Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 95 II 55



95 II 55

9. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung i.S. Benelli gegen Crédit
Suisse vom 18. März 1969. Regeste

    Art. 27 Abs. 2 ZGB. Diese Vorschrift besagt nicht, jede Verpflichtung
sei unsittlich, welche die wirtschaftliche Existenz des Schuldners gefährde
(Präzisierung der Rechtsprechung).

    Art. 20 OR. Ob ein Vertrag den guten Sitten widerspricht, beurteilt
sich nach dem Inhalt, nicht nach den Mitteln, die dem Schuldner für die
Erfüllung zur Verfügung stehen.

Sachverhalt

    A.- Marcel Ruscio kaufte im Jahre 1961 die Geschäftseinrichtungen und
Waren der Metzgerei des August Crausaz in Martigny-Bourg und trat in den
zwischen Crausaz und Léonard Gianadda bestehenden Mietvertrag über die
Geschäftsräume ein. Um das Geschäft übernehmen zu können, ersuchte er
die Banque Populaire de Martigny SA um einen Konto-Korrent-Kredit von
Fr. 70'000.--, wobei er dem Vizedirektor der Bank, Georges Tissières,
erklärte, sein Schwiegervater, John Benelli in Gamsen bei Brig, sei bereit,
bis zu einem um 20% höheren Betrage Bürgschaft zu leisten. Ruscio war von
Advokat Paccolat beraten. Dieser holte auf der Bank die Kreditformulare und
brachte sie Notar Edouard Morand in Martigny-Ville, der den Kreditvertrag
samt Bürgschaft öffentlich beurkunden sollte.

    Die Beurkundung fand am 22. Februar 1961 statt. Ausser Notar
Morand, Ruscio, den Eheleuten Benelli und Crausaz waren auch Paccolat
und Gianadda anwesend. Der in französischer Sprache abgefasste "Acte
de crédit" wurde von Benelli als Solidarbürge unterzeichnet, wobei der
Höchstbetrag seiner Haftung mit Fr. 84'000.-- angegeben wurde und Frau
Benelli zustimmte. Crausaz unterzeichnete für den gleichen Betrag als
"certificateur de caution", d.h. als Nachbürge.

    Die Aktiven der Banque Populaire de Martigny SA gingen in der Folge
auf die Schweizerische Kreditanstalt über. Da Ruscio am 3. August 1966
eine Nachlassstundung gewährt wurde, die am 14. Dezember 1966 mit der
Verwerfung des Nachlassvertrages endete, belangte die Kreditanstalt Benelli
für einen ungedeckten Saldo der verbürgten Kreditschuld von Fr. 60'000.--
nebst Zins zu 5% seit 1. Juli 1966.

    B.- Das Kantonsgericht Wallis, vor dem Benelli seine
Bürgschaftserklärung wegen absichtlicher Täuschung, Irrtums und Verstosses
gegen Art. 27 ZBG als unverbindlich erachtete, hiess die Klage der
Schweizerischen Kreditanstalt am 20./21. November 1968 gut.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

    Der Beklagte leitet aus Art. 27 Abs. 2 ZGB ab, die zu seiner
finanziellen Leistungsfähigkeit in einem Missverhältnis stehende
Bürgschaft sei nichtig. Er beruft sich auf BGE 88 II 174. In diesem
Entscheide wurde unter Verweisung auf BGE 40 II 240, 51 II 167 f., 84 II
23, 277 und 635 gesagt, die finanziellen Verpflichtungen (engagements
de nature pécuniaire) widersprächen den guten Sitten nur, wenn sie die
wirtschaftliche Existenz des Schuldners gefährdeten. Dieser Satz gibt den
Sinn der Rechtsprechung nicht richtig wieder, weil er der unzutreffenden
Auffassung Vorschub leistet, jede finanzielle Verpflichtung, die den
Schuldner der Gefahr der Verarmung aussetzt, sei unsittlich und daher
nichtig. Das Bundesgericht hat das noch nie entschieden. Alle in den
erwähnten Entscheiden beurteilten Fälle betrafen Verpflichtungen zum
Bezuge von Sachwerten (Bier, Mehl, Möbel), und zu prüfen war die Frage,
ob der Schuldner durch die Eingehung dieser Verpflichtungen seine
Entschlussfreiheit, nämlich die Freiheit, die betreffenden Güter nach
Gutdünken bei irgendwem und in einem beliebigen Zeitpunkt einzukaufen oder
vom Kaufe überhaupt abzusehen, in unsittlicher Weise zum voraus beschränkt
oder aufgegeben habe. BGE 84 II 23 sprach von der vertraglichen Aufgabe der
"wirtschaftlichen Freiheit". Der Verstoss gegen Art. 27 Abs. 2 ZGB wurde in
allen Fällen verneint, weil der Schuldner durch die Bezugsverpflichtung
seine wirtschaftliche Existenz nicht gefährdet habe. BGE 88 II 174
sodann betrifft einen Aktionärbindungsvertrag. Auch dort bestand also
kein Anlas, statt von der vertraglichen Aufgabe oder Beschränkung der
Entschlussfreiheit in wirtschaftlichen Belangen von "engagements de nature
pécuniaire" zu sprechen. Das Bundesgericht wollte nur entscheiden, dass
jedenfalls dann die Aufgabe oder Beschränkung der Entschlussfreiheit
nicht gegen Art. 27 Abs. 2 ZGB verstosse, wenn sie die wirtschaftliche
Existenz des Vertragschliessenden nicht gefährde. Daraus e contrario zu
schliessen, die Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz des Schuldners
mache jede Verpflichtung, möge sie auch nur auf Zahlung von Geld gehen,
unsittlich und nichtig, ist ein Schritt, den es nicht getan hat und der
nicht getan werden darf. Art. 27 Abs. 2 ZGB will nur die persönliche
Freiheit vor zu weit gehenden, den guten Sitten widersprechenden
vertraglichen Eingriffen schützen, nicht dagegen sagen, in welchem
Ausmass vertragliche Bindungen anderer Art, besonders Versprechen auf
Zahlung von Geld, zulässig seien. Art. 27 Abs. 2 ZGB verbietet niemandem,
sich über seine finanziellen Kräfte hinaus zu verpflichten. Nicht diese
Bestimmung, sondern das Schuldbetreibungs- und Konkursrecht sorgt vor,
dass der Schuldner durch Geldschulden nicht vollständig entblösst werde,
sondern die zu seinem und seiner Familie Lebensunterhalt unumgänglich
notwendigen Sachen und Geldmittel behalten könne.

    Art. 27 Abs. 2 ZGB will auch nicht jede aus Unerfahrenheit oder
Leichtsinn eingegangene Verpflichtung nichtig erklären. Unter welchen
Voraussetzungen ein aus Unerfahrenheit oder Leichtsinn eingegangener
Vertrag nicht gehalten zu werden braucht, bestimmt Art. 21 OR. Diese
Norm verlangt ein offenbares Missverhältnis zwischen Leistung und
Gegenleistung und eine Ausbeutung der Unerfahrenheit oder des Leichtsinns
durch die Gegenpartei des Übervorteilten. Im vorliegenden Falle sind
diese Voraussetzungen nicht erfüllt. Der Beklagte behauptet das auch nicht.

    Auch verstösst die Bürgschaft des Beklagten nicht im Sinne des Art. 20
OR gegen die guten Sitten. Ob ein Vertrag den guten Sitten widerspricht,
beurteilt sich grundsätzlich nach seinem Inhalt (BGE 84 II 27, 277, 634),
nicht nach den Mitteln, die dem Schuldner zur Verfügung stehen, um ihn
zu erfüllen. Eine Solidarbürgschaft im Höchstbetrage von Fr. 84'000.--
zur Sicherung einer Kreditschuld von Fr. 70'000.-- ist ihrem Inhalte nach
nicht unsittlich.

    Zudem kann im vorliegenden Falle selbst unter Berücksichtigung der
beschränkten Leistungsfähigkeit des Beklagten von einem Verstoss gegen die
guten Sitten nicht die Rede sein. Welcher Gefahr der Bürge sein Einkommen
und sein Vermögen aussetzt, lässt sich nicht ausschliesslich anhand seiner
eigenen Mittel beurteilen. Die Möglichkeit, dass der Hauptschuldner
die Schuld aus eigenen Kräften tilgen könne, ist mitzuberücksichtigen.
Desgleichen sind die Pfänder in die Waagschale zu werfen, besonders
wenn sie von Dritten bestellt wurden. Im vorliegenden Falle darf deshalb
nicht darüber hinweggesehen werden, dass die Lage des Hauptschuldners im
Jahre 1961 nicht schlecht war. Der Beklagte hat sich z.B. nicht verbürgt,
um einem Überschuldeten aus hoffnungsloser Lage herauszuhelfen, sondern
um einem Zahlungsfähigen die Übernahme und Führung eines Geschäftes zu
ermöglichen. Der Gegenwert für die Hauptschuld war in der Form des zu
eröffnenden Bankkredites vorhanden. Es war nicht vorauszusehen, dass die
in das Geschäft zu steckenden Mittel verloren gehen würden. Das Geschäft
war gegenteils vielversprechend. Wie das Kantonsgericht feststellt,
schien Ruscio als Metzgermeister geschäftstüchtig zu sein und hatte
vorerst während einiger Jahre der Hochkonjunktur ein blühendes Geschäft mit
verschiedenen Filialen. Erst die Massnahmen zur Bekämpfung der überspitzten
Konjunktur, denen zufolge die Arbeiten auf den Baustellen zurückgingen,
brachten ihn in finanzielle Schwierigkeiten. Diese Entwicklung kann die
Bürgschaft des Beklagten nicht unsittlich machen. Jede Bürgschaft birgt
die Gefahr, dass der Bürge einmal belangt werden könnte. Der Beklagte
verstiess nicht gegen die guten Sitten, indem er sich ihr aussetzte,
umso weniger, als er dadurch seinem Schwiegersohn und mittelbar seiner
Tochter, die von ihm nach ethischen Grundsätzen Hilfe erwarten durften,
einen Dienst erwies. Gewiss mag eine Bürgschaft für Fr. 84'000.-- die
Leistungsfähigkeit des Beklagten überstiegen haben. Darauf kann aber auch
schon deshalb nichts ankommen, weil der Beklagte nur für Fr. 60'000.--
nebst Zins belangt wird. Er ist Eigentümer einer unbelasteten Wohnung im
Werte von etwa Fr. 50'000.-- und verfügt über eine bescheidene Rente zu
seinem Lebensunterhalt. Er wird einen wesentlichen Teil der Bürgschaft
erfüllen können.