmungen dieses Gesetzes (Ziff. III Abs. 2 und 3) sprechen
jedoch in ihrer deutschen Fassung nur von hängigen verwaltungsrechtlichen
Streitigkeiten und von Beschwerden oder andern Rechtsmitteln gegen
Verfügungen. Auf den ersten Blick konnten daher gewisse Zweifel darüber
bestehen, ob diese Bestimmungen auch auf die Berufung gegen Urteile und
Entscheide kantonaler Behörden anwendbar seien. Art. 171 des OG von 1943
hatte eine andere Lösung enthalten: Begann die Frist für die Weiterziehung
nach dem 31. Dezember 1944, d.h. nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes zu
laufen, so galten die Zuständigkeits- und Verfahrensvorschriften des neuen
Gesetzes. Beim Meinungsaustausch zwischen den beiden Zivilabteilungen
(Art. 16 OG), zu dem der Entscheid BGE 95 II 379 Anlass gab, vertrat
eine Minderheit die Auffassung, die gleiche Regelung müsse auch für die
Revision von 1968 gelten. Unter diesen Umständen lässt sich nicht sagen,
für den Anwalt des Beklagten sei ohne weiteres klar erkennbar gewesen,
dass die im kantonsgerichtlichen Urteil enthaltene Rechtsmittelbelehrung
unrichtig war. Hieran ändert nichts, dass der eben erwähnte Entscheid
gegen Ende Januar 1970 im 4. Heft des II. Teils der Entscheidungen des
Schweizerischen Bundesgerichts aus dem Jahre 1969 erschienen ist und dass
schon vorher Tageszeitungen und Fachzeitschriften (z.B. SJZ 1970 S. 32)
auf diesen Entscheid hingewiesen hatten. Es liegen keine Anhaltspunkte
dafür vor, dass der Anwalt des Beklagten diese Veröffentlichungen
vor Ablauf der Berufungsfrist (13. Februar 1970) tatsächlich gelesen
habe, und es ist ihm kein Vorwurf daraus zu machen, dass er die ihm
vom Kantonsgericht erteilte Rechtsmittelbelehrung nicht anhand der ihm
zugänglichen Publikationen auf ihre Richtigkeit prüfte. Auf die vorliegende
Berufung ist daher einzutreten.

Erwägung 2

    2.- Aus Art. 156 Abs. 1 ZGB ergibt sich, dass im Scheidungsverfahren
für die Kinderzuteilung und die damit unmittelbar zusammenhängenden
Fragen unbeschränkt die Offizialmaxime gilt (BGE 40 II 315, 82 II 471,
85 II 231; BÜHLER, Das Ehescheidungsverfahren, ZSR 1955 S. 405 a und
415 a; HINDERLING, Das Schweiz. Ehescheidungsrecht, 3. Aufl. 1967,
S. 165). Solange daher die Kinderzuteilung nicht rechtskräftig beurteilt
worden ist, haben auch die Rechtsmittelinstanzen von Amtes wegen die
nötigen Anordnungen zu treffen, ohne an Anträge der Parteien gebunden
zu sein. Da im vorliegenden Fall infolge der Berufung des Beklagten der
Entscheid des Kantonsgerichts über die Kinderzuteilung nicht rechtskräftig
geworden ist, bestünde theoretisch die Möglichkeit, die Kinder entgegen
dem Antrag des Beklagten der Klägerin zuzusprechen, wenn sich erweisen
sollte, dass ihr gegenüber kein Entzugsgrund im Sinne des Art. 285 ZGB
bestünde und dass das Wohl der Kinder damit besser bewahrt wäre als bei
einer allfälligen Zuweisung an den Beklagten. Art. 63 Abs. 1 OG, der dem
Bundesgericht verbietet, über die Anträge der Parteien hinauszugehen,
bildete infolge der erwähnten Offizialmaxime kein Hindernis.

    Nun hat aber die Klägerin, der die Kinder im erstinstanzlichen
Urteil zugeteilt worden waren und die die elterliche Gewalt aufgrund
vorsorglicher Massregeln auch während des ganzen Scheidungsverfahrens
ausgeübt hatte, keine Berufung gegen den Entscheid des Kantonsgerichts
eingereicht. Sie hat in der Berufungsantwort wohl beantragt, die Berufung
des Beklagten abzuweisen, aber in keiner Weise darzutun versucht, dass die
ihr gegenüber bestehenden, von der Vorinstanz dargelegten Entzugsgründe
nicht zutreffen und dass sie - falls eine Zuteilung der Kinder an den
einen oder andern Elternteil in Frage käme - die Kinder besser betreuen
würde als der Beklagte. Die Tatsachen, welche die Vorinstanz zulasten
der Klägerin aufgeführt hat, rechtfertigen denn auch den ihr gegenüber
ausgesprochenen Entzug der elterlichen Gewalt. Daher fragt sich nur noch,
ob es dabei bleiben soll, dass die elterliche Gewalt auch dem Beklagten
entzogen wird, oder ob die Kinder ihm zugeteilt werden können.

Erwägung 3

    3.- Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts darf bei
der Gestaltung der Elternrechte im Sinne des Art. 156 ZGB nur dann
beiden Ehegatten die elterliche Gewalt entzogen werden, wenn gegenüber
beiden die Voraussetzungen des Art. 285 ZGB gegeben sind (BGE 38 II 454
E. 5, 40 II 444 E. 4, 53 II 191/92, 62 II 203, 82 II 474 E. 3; nicht
veröffentlichte Urteile vom 4. Oktober 1962 i.S. Wächter c. Senn, vom
19. Oktober 1962 i.S. Bonfils c. Pesse, vom 13. November 1964 i.S. Aebi
c. Roulin, vom 16. März 1967 i.S. Eheleute Lambrigger; HINDERLING, aaO,
S. 152). Eine gewisse Einschränkung hat dieser Grundsatz nur insofern
erfahren, als bei geschiedener Ehe an die Fähigkeit zur Ausübung der
elterlichen Gewalt höhere Anforderungen zu stellen sind, als wenn die
Ehe noch besteht, und dass demzufolge im erstern Fall der Entzug der
elterlichen Gewalt von weniger strengen Voraussetzungen abhängig zu machen
ist als im zweiten (nicht veröffentlichte Urteile des Bundesgerichts vom
3. Dezember 1959 i.S. Friedli c. Zingg und vom 12. Juli 1962 i.S. Arioli
c. Schneuwly, beide teilweise wiedergegeben in SJZ 1963 S. 364/65; ferner
Urteil vom 19. Oktober 1962 i.S. Bonfils c. Pesse). Das Bundesgericht
liess sich dabei von der Erwägung leiten, bei der Scheidung seien die
Elternrechte von Gesetzes wegen durch den Richter zu gestalten, wobei
ein Elternteil unvermeidlicherweise die elterliche Gewalt verliere,
während bei bestehender Ehe ein Entzug nur bei schwerem Versagen der
Eltern ausgesprochen werden darf. Die Tatsache, dass nach der Scheidung
ein Elternteil die Gewalt allein auszuüben habe, steigere die Anforderungen
an seine Fähigkeiten und seine Eignung in dieser Hinsicht. Dazu müsse oft
noch mit der Empfindlichkeit des andern Elternteils, dem die Gewalt nicht
zusteht, gerechnet werden. Wie HINDERLING (aaO S. 152 mit Fussnote 6) mit
Recht bemerkt, muss die Frage der Fähigkeit zur Kindererziehung in solchen
Fällen besonders sorgfältig geprüft werden. Diesem Autor ist auch darin
beizustimmen, dass die Regel, wonach bei geschiedener Ehe an die Fähigkeit
zur Ausübung der elterlichen Gewalt höhere Anforderungen zu stellen sind,
auf jeden Fall nicht schematisch angewendet werden darf. Die Scheidung
und die damit verbundene Beschränkung der elterlichen Gewalt auf einen
Elternteil können diesem in einzelnen Fällen die erzieherische Aufgabe
sogar erleichtern, weil die Kinder dadurch aus dem Bereich der ehelichen
Spannungen entfernt werden und fortan nicht mehr sich widersprechenden
Erziehungseinflüssen ausgesetzt sind, wie es vorher möglicherweise zutraf.

Erwägung 4

    4.- Gemäss Art. 285 Abs. 1 ZGB ist den Eltern die elterliche Gewalt
zu entziehen, wenn sie nicht imstande sind, sie auszuüben, wenn sie selbst
unter Vormundschaft fallen, oder wenn sie sich eines schweren Missbrauchs
der Gewalt oder einer groben Vernachlässigung ihrer Pflichten schuldig
gemacht haben. Beim Beklagten ist lediglich zu prüfen, ob er im Sinne
dieser Bestimmung nicht imstande sei, die elterliche Gewalt auszuüben. Die
andern Entzugsgründe fallen zum vornherein nicht in Betracht.

    Abgesehen von objektiven Hinderungsgründen (wie schwerer Krankheit oder
längerer Abwesenheit) ist ein Elternteil im Sinne von Art. 285 ZGB dann
nicht imstande, die elterliche Gewalt auszuüben, wenn er aus irgendwelchen
Gründen, die in seiner oder in der Person des Kindes liegen können,
nicht in der Lage ist, den Anforderungen, welche die Kindererziehung
stellt, gerecht zu werden, sodass das Wohl des Kindes deutlich leidet
oder ernstlich gefährdet ist (vgl. EGGER, N. 3 und HEGNAUER, N. 9, 10,
11 und 18 bis 23 zu Art. 285 ZGB).

    a) Die schwere Invalidität des Beklagten bildet an sich keinen Grund,
ihm die elterliche Gewalt zu entziehen. Gewiss kann sie bewirken, dass
er nicht imstande ist, die Kinder in Obhut zu nehmen und mit ihnen einen
gemeinsamen Haushalt zu führen, solange wenigstens, als er nicht eine
geeignete Haushälterin findet oder mit einer für diese Aufgabe geeigneten
Frau eine zweite Ehe schliesst. Die Ausübung der elterlichen Gewalt umfasst
jedoch nicht nur gerade die unmittelbare Sorge für das leibliche Wohl
der Kinder, sondern beschlägt auch ihre Erziehung, Bildung, Entwicklung
und allfällige Unterbringung in geeignete Pflegeplätze. Der Umstand,
dass ein Ehegatte nicht imstande ist, die Kinder persönlich zu betreuen,
fällt deshalb beim Entscheid über die Elternrechte in der Regel nur dann
ins Gewicht, wenn der andere, gegen den keine Entziehungsgründe bestehen,
dazu in der Lage ist (BGE 65 II 129 ff.; nicht veröffentlichter Entscheid
vom 3. Februar 1966 i.S. Eheleute Hirrlinger). Im vorliegenden Fall hat
der Beklagte nach den Feststellungen der Vorinstanz übrigens... eine Hilfe
gefunden, die ihm seit 15. Februar 1969 den Haushalt führt und ihn auch
persönlich betreut.

    b) Die Vorinstanz glaubt jedoch, dem Beklagten die Fähigkeiten zur
Kindererziehung wegen seines Charakters absprechen zu müssen. Sie stützt
sich dabei im wesentlichen auf das psychiatrische Gutachten vom 6.
Dezember 1967, das die erste Instanz eingeholt hat. Dieses Gutachten
hatte sich indessen gemäss der richterlichen Fragestellung nur zur
ehelichen Situation und dazu zu äussern, ob vom ärztlich-psychologischen
Standpunkt aus die Scheidung zu empfehlen sei. Der Sachverständige
befasste sich überhaupt nicht mit den erzieherischen Fähigkeiten der
Parteien. Hinsichtlich des Beklagten geht aus dem Gutachten nur hervor,
dass er sich im Verhältnis zur Klägerin ausgesprochen ichbezogen und
unbeherrscht zeigte. Es gelang ihm im Umgang mit ihr nicht, "distanziert
und gelassen, schonungsvoll und tolerant zu sein, wo seine persönlichen
Gefühle getroffen werden". Das Gutachten billigt ihm sodann eine berufliche
Begabung zu, obwohl er keine spektakulären Erfolge erzielt habe. Im
Anschluss daran sagt der Begutachter: "Dank normaler Intelligenz kann er
etliche Mängel kompensieren, die aus seinem labilen Gemüt erwachsen, und
gewisse Zusammenhänge unter vier Augen ziemlich objektiv ergründen. Sobald
es aber in der Praxis um die Frau geht, ist er ausserstande, ruhig zu
handeln und besonnen zu bleiben" (hervorgehobene Stelle im Original nicht
unterstrichen). Das Gutachten tut also nicht dar, dass ihm die Fähigkeit
zur Erziehung der Kinder abgehe.

    Auch im angefochtenen Urteil finden sich keine tatbeständlichen
Feststellungen über das Verhalten des Beklagten als Vater, aus denen
geschlossen werden könnte, er sei nicht imstande, die Kinder zu erziehen.

    In der Berufungsantwort wird freilich auf einen Bericht der
Vormundschaftsbehörde vom 6. Mai 1968 verwiesen, nach welchem eine
Zuteilung der Kinder an den Beklagten nicht in Frage komme. Die betreffende
Stelle lautet indessen folgendermassen:

    "Der Beklagte kämpft auch um seine Kinder und möchte, dass diese ihm
zugesprochen werden. Trotzdem wir überzeugt sind, dass er über die bessern
Erzieherqualitäten verfügt, kommt im jetzigen Moment eine Zusprechung
der Kinder an ihn nicht in Frage. Der Beklagte kann uns im gegenwärtigen
Zeitpunkt keine annehmbare Lösung vorschlagen, es sei denn, dass er die
Kinder im Kinderheim R. unterbringen würde. Die Aussichten, im jetzigen
Moment Kinder dort zu plazieren, sind nicht schlecht. Der Beklagte scheint
berechtigte Hoffnungen zu haben, für einen spätern Zeitpunkt eine tüchtige
Haushälterin zu bekommen, z. Zt. ist diese aber nicht abkömmlich."

    Nicht nur spricht dieser Bericht dem Beklagten keineswegs die
Fähigkeiten zur Kindererziehung ab, sondern er lässt sogar durchblicken,
dass ihm die Kinder zugewiesen werden könnten, wenn er eine tüchtige
Haushälterin hätte. Deren Fehlen und damit die Unmöglichkeit, die Kinder
im Haushalt des Vaters unterzubringen, bildet jedoch keinen Grund zum
Entzug der elterlichen Gewalt.

    c) Es mag sein, dass der Beklagte - zum Teil infolge seiner schweren
Behinderung - Charaktereigenschaften aufweist, die ihn nicht zum idealen
Erzieher machen. Er hat sich aber immerhin trotz seiner Invalidität
eine selbständige Stellung in seinem Beruf geschaffen. Abgesehen von
seiner gescheiterten Ehe liegt offenbar nichts gegen ihn vor, was ihn
bei der Mitwelt herabsetzen könnte. Man muss sich zudem damit abfinden,
dass die leiblichen Eltern in erster Linie zur Erziehung ihrer Kinder
berufen sind, auch wenn sie charakterhalber nicht allen Anforderungen,
welche diese Aufgabe stellt, gewachsen sind.

    d) Verhalten sich die Eltern pflichtwidrig oder ist ein Kind in
seinem leiblichen oder geistigen Wohl dauernd gefährdet oder sogar
verwahrlost, dann haben die Vormundschaftsbehörden vorerst die in
den Art. 283 und 284 ZGB vorgesehenen Massnahmen zu treffen, sofern
sie voraussichtlich genügenden Schutz bieten. Erst wenn zum vornherein
feststeht, dass solche mildere Massnahmen nicht ausreichen, ist sogleich
der Gewaltentzug auszusprechen (vgl. BGE 90 II 474 mit Hinweisen;
ferner nicht veröffentlichte Entscheide vom 1. Oktober 1964 i.S. Hügli c.
Vormundschaftsbehörde Laufen, vom 13. November 1964 i.S. Aebi c. Roulin,
vom 16. März 1967 i.S. Eheleute Lambrigger und vom 21. November 1969
i.S. Ducry c. Justice de Paix du Cercle de Dompierre). Ein vorsorglicher
Gewaltentzug ohne konkrete Anhaltspunkte für ein mit Sicherheit oder
grosser Wahrscheinlichkeit zu erwartendes Versagen ist nicht zulässig
(nicht veröffentlichter Entscheid des Bundesgerichts vom 21. Februar
1963 i.S. Müller c. Roos).

    Nach alledem lässt sich nicht sagen, der Beklagte sei ausserstande, die
elterliche Gewalt auszuüben. Die Kinder sind deshalb ihm zuzuteilen. Da
er ihnen möglicherweise gegenwärtig oder in Zukunft kein Heim
bieten kann, sondern gezwungen sein wird, sie in Pflegeplätzen oder
Heimen unterzubringen, ist die Mitwirkung der Vormundschaftsbehörde
angezeigt. Dieser ist in Anbetracht der Invalidität des Beklagten und
der Tatsache, dass seine Lage hinsichtlich der Haushaltführung und
einer allfälligen Wiederverheiratung ungeklärt ist, eine allgemeine
Aufsichtspflicht zu überbinden.