Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 95 I 490



95 I 490

71. Auszug aus dem Urteil vom 29. Oktober 1969 i.S. Reich und
Mitbeteiligte gegen den Kanton Aargau. Regeste

    Enteignung nachbarrechtlicher Unterlassungsansprüche; Bemessung der
Minderwertsentschädigung (Art. 19 lit. a EntG).

    1.  Begriff der übermässigen Immission, die von einer Nationalstrasse
ausgeht (Erw. 5).

    2.  Voraussetzungen der übermässigen Lärmplage (Erw. 6):

    a)  Sie muss für den Enteigneten unvorhersehbar sein (Erw. 6 a).

    b)  Sie muss für den Enteigneten schwer und intensiv sein (Erw. 6 b).

    c)  Sie muss den Enteigneten in ganz besonderer Weise treffen
(Erw. 6 c).

    3.  Verdeutlichung der in BGE 94 I 300 und 301 gebrauchten Wendung
"Agglomeration oder deren nächste Umgebung" (Erw. 6 d).

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    A.- Am 16. November 1962 ermächtigte der Regierungsrat des Kantons
Aargau die kantonale Baudirektion, das für den Bau der Nationalstrasse
N 1/03 in den Gemeinden Lenzburg und Niederlenz notwendige Land im
Enteignungsverfahren zu erwerben. Das Trassee der Autobahn kam ausserhalb
der Grundstücke des Jules Reich, Leo Widmer, Hans Walter, Johann Gloor,
Hans Rudolf Wüthrich, Alfred Oeschger und Hans Schmid zu liegen.

    Im Verlaufe des Enteignungsverfahrens wurden alle Forderungen, die
aus Immissionen abgeleitet wurden, bis zur Inbetrie nahme des Teilstücks
Bern-Lenzburg der N 1 zurückgestellt. Durch den Bau der Nationalstrasse
wurden die Anwohner der Grenzstrasse, die früher im freien Feld, weitab
vom Verkehr wohnten, zu Nachbarn einer stark befahrenen Autobahn. Diese
führt südlich vor den Gärten der in einer Reihe stehenden (6 Ein- und 1
Zweifamilien-) Häuser durch. Zwischen der Autobahn und den Vorgärten der
Häuser liegt eine nach Westen abnehmende, 0,8 m hohe Böschung.

    Die Grenze zwischen den Gemeinden Lenzburg (im Süden) und Niederlenz
(im Norden) verläuft entlang der Grenzstrasse. Nördlich dieser
Strasse liegt ein Quartier von Niederlenz, das sich aus Villen oder
Einfamilienhäusern zusammensetzt. Im Süden der Grenzstrasse (über die
Autobahn hinaus in Richtung Lenzburg) ist das Land nicht eingezont. Es
grenzt an ein Gebiet, das noch nicht überbaut ist, jedoch als Industriezone
in Aussicht genommen ist und zur Hauptsache der Konservenfabrik Lenzburg
gehört.

    B.- Mit Entscheid vom 17. August 1967 ist die Eidg.
Schätzungskommission (ESchK) auf die Begehren um Entschädigung wegen
übermässiger Immissionen nicht eingetreten, bzw. hat diese abgewiesen. Der
Begründung ist zu entnehmen: Ob dem Nachbarn einer öffentlichen Strasse
für Schaden, der ihm durch die Ausübung eines kantonalen Hoheitsrechtes
entstehe, eine Entschädigung zukomme, sei eine Frage des kantonalen
öffentlichen Rechts. Da das öffentliche Recht des Kantons Aargau keine
solche Bestimmung kenne, stehe auch dem empfindlich gestörten Anlieger
einer Strasse keine Entschädigung für den durch den Gemeingebrauch ihm
entstehenden Eingriff in sein Privateigentum zu. Abgesehen davon fehle
es an einer Übermässigkeit der Immission.

    C.- Die Enteigneten haben rechtzeitig die Weiterziehung erklärt. Sie
beantragen, es sei jedem von ihnen ein Immissionsschaden von einem Drittel
des Verkehrswertes der Liegenschaften zu vergüten.

    Der Kanton Aargau beantragt, der Entscheid der
Eidg. Schätzungskommission vom 17. August 1967 sei zu bestätigen
und die Weiterziehung sei abzuweisen. Eventuell sei nur der
Nichteintretensentscheid der ESchK zu bestätigen, dieAbweisung der
Entschädigungsansprüche aufzuheben und die Entschädigungen für den
Entzug nachbarrechtlicher Unterlassungsansprüche seien für den Fall
ihrer Enteignung nach richterlichem Ermessen festzusetzen. Der Enteigner
bestreitet, dass den Enteigneten gegen die durch den Gemeingebrauch an
der Strasse verursachten Immissionen ein Unterlassungsanspruch zustehe,
der vom Strasseneigentümer enteignet werden müsse. Ferner bestreitet
der Staat jeden Entschädigungsanspruch für eine infolge der Widmung
eines öffentlichen Grundstückes zum Gemeingebrauch eingetretene
Verkehrswertänderung der Anstössergrundstücke.

    D.- Die Delegation des Bundesgerichtes führte am 18.  September 1968
mit den Parteien einen Augenschein durch. Sie bezeichnete den Vertretern
der EMPA die Messpunkte für das von Prof. W. Furrer zu erstattende
Gutachten über die Intensität der Lärmeinwirkungen. Bei dieser Gelegenheit
hat der Gutachter Architekt Dr. Hartmann die Liegenschaften der sieben
Beschwerdeführer vorläufig geschätzt. Er kam auf folgende Werte:

    - Liegenschaft Reich  Fr. 169'000.--,

    - Liegenschaft Widmer Fr. 84'000.--,

    - Liegenschaft Walter Fr. 83'000.--,

    - Liegenschaft Gloor  Fr. 83'000.--,

    - Liegenschaft Wüthrich       Fr. 81'000.--,

    - Liegenschaft Oeschger       Fr. 73'000.--,

    - Liegenschaft Schmid Fr. 76'000.--.

    E.- Am 28. November 1968 erstattete Prof. Furrer sein Gutachten. Er
kommt darin zum Schluss, das Grundgeräusch betrage 66 dB, häufige
Spitzen kämen auf 77 dB, seltene Spitzen auf 80 dB. Diese Geräuschkulisse
entspreche der Zone "Hauptverkehrsader". Er fügt bei, da die Häuser vor
dem Bau der Nationalstrasse in einer ruhigen Wohnzone lagen, sei die
Einwirkung durch den Lärm als übermässig zu bezeichnen.

    Die Parteien haben die Messresultate und deren Auswertung grundsätzlich
anerkannt. In der Folge hat der Gutachter Dr. Hartmann die vorläufige
Schätzung der Liegenschaften unverändert bestätigt und den Minderwert
auf 15% des Verkehrswertes vor dem Bau der Autobahn veranschlagt.

    F.- Die Delegation hat den Parteien vorgeschlagen, der Kanton Aargau
habe die einzelnen Beschwerdeführer vergleichsweise wie folgt abzufinden:

    - Reich       mit Fr. 25'350.--,

    - Widmer      mit Fr. 12'600.--,

    - Walter      mit Fr. 12'450.--,

    - Gloor       mit Fr. 12'450.--,

    - Wüthrich    mit Fr. 12'150.--,

    - Oeschger    mit Fr. 10'950.--,

    - Schmid      mit Fr. 11'400.--.

    Die Enteigneten haben mit Schreiben vom 26. Februar 1969 den
Vorschlag angenommen; die Baudirektion des Kantons Aargau lehnte ihn
dagegen ab und wünschte einen Urteilsentwurf. Der Urteilsentwurf der
Instruktionskommission vom 13. August 1969 stellt auf die Gutachten ab und
spricht in Ziffer 1 den Enteigneten die im Vergleichsvorschlag genannten
Entschädigungen zu.

    G.- Der Enteigner hat den Entwurf erfolglos an das Bundesgericht
weitergezogen.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 5

    5.- Immissionen, welche von öffentlichen Strassen ausgehen,
galten bisher im Hinblick auf Lage und Beschaffenheit des öffentlichen
Grundstückes und den Ortsgebrauch für den Regelfall nicht als übermässig
(BGE 94 I 299 Erw. 8 mit Verweisungen). Was aber allgemein von den Kantons-
und Gemeindestrassen zutrifft, muss auch für die Nationalstrassen
gelten. Für gewöhnlich strahlen nämlich von diesen keine stärkeren
Immissionen aus als von andern stark befahrenen Strassen, sei es im Innern
städtischer Gemeinwesen oder handle es sich um Ausfallstrassen. Doch können
im Einzelfall auch die Immissionen von Nationalstrassen übermässig sein,
wie diejenigen von andern öffentlichen Unternehmungen (Eisenbahnen,
Schiessplätzen, Flugplätzen usw.). Sie sind es im Sinne von Art. 684
ZGB aber bloss dann, wenn sie schwer und intensiv sind, wenn sie den
einzelnen Eigentümer in ganz besonderer Weise treffen und wenn sie für ihn
unvorhersehbar waren (BGE 94 I 301 Erw. 8 b). Damit eine zu Schadenersatz
verpflichtende übermässige Immission angenommen werden kann, müssen die
drei Voraussetzungen gleichzeitig erfüllt sein.

Erwägung 6

    6.- Die Voraussetzungen für die Zusprechung einer
Minderwerts-Entschädigung sind hier kumulativ erfüllt:

    a) Die Lärmplage war für die Enteigneten nicht voraussehbar. Die
Beschwerdeführer haben den Stadtkern von Lenzburg gemieden und sind
an die äusserste Grenze der Gemeinde gezogen, angelehnt an ein bereits
bestehendes Wohnquartier der Nachbargemeinde. Sie liessen - vorbehältlich
Hans Walter - ihre Wohnhäuser in den Jahren 1939-1945 bauen. Dass die
Autobahn eines Tages so nahe an ihren Liegenschaften vorbeigeführt werde,
konnten sie bei Baubeginn nicht ahnen. Der Umstand, dass sie auf nicht
eingezontem Land bauten und dass seither - etwas entfernt allerdings -
ein Teil des nördlich der Konservenfabrik Lenzburg liegenden Landes als
Industriezone in Aussicht genommen ist, ändert nichts daran. Selbst
wenn dieses Land der Industriezone zugeteilt wird, bedeutet dies für
die Enteigneten keine nennenswerte Benachteiligung, insbesondere keine
Störung der Ruhe: die Konservenfabrik ist ein relativ ruhiger Betrieb
und liegt ziemlich weit entfernt.

    b) Die Lärmplage ist für die Enteigneten von besonderer Schwere
und Intensität. Die Nationalstrasse ist unmittelbar - etwa 18 m - vor
den sieben Wohnhäusern angelegt. Die Fahrbahn liegt - im Osten - etwa
in der Höhe der Fensterbrüstungen des Parterregeschosses. Das Gelände
ist nach Osten und Westen offen, so dass die Geräusche der Wagen auch
beim Herannahen und beim Entfernen auf die Anwohner einwirken. Im Osten
liegt zudem der Aabach-Viadukt mit einem andern Belag, was den Lärm
wegen des Überganges erhöht. Der Lärm ist tagsüber kontinuierlich und
hält bis tief in die Nacht an. Der Experte Prof. Furrer kommt in seinem
Gutachten zum Schluss, das Grundgeräusch betrage 66 dB; es weise häufige
Spitzen von 77 dB und seltene Spitzen bis 80 dB auf. Nach den Normen der
eidg. Expertenkommission für Lärmbekämpfung seien die Liegenschaften der
Enteigneten der 6. Zone, nämlich der Zone "Hauptverkehrsader", zuzurechnen.

    Wollten die Enteigneten ihre Liegenschaften heute verkaufen, so
würden sie nicht mehr den Preis lösen, den sie ohne die Nachbarschaft
der Autobahn erzielt hätten. Der Experte Dr. Hartmann erklärt, für die
ruhige Wohnlage könne beim Wohnwert einer Liegenschaft ein Anteil von
10-20% eingesetzt werden. Mit Rücksicht auf die Möglichkeit, dass die
Industriezone von Lenzburg wegen der Konservenfabrik bis nahe an die
Autobahn ausgedehnt wird, hat er einen Minderwert von 15% als angemessen
bezeichnet. Ein Einschlag von 15% des Verkehrswertes muss aber im Sinne
des Entscheides i.S. Werren (BGE 94 I 302 c) als erheblich gelten.

    c) Die schweren und intensiven Immissionen treffen die Enteigneten
aber auch in ganz besonderer Weise. Die Spezialität ergibt sich vorliegend
insbesondere daraus, dass die Nationalstrasse vor der Südfront der sieben
Wohnhäuser durchführt. Die Hauptaufenthaltsräume (auch die Schlafzimmer)
sind nach Süden gerichtet und können sogar zur Sommerszeit nur mit
geschlossenem Fenster benützt werden. Sie lassen sich nicht verlegen. Auch
die Gärten sind in vollem Umfang dem Lärm und den Abgasen ausgesetzt und
eignen sich nur noch beschränkt zur Erholung.

    d) Freilich wird in BGE 94 I 300 und 301 ausgeführt, wer in einer
Agglomeration oder in deren nächsten Umgebung eine Liegenschaft erwerbe
(S. 300: "celui qui a acquis un immeuble à l'intérieur ou dans la
banlieue d'une agglomération"; S. 301: "Mais s'il s'agit, par exemple,
d'un immeuble situé dans les environs immédiats d'une agglomération..."),
müsse das Ansteigen des Strassenlärms bis zum Lärm einer Hauptverkehrsader
auf sich nehmen. Das ist grundsätzlich richtig, insbesondere weil die
Liegenschaft des Enteigneten in der Regel von der Entwicklung der Strasse
zur Hauptverkehrsader wertmässig begünstigt wird. Hier aber bringt die
Autobahn den Enteigneten keine Vorteile, sondern nur Nachteile. Das wird
bei Liegenschaften am äussersten Rand einer Siedlung, die aber noch zu
einer "Agglomeration" gehören, oft zutreffen. Die Wendung "Agglomeration
oder deren nächste Umgebung" bedarf deshalb einer Verdeutlichung in dem
Sinne, dass das Zentrum einer Ortschaft (oder der Stadtkern) und die
nächste Umgebung desselben darunter zu verstehen ist.