Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 96 II 39



96 II 39

8. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 3. Februar 1970
i.S. Huwiler gegen Varisco. Regeste

    Art. 60 Abs. 1 und 2 OR.

    Bei einem Dauerzustand beginnt die Verjährung nach Art. 60 Abs. 1
OR für die Geltendmachung des Ersatzanspruches nicht vor Abschluss der
Entwicklung des Schadens (Bestätigung der Rechtsprechung; Erw. 2).

    Die nach Art. 60 Abs. 2 OR auf den Zivilanspruch anwendbare längere
Verjährungsfrist des Strafrechts beginnt mit der Begehung der Straftat
(Präzisierung der Rechtsprechung; Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- Am 6. Juni 1955 wurde Arthur Huwiler im Verlaufe eines Streites
von seinem Nachbar Franz Varisco und dessen gleichnamigem Sohn tätlich
angegriffen und zweimal zu Boden geworfen. Er zog sich dabei verschiedene
Schürfungen zu und klagte in der Folge über Schmerzen in der Gesäss-
und Lendengegend. Huwiler stand bei verschiedenen Ärzten in Behandlung
und unterzog sich in den Jahren 1959-1963 drei Rückenoperationen.

    Am 29. November 1956 verurteilte das Bezirksgericht Baden auf
Strafanzeige Huwilers hin Vater Varisco wegen einfacher Körperverletzung
sowie wegen Hausfriedensbruches zu einer Busse von Fr. 80.- und verwies
die Schadenersatz- und Genugtuungsansprüche Huwilers auf den Zivilweg.

    Am 25. Juni 1957 belangte Huwiler die SUVA beim Versicherungsgericht
des Kantons Aargau auf Leistungen gemäss KUVG. Das Gericht sprach
Huwiler am 11. Mai 1959 die ärztlichen Behandlungskosten vom 6. Juni
bis 15. August 1955 von Fr. 108.55 und ein Krankengeld für 12 Tage von
Fr. 230.40 zu und wies die Klage im übrigen ab.

    Das Eidg. Versicherungsgericht bestätigte am 10. September 1959 auf
Berufung Huwilers den Entscheid des kantonalen Versicherungsgerichtes.

    B.- Am 1. Juni 1965 reichte Huwiler beim Bezirksgericht Baden gegen die
Söhne Franz und Paul Varisco sowie deren Mutter Klage ein. Er beantragte,
die Beklagten "wegen schwerer Körperverletzung und Anstiftung dazu" zu
bestrafen und zu Schadenersatz von Fr. 205 425.89 sowie zur Leistung
einer Genugtuung von Fr. 30 000.-- zu verurteilen. Der Klage lag ein
Weisungsschein bei, der Huwiler als Kläger, Vater Varisco und dessen Sohn
Franz als Beklagte bezeichnete und eine Forderung von Fr. 235 425.89
erwähnte. Da lediglich der Sohn Franz Varisco sowohl im Weisungsschein
als auch in der Klageschrift aufgeführt war, wurde das Verfahren nur
gegen diesen, und zwar als Zivilverfahren durchgeführt.

    Das Bezirksgericht Baden und auf Berufung des Klägers hin am 21. März
1969 das Obergericht des Kantons Aargau schützten die Verjährungseinrede
des Beklagten und wiesen die Klage ab.

    C.- Der Kläger hat gegen das Urteil des Obergerichtes die Berufung
erklärt. Er hält an den zivil- und strafrechtlichen Anträgen, die er im
erstinstanzlichen Verfahren gestellt hat, fest. Der Beklagte beantragt,
die Berufung abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden könne.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- (Prozessuales).

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 60 Abs. 1 OR verjährt der Anspruch auf Schadenersatz
oder Genugtuung in einem Jahr von dem Tage hinweg, da der Geschädigte
Kenntnis vom Schaden und von der Person des Ersatzpflichtigen erlangt hat,
jedenfalls aber mit dem Ablauf von 10 Jahren, vom Tage der schädigenden
Handlung an gerechnet. Die absolute Verjährungsfrist von 10 Jahren war
noch nicht abgelaufen, als der Kläger im März 1965 die Durchführung der
Sühneverhandlung verlangte. Es ist daher zunächst zu prüfen, in welchem
Zeitpunkt der Kläger Kenntnis vom Schaden erlangt und ob er vor Ablauf
eines Jahres die einjährige Frist unterbrochen hat.

    a) Nach der Rechtsprechung hat der Geschädigte Kenntnis vom
Schaden, wenn er die Beschaffenheit und die wesentlichen Merkmale, d.h.
alle tatsächlichen Umstände kennt, die geeignet sind, eine Klage zu
veranlassen und zu begründen. Ergibt sich das Ausmass des Schadens
aus einem Sachverhalt, der sich noch weiter entwickelt, so beginnt die
Verjährung nicht vor Abschluss dieser Entwicklung zu laufen. Auch bedarf
der Geschädigte unter Umständen noch einer gewissen Zeit, um entweder
selber oder mit Hilfe eines Dritten den Verlauf der unerlaubten Handlung
und das endgültige Ausmass des Schadens abschätzen zu können (BGE 92 II
4 Erw. 3 und dort erwähnte Entscheide).

    b) Es steht fest, dass der Kläger am 25. Juni 1957 beim
Versicherungsgericht des Kantons Aargau gegen die SUVA unter anderem
auf Leistung einer Dauerrente von 25% des Jahresverdienstes wegen
unfallbedingter Teilinvalidität klagte; er behielt sich eine grössere
Entschädigung für den Fall vor, dass die vom Gericht zu veranlassende
Begutachtung eine grössere Teilinvalidität ergeben sollte. Der Kläger
berief sich für die Invaliditätsentschädigung auf die Zeugnisse von
zwei Ärzten und eines Chiropraktors, die eine Verschiebung der unteren
Lendenwirbelsäule festgestellt hatten, sowie auf die ärztlich bestätigte
Notwendigkeit, ein Stützmieder zu tragen. Professor Dubois, Chefarzt
der Chirurgischen Abteilung des Inselspitals Bern, der am 13. Januar
1959 zuhanden des aargauischen Versicherungsgerichtes ein Gutachten
erstellt hatte, bezeichnete die an den Hals- und Brustwirbeln des
Klägers festgestellten krankhaften Veränderungen und die damit verbundenen
Beschwerden als unfallfremd. Ausserdem führte der Gutachter die behaupteten
Rückenschmerzen des Klägers nur zum Teil und zeitlich befristet auf die
tätliche Auseinandersetzung zurück und zwar unter der Voraussetzung,
dass der Nachweis gelinge, dass sich der Kläger unmittelbar nach dem
Streit über Beschwerden beklagt hat. Diese hätten aber - so führt
der Gutachter aus - im Zeitpunkt seines Berichtes, d.h. dreieinhalb
Jahre "nach dem eher banalen Ereignis", nicht mehr bestanden, da keine
feststellbaren Gewebeverletzungen erfolgt seien. Dr. Brügger, auf den
sich der Kläger zur Entkräftung des gerichtlichen Gutachtens berief,
äusserte in einem Bericht der neurochirurgischen Klinik der Universität
Zürich vom 7. Februar 1958 die Auffassung, die beim Kläger festgestellten
krankhaften Veränderungen an der Wirbelsäule hätten zwar schon am 6. Juni
1955 bestanden, sich aber erst später - möglicherweise als Folgen des
Unfalles - durch Beschwerden bemerkbar gemacht. Dr. Brügger verneinte
damals eine bereits feststehende Invalidität, weil er der Auffassung
war, die behaupteten Beschwerden des Klägers seien einer Behandlung noch
durchaus zugänglich. Das Eidg. Versicherungsgericht verschloss sich der
Ansicht von Dr. Brügger über die allfälligen Auswirkungen der tätlichen
Auseinandersetzung nicht, lehnte aber die Haftung der SUVA deshalb ab,
weil der Kläger nach den Ausführungen des gerichtlichen Gutachters
nicht einmal den "Beweis der Wahrscheinlichkeit" erbracht habe, dass
die angeblichen Beschwerden des Klägers durch den Streit vom 6. Juni
1955 ausgelöst worden seien. Im Jahre 1959 unterzog sich der Kläger
in Schaffhausen einer ersten Rückenoperation (Spanversteifung). Auf
Begehren des Klägers stellte Dr. Brügger am 4. März 1960 "zuhanden des
Gerichtes" ein neues ärztliches Zeugnis aus, in dem er die durchgeführte
Operation als Folge der tätlichen Auseinandersetzung bezeichnete und
eine vorbestandene Krankheit verneinte. Das von Dr. Vollmann in Baden am
2. August 1960 aufgenommene Röntgenbild förderte nichts Neues zutage,
da die damals festgestellte Wirbelverschiebung bereits in der Klage an
das aargauische Versicherungsgericht geltend gemacht wurde. Im Winter
1960/61 fand im städtischen Krankenhaus in Baden die zweite Rückenoperation
zwecks Behebung der mangelhaften knöchernen Einheilung statt. Der Erfolg
war bloss vorübergehend. Am 24. Oktober 1963 liess sich der Kläger auf
eigene Verantwortung den Span im städtischen Krankenhaus Baden stückweise
entfernen. Dr. Ambühl, ehemaliger Chefarzt dieses Spitals, stellte in
einem Zeugnis vom 3. Juni 1964 fest, der Kläger habe ihm gegenüber am
29. Oktober 1963 bestätigt, die früher vorgebrachten Beschwerden (Kreuz-,
Rücken- und Nackenschmerzen usw.) seien völlig verschwunden und er
verspüre gelegentlich noch etwas "Krosen" im Nacken. Spätestens in diesem
Zeitpunkt war die Entwicklung des Schadens abgeschlossen und fing die
einjährige Verjährungsfrist nach Art. 60 Abs. 1 OR zu laufen an. Diese war
verstrichen, als der Kläger im März 1965 an den Friedensrichter gelangte.

Erwägung 3

    3.- Zu prüfen ist, ob Art. 60 Abs. 2 OR als subsidiäre Vorschrift
anwendbar ist. Diese Bestimmung greift anstelle von Art. 60 Abs. 1 ("wird
jedoch ...") Platz, wenn ein Anspruch aus einer unerlaubten Handlung
hergeleitet wird, für die das Strafrecht eine längere Verjährungsfrist
vorsieht (BGE 49 II 359, 55 II 25, 77 II 319).

    a) Art. 60 Abs. 2 OR setzt keine strafrechtliche Verurteilung,
sondern eine strafbare Handlung voraus. Der Zivilrichter ist indessen
an den Entscheid der Strafverfolgungsbehörde, die den Strafanspruch des
Staates rechtskräftig beurteilt hat, gebunden. Fehlt ein solcher Entscheid,
so prüft der Zivilrichter frei, ob eine strafbare Handlung vorliege. Ob
eine Tat nur auf Antrag bestraft werden darf, ist indessen unerheblich,
da der Strafantrag Prozessvoraussetzung, nicht Strafbarkeitsbedingung ist
(BGE 93 II 500 Erw. 1 und dort erwähnte Entscheide).

    Wie die Vorinstanz ausführt, wurde das Strafverfahren nur gegen
den Vater des Beklagten durchgeführt. Sie stellt ferner auf Grund der
Strafakten fest, dass der Beklagte an der tätlichen Auseinandersetzung
vom 6. Juni 1955 beteiligt gewesen ist und den Kläger beim zweiten Mal
zu Boden geworfen hat. Professor Dubois bezeichnete den Vorfall als
"banal" und stellte fest, dass zur Zeit der Begutachtung, d.h. dreieinhalb
Jahre später, keine unfallbedingten Schäden nachweisbar waren. Wenn eine
strafbare Handlung des Beklagten anzunehmen ist, so kommt eine einfache
Körperverletzung im Sinne des Art. 123 Ziff. 1 StGB in Betracht,
die auf Antrag mit Gefängnis bestraft werden kann. Die ordentliche
Strafverfolgungsverjährung beträgt fünf Jahre (Art. 70 StGB), die absolute
siebeneinhalb Jahre (Art. 72 StGB).

    b) Es fragt sich, ob die "längere Verjährungsfrist" des Strafrechts
im Zeitpunkt der Tat oder erst mit der Kenntnis des Schadens zu laufen
beginnt.

    Im Entscheid 77 II 314 f. vertrat das Bundesgericht die Auffassung,
Art. 60 Abs. 2 OR ordne nicht nur die Dauer der Frist, sondern unterstelle
die Verjährung auch in den anderen Punkten den strafrechtlichen Regeln,
z.B. bezüglich Fristbeginn, Stillstand und Unterbrechung; sei die
Strafverfolgung verjährt, so beurteile sich nur noch nach Art. 60 Abs. 1,
ob auch der Zivilanspruch verjährt sei.

    Im Entscheid 91 II 429 f. rückte das Bundesgericht von dieser
Auffassung ab. Es gelangte gestützt auf die Entstehungsgeschichte und den
Zweck des Art. 60 OR zur Überzeugung, Abs. 2 besage nur, dass für die
Verjährung des Zivilanspruchs anstelle der in Abs. 1 genannten Fristen die
für das betreffende Delikt im Strafrecht vorgesehene Verfolgungsverjährung
gelte und im übrigen die zivilrechtlichen Vorschriften (Art. 127 ff. OR),
insbesondere jene über die Unterbrechung der Verjährung (Art. 135 f. OR),
anwendbar seien (S. 436/37 Erw. 7a und 9). Allerdings wies es in einer
beiläufigen Erwägung (S. 436 Erw. 7a) darauf hin, dass der Beginn der Frist
ein wesentliches Merkmal sei, um den Zeitpunkt der Verjährung zu bestimmen;
denn nur so lasse sich die Frist im Zeitablauf konkret begrenzen. Es
sei daher verständlich, dass man den Ausgangspunkt der Frist nach den
gleichen Regeln wie ihre Dauer, d.h. nach dem Strafrecht bestimme, ohne
deswegen weitergehende Schlussfolgerungen ziehen zu müssen.

    Art. 60 Abs. 2 OR bezweckt, dass der Geschädigte seinen Anspruch
solange geltend machen kann, als die strafrechtliche Verjährung nicht
eingetreten ist. Nach dem Untergang des Strafanspruchs, wie z.B. durch
vollstreckbares Urteil, Freispruch, Unzurechnungsfähigkeit, Tod,
fakultative Straffreiheit und Amnestie vor Aburteilung des Angeklagten,
läuft die strafrechtliche Verjährungsfrist nicht mehr. Der Geschädigte
muss daher, sollen Härtefälle vermieden werden, die Möglichkeit haben,
seine Rechte gegen den Schädiger noch zu wahren (vgl. BGE 91 II 432
f. Erw. 5). Die Ausführung der strafbaren Tätigkeit fällt daher als
fristauslösendes Ereignis für die Verjährung des Zivilanspruchs dann in
Betracht, wenn das Ziel des Gesetzgebers erreicht werden kann. Dabei ist zu
beachten, dass der gesetzliche Strafanspruch in der Regel vor Ablauf der
Fristen der Art. 70 und 72 StGB und nur ganz ausnahmsweise und zufällig
erst mit deren Ende untergeht. Da der Geschädigte die nach Art. 60 Abs. 2
OR massgebende Frist durch Mittel des Zivilrechts unterbrechen kann (BGE
91 II 437 Erw. 9), wird er nach Untergang des gesetzlichen Strafanspruchs
seine Zivilforderungen praktisch immer noch geltend machen können. Es ist
somit nicht notwendig, die Verjährungsfrist nach Art. 60 Abs. 2 OR erst
mit der Kenntnis des Schadens beginnen zu lassen. Dieser Ausgangspunkt
würde unter Umständen zu recht fragwürdigen Ergebnissen führen, die sich
mit dem Sinn der Verjährung schlecht vertrügen. Wenn der Geschädigte
beispielsweise erst sieben Jahre nach Ausführung der Straftat vom Schaden
Kenntnis erhält, liefe je nach der gesetzlichen Strafandrohung (Art. 70
StGB) die Frist für die Durchsetzung des Zivilanspruchs erst nach zwölf,
siebzehn oder sogar siebenundzwanzig Jahren seit Begehung der Tat ab.

    Die ordentliche Strafverfolgungsfrist lief im vorliegenden Fall am
6. Juni 1960 ab. Sie wurde nicht unterbrochen. Zudem war sie abgelaufen,
bevor der Beklagte Kenntnis vom Schaden erlangte. Die eingeklagten
Forderungen sind daher auch nach Art. 60 Abs. 2 OR verjährt.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichts des
Kantons Aargau vom 21. März 1969 bestätigt.