Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 95 IV 32



95 IV 32

9. Entscheid der Anklagekammer vom 2. April 1969 i.S. Generalprokurator
des Kantons Bern gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich. Regeste

    Trennung der Verfahren und des interkantonalen Gerichtsstandes.

    1.  Die bundesrechtlichen Bestimmungen über die interkantonale
Zuständigkeit gehen kantonalen Vorschriften über die sachliche
Zuständigkeit vor (Erw. 1).

    2.  Art. 68 und 350 Ziff. 1 StGB geben dem Beschuldigten nicht
Anspruch, für alle Handlungen durch ein und denselben Richter und in
einem einzigen Verfahren beurteilt zu werden (Erw. 2).

    3.  Art. 263 BStP. Trennung des interkantonalen Gerichtsstandes in
einem Fall, wo der Beschuldigte in einem Kanton wegen eines Vergehens
verfolgt wird, während in einem andern Kanton bereits ein Strafmandat
wegen einer Übertretung gegen ihn vorliegt (Erw. 3).

    4.  Art. 156 Abs. 2 OG. Erweist sich das Gesuch einer kantonalen
Behörde um Bestimmung des Gerichtsstandes als missbräuchlich, so können
die Kosten dem Kanton auferlegt werden (Erw. 4).

Sachverhalt

    A.- Der Gerichtspräsident von Aarberg erliess am 17.  Dezember 1968
gegen W. in Ortschwaben ein auf Fr. 200.-- Busse lautendes Strafmandat mit
dem Vorwurf, W. habe sich anfangs Dezember 1968 anlässlich des Vollzuges
eines Arrestes durch das Betreibungsamt Aarberg im Sinne von Art. 323
Ziff. 2 StGB des Ungehorsams schuldig gemacht. W. erhob Einspruch, worauf
der Gerichtspräsident ihn am 21. Januar 1969 einvernahm und am folgenden
Tage die Bezirksanwaltschaft Zürich bat, sich zur Gerichtsstandsfrage zu
äussern, da W. dort wegen Verlassens einer Geschwängerten (Art. 218 StGB)
angezeigt sei.

    Die Bezirksanwaltschaft Zürich antwortete am 28. Januar 1969, es
treffe zu, dass bei ihr gegen W. eine Untersuchung wegen Verlassens
einer Geschwängerten hängig sei. In Aarberg werde ihm jedoch nur eine
Übertretung vorgeworfen, und zur Verfolgung solcher seien im Kanton
Zürich die Statthalterämter und Gemeinderäte zuständig, wenn sie nicht
im Sinne des § 94 a Abs. 2 des zürcherischen Gerichtsverfassungsgesetzes
(GVG) mit Verbrechen oder Vergehen zusammenhingen, was hier nicht der
Fall sei. Wenn die Bezirksanwaltschaft den Gerichtsstand Zürich für die
Übertretung bejahen würde, müsste sie daher die Akten dem Polizeirichteramt
der Stadt Zürich überweisen, besonders dann, wenn sie, was zu vermuten
sei, die Untersuchung wegen Verlassens einer Geschwängerten einstellen
würde. Sie ersuche daher den Gerichtspräsidenten von Aarberg, das Verfahren
wegen des Ungehorsams weiterzuführen.

    Der Gerichtspräsident von Aarberg überwies hierauf die Sache
dem Generalprokurator des Kantons Bern, und dieser antwortete der
Bezirksanwaltschaft Zürich am 30. Januar 1969, er könne ihre Auffassung
nicht teilen, da nach Art. 350 Ziff. 1 Abs. 1 StGB die Behörden des
Kantons Zürich, wo die mit der schwersten Strafe bedrohte Tat verübt wurde,
auch bezüglich des Berner Falles zuständig seien.

    Mit Schreiben vom 10. Februar 1969 teilte die Staatsanwaltschaft des
Kantons Zürich die Auffassung der Bezirksanwaltschaft. Sie fügte bei,
das Polizeirichteramt der Stadt Zürich oder das Statthalteramt Zürich,
denen die Akten überwiesen werden müssten, würden ihre Zuständigkeit
voraussichtlich nicht anerkennen. Die Übernahme der Verfolgung wegen
des Ungehorsams sei auch deshalb nicht am Platze, weil in Aarberg schon
ein Strafmandat erlassen worden sei. Es sei am zweckmässigsten, wenn die
bernischen Behörden über den Einspruch des W. weiter befänden, zumal alle
Beteiligten im Kanton Bern wohnten und die Untersuchung wegen Verlassens
einer Geschwängerten voraussichtlich eingestellt werde.

    B.- Mit Eingabe vom 26./28. März 1969 ersucht der Generalprokurator
des Kantons Bern die Anklagekammer des Bundesgerichtes, in der Strafsache
gegen W. die Behörden des Kantons Zürich zur Verfolgung und Beurteilung
zuständig zu erklären.

Auszug aus den Erwägungen:

              Die Anklagekammer zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Das Verlassen einer Geschwängerten ist mit Gefängnis bedroht
(Art. 218 StGB), der Ungehorsam des Schuldners beim Vollzug eines
Arrestes dagegen nur mit Haft bis zu vierzehn Tagen oder mit Busse
(Art. 323 Ziff. 2 StGB). Gemäss Art. 350 Ziff. 1 Abs. 1 StGB sind daher
die Behörden des Kantons Zürich zur Verfolgung und Beurteilung beider dem
W. zur Last gelegten strafbaren Handlungen zuständig. Dass das zürcherische
Recht mangels eines Zusammenhanges zwischen beiden Handlungen die eine
nicht von vornherein durch die gleiche Behörde verfolgen lässt, ändert
nichts. Kantonale Vorschriften über die sachliche Zuständigkeit vermögen
die bundesrechtlichen Bestimmungen über die interkantonale Zuständigkeit
nicht unwirksam zu machen, da Bundesrecht dem kantonalen Recht vorgeht
(Art. 2 UeBest BV).

Erwägung 2

    2.- Die Anklagekammer des Bundesgerichtes kann die Zuständigkeit
beim Zusammentreffen mehrerer strafbarer Handlungen anders als in
Art. 350 StGB bestimmen (Art. 263 BStP). Sie braucht dabei die Einheit
des Gerichtsstandes nicht zu wahren, sondern kann die zusammentreffenden
Handlungen verschiedenen Kantonen zur Verfolgung und Beurteilung zuweisen
(BGE 68 IV 124 ff., 69 IV 47 Erw. 3). Art 68 StGB gibt dem Beschuldigten
nicht Anspruch, für alle Handlungen durch ein und denselben Richter und
in einem einzigen Verfahren beurteilt zu werden (BGE 84 IV 11, 91 IV
59). Auch Art. 350 Ziff. 1 StGB verlangt die Vereinigung der Verfahren
nicht; diese Bestimmung regelt nur die örtliche Zuständigkeit. 3. - Von
Art. 350 Ziff. 1 StGB wurde in der Praxis abgewichen, wenn sich durch
die Bestimmung eines einheitlichen Gerichtsstandes die gleichzeitige
Beurteilung des Beschuldigten durch ein und denselben Richter ohnehin
nicht hätte verwirklichen lassen (BGE 68 IV 124 f.). Denn das kantonale
Prozessrecht bestimmt, unter welchen Voraussetzungen die Behandlung durch
ein und dieselbe Behörde möglich ist, und wenn es die Vereinigung der
Verfahren nicht zulässt, kann der einheitliche örtliche Gerichtsstand
sinnlos werden.

    Unter diesem Gesichtspunkt lässt sich im vorliegenden Falle die
Zuweisung der Gerichtsbarkeit an den Kanton Bern für die Verfolgung
und Beurteilung des Ungehorsams im Arrestverfahren nicht ohne weiteres
rechtfertigen. Gewiss sind im Kanton Zürich Übertretungen grundsätzlich
durch die Statthalterämter und die Gemeinderäte - in der Stadt Zürich
durch das Polizeirichteramt - zu verfolgen und erklärt § 94 a Abs. 2 GVG
die Untersuchungs-, Anklage- oder Gerichtsbehörden, die ein Verbrechen
oder Vergehen untersuchen und beurteilen, nur dann zur Mitverfolgung
von Übertretungen zuständig, wenn diese mit dem Verbrechen oder Vergehen
zusammenhangen. Es gibt aber noch andere Fälle, in denen die Zuständigkeit
der Statthalterämter und der Gemeinderäte auf Grund des in § 94 a
Abs. 1 GVG enthaltenen Vorbehaltes gesetzlicher Ausnahmen entfällt. So
weist § 335 StPO das Statthalteramt an, die Akten zur Durchführung der
Untersuchung und zur Erledigung der Bezirksanwaltschaft zu überweisen, wenn
es eine Haftstrafe für angemessen hält. Da Art. 323 StGB nicht nur Busse,
sondern wahlweise auch Haft bis zu vierzehn Tagen androht, wäre daher im
vorliegenden Falle nicht ausgeschlossen, dass das Statthalteramt die Sache
der Bezirksanwaltschaft überweisen würde. Zudem kann der Beschuldigte, wenn
er durch die Strafverfügung der Verwaltungsbehörde zu Busse verurteilt
worden ist, gerichtliche Beurteilung verlangen (§ 346 StPO), was zur
Überweisung an den Einzelrichter oder das Bezirksgericht führt, wenn die
Verwaltungsbehörde die Strafverfügung aufrecht hält und der Beschuldigte
auf seinem Begehren beharrt (§ 347 StPO). Da W. gegen das Strafmandat des
Gerichtspräsidenten von Aarberg Einspruch erhoben hat, ist vorauszusehen,
dass er auch in Zürich die Strafverfügung der Verwaltungsbehörde nicht
hinnehmen würde.

    Es kann indessen offen bleiben, ob im vorliegenden Falle im Kanton
Zürich ein und derselbe Richter gleichzeitig über den Ungehorsam und über
das Verlassen einer Geschwängerten urteilen könnte. Im Kanton Bern ist
gegen W. wegen des Ungehorsams bereits ein Strafmandat ergangen. Dieses
hat die Bedeutung eines Urteils, obwohl es zufolge des Einspruchs nicht
rechtskräftig geworden ist (vgl. Art. 224 bern. StrV). Die Anklagekammer
pflegt von der Möglichkeit der Trennung des interkantonalen Gerichtsstandes
namentlich dann Gebrauch zu machen, wenn in einem Kanton bereits ein
noch nicht rechtskräftiges Urteil ergangen ist (Entscheide vom 5. Januar
1944 i.S. Helwig und vom 6. März 1944 i.S. Frey). Allerdings erfordert
ein Strafmandat keinen grossen prozessualen Aufwand. Auch nach dem
Einspruch des W. geschah nichts Weiteres, als dass der Gerichtspräsident
den Beschuldigten einvernahm. Hauptverhandlung ist noch keine
durchgeführt worden. Dennoch rechtfertigt es sich nicht, wegen des
Übertretungstatbestandes in Zürich ein neues Verfahren einzuleiten. Wie
sich aus einer Verfügung des Gerichtspräsidenten von Aarberg vom 21. Januar
1969 ergibt, erfordert die Beurteilung die Einvernahme zweier Zeugen
aus Ortschwaben und Schüpfen. Diese müssten also entweder nach Zürich
vorgeladen oder auf dem Wege der Rechtshilfe einvernommen werden. Es ist
einfacher, das begonnene Verfahren in Aarberg zu beenden.

    Dem Beschuldigten wird daraus kein Nachteil entstehen. Sollte der
Gerichtspräsident von Aarberg, wie er es im Strafmandat vorgesehen hatte,
bei einer Busse bewenden lassen, in Zürich dagegen für den Tatbestand
des Verlassens einer Geschwängerten eine Gefängnisstrafe ausgesprochen
werden, so liesse sich das unter dem Gesichtspunkt von Art. 68 Ziff. 1
StGB nicht beanstanden, denn wenn der Schuldige nach einer Strafbestimmung
Busse und nach einer anderen Freiheitsstrafe verwirkt hat, sind nach
der Rechtsprechung des Bundesgerichts beide Strafen zu verhängen (BGE
75 IV 2, 86 IV 233). Würde der Gerichtspräsident von Aarberg dagegen
Haft als angemessen erachten - was nach Art. 225 Abs. 3 bern. StrV nicht
ausgeschlossen wäre -, so hätte entweder er oder der zürcherische Richter
dem Art. 68 Ziff. 2 StGB über die Ausfällung einer Zusatzstrafe Rechnung
zu tragen. Übrigens ist nach der Auffassung der zürcherischen Behörden
zweifelhaft, ob das Verfahren wegen Verlassens einer Geschwängerten
überhaupt zu einem Urteil führen wird.

Erwägung 4

    4.- Der Versuch des Generalprokurators des Kantons Bern, das Verfahren
wegen Ungehorsams den Zürcher Behörden zuzuschieben, ist angesichts der
Umstände nicht recht zu verstehen. Für dieses Mal wird aber noch davon
abgesehen, in Abweichung von der Regel des Art. 156 Abs. 2 OG die Kosten
dem Kanton Bern aufzuerlegen (BGE 86 IV 195 Erw. 3).

Entscheid:

Demnach erkennt die Anklagekammer:

    Das Gesuch wird abgewiesen, und die Behörden des Kantons Bern werden
zuständig erklärt, W. wegen des Ungehorsams im Arrestverfahren zu verfolgen
und zu beurteilen.