Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 95 II 333



95 II 333

46. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 20. Mai 1969
i.S. Landolt gegen Basler-Unfall und Hegner. Regeste

    Art. 60 Abs. 1 SVG. Diese Vorschrift gilt für das Zusammenwirken
verschiedenartiger Schadenverursacher (Erw. 3).

    Analoge Anwendung von Art. 72 VVG bei der
Haftpflichtversicherung. Übergang der Rückgriffsrechte des Schädigers
auf den Versicherer (Bestätigung der Rechtsprechung; Erw. 4).

    Art. 60 Abs. 2 SVG. Der Halter kann sich im Rahmen einer
Rückgriffsklage darauf berufen, dass ihm gegenüber dem Geschädigten ein
Entlastungs-oder Befreiungsgrund zugestanden hätte (Erw. 5).

    Verschulden des Lenkers, der ein am Strassenrand stehendes Fahrzeug
in den Verkehr einschaltet, ohne den Richtungsanzeiger zu betätigen. Die
Frage der Beweislast ist gegenstandslos, wenn der Richter den Sachverhalt
auf dem Wege der Beweiswürdigung ermittelt hat (Erw. 6).

    Art. 60 Abs. 2 Satz 2 SVG. Interne Auseinandersetzung zwischen Haltern.
Beweislast. Betonung des Verschuldens bei der Schadensverteilung (Erw. 7).

Sachverhalt

    A.- Am 28. November 1962 ca. 18.20 Uhr stiessen auf der Zürcherstrasse
ausserhalb Jona, im Gubel, zwei Personenwagen zusammen, die von Karl
Landolt und Frau Paula Hegner gelenkt wurden. Frau Hegner hatte auf der
Höhe der Unfallstelle am rechten Strassenrand mit einem Personenwagen
Marke Opel angehalten, dann nach links in die Strasse eingebogen, um in der
gegenüberliegenden Einfahrt zu einem Parkplatz zu wenden. Gleichzeitig war
Landolt im Begriff, dieses Fahrzeug mit seinem Personenwagen Marke Mercedes
zu überholen. Das Vorhaben gelang nicht. Die Fahrzeuge stiessen ungefähr
50 cm links der Strassenmitte - in der Fahrrichtung Landolts gesehen -
zusammen. Frau Landolt, die im Wagen ihres Mannes Platz genommen hatte,
und eine Mitfahrerin von Frau Hegner wurden erheblich verletzt. Beide
Fahrzeuge wurden stark beschädigt. Gegen die beiden Fahrzeuglenker
wurde eine provisorische Bussenverfügung erlassen, die jedoch wegen
Verfolgungsverjährung wieder aufgehoben wurde.

    Karl Landolt und Othmar Hegner, die Halter der am Zusammenstoss
beteiligten Fahrzeuge, sind bei der Basler-Unfall gegen Haftpflicht
versichert.

    B.- Die Eheleute Anna (Klägerin 1) und Karl (Kläger 2) Landolt
belangten die Basler-Unfall (Beklagte 1) und Frau Hegner (Beklagte
2) beim Bezirksgericht See solidarisch auf Zahlung von Fr. 67'271.10
(Rechtsbegehren 1) und Fr. 4612.55 (Rechtsbegehren 2) nebst Zins zu 5%
seit 28. November 1962. Ausserdem beantragten die Kläger, die ihnen von
der Beklagten 1 geleisteten Teilzahlungen von Fr. 9000.-- so anzurechnen,
wie es dem Verhältnis der ihnen richterlich zuzuerkennenden Forderung
entspreche (Rechtsbegehren 3).

    Das Bezirksgericht See schützte am 15. Januar 1968 die Klage der
Klägerin 1 im Betrag von Fr. 64'106.50 und jene des Klägers 2 im Betrage
von Fr. 3690.--, je nebst Zins. Ausserdem rechnete es die Teilzahlungen
der Beklagten 1 von Fr. 9000.-- mit Fr. 8515.-- an die Forderung der
Klägerin 1 und mit Fr. 485.-- an die Forderung des Klägers 2 an.

    Gegen dieses Urteil erklärten beide Parteien die Berufung
an das Kantonsgericht St. Gallen. Nach Durchführung einer
"Vorbereitungsverhandlung" im Sinne von Art. 289 der st. gallischen ZPO
schlossen sie am 9./17. Mai 1968 "einen Vergleich mit Prozessvereinbarung"
ab, der wie folgt lautet:

    "1) Die Beklagten anerkennen Ziff. 1 des klägerischen Rechtsbegehrens,
d.h. gegenüber der Klägerin 1, Frau Anna Landolt-Baumgartner, einen
Betrag von Fr. 67'271,10 zuzüglich 5 % Zins seit 28.11.62 unter Anrechnung
der Teilzahlungen der Beklagten 1 von insgesamt Fr. 9000.-- (Fr. 6000.--
vom 31.8.64 und Fr. 3000.-- vom 20.12.65).
   ...  ...

    4) Mit dieser Regelung ist der Prozess zwischen der Klägerin 1 und den
Beklagten vergleichsweise erledigt und kann in diesem Sinne als erledigt
abgeschrieben werden.

    5) Die Beklagten anerkennen quantitativ die Forderung des Klägers
2, Karl Landolt-Baumgartner, im Betrage von Fr. 4612.55 nebst 5 % Zins
seit 28.11.62, wobei das Kantonsgericht zu entscheiden hat, in welchem
Umfang die Forderung unter Berücksichtigung des streitigen beidseitigen
Verschuldens am Unfall zuzusprechen sei. 6) Die Beklagte 1 erhebt
gegenüber dem Kläger 2, Karl Landolt-Baumgartner, folgende Widerklage:
,Der Kläger 2 sei zu verpflichten, der Beklagten 1 Fr. 33'635.55 nebst 5 %
Zins seit 28.11.62 zu bezahlen.' Der Kläger 2 lässt diese Widerklage vor
Kantonsgericht ausdrücklich zu und beantragt Abweisung derselben.
   ......"

    Das Kantonsgericht schrieb am 9. Juli 1968 die Klage der Klägerin
1 sowie den Antrag beider Kläger auf Anrechnung der von der Beklagten 1
geleisteten Teilzahlungen (vergl. Rechtsbegehren 3) als durch Vergleich
erledigt ab (Urteilsspruch 1 und 3). Zudem schützte es die Klage des
Klägers 2 (Rechtsbegehren 2) im Betrag von Fr. 4612.55 nebst Zins zu 5%
seit 28. November 1962 und hiess die Widerklage der Beklagten 1 gegen den
Kläger 2 (vgl. Ziffer 6 der Vereinbarung vom 9./17. Mai 1968) im Betrage
von Fr. 13'454.20 nebst Zins zu 5% seit 28. November 1962 gut.

    C.- Der Kläger 2 hat beim Kantonsgericht ein Berichtigungsgesuch
eingereicht mit dem Antrag, die von der Beklagten 1 gegen ihn erhobene
Widerklage im Betrage von Fr. 11'211.65 nebst Zins seit 28. November 1962
zu schützen. Dabei wies er darauf hin, dass das Kantonsgericht bei der
Bemessung der Ersatzpflicht die Betriebsgefahren der beiden Fahrzeuge
einfach (50: 50), das alleinige Verschulden der Beklagten 2 doppelt (0:
200) in Rechnung gestellt hatte. Nach dieser Rechnung ergebe der von
ihm zu vertretende Anteil an der Gesamtverursachung des Personenschadens
nicht 20%, sondern nur 162/3%, weshalb die Widerklage der Beklagten 1 im
beantragten Umfang zu schützen sei.

    Das Kantonsgericht wies am 11. Oktober 1968 das Berichtigungsbegehren
des Klägers 2 ab. Es anerkannte zwar den behaupteten Irrtum, machte aber
geltend, die im angefochtenen Urteil vorgenommene Berechnung sei nur ein
Hilfsmittel im Rahmen des richterlichen Ermessensentscheides; es hätte
daher die Ersatzpflicht des Klägers 2 - so fährt das Kantonsgericht fort -
auch ohne den Rechnungsfehler nicht auf 16 2/3% festgesetzt, sondern auf
20% aufgerundet.

    D.- Der Kläger 2 und die Beklagten 1 und 2 haben gegen das Urteil
des Kantonsgerichts St. Gallen die Berufung an das Bundesgericht erklärt.

    Der Kläger 2 beantragt, die Widerklage der Beklagten 1 abzuweisen,
auf die Berufung der Beklagten 1 und 2 nicht einzutreten, eventuell
sie abzuweisen.

    Die Beklagten 1 und 2 beantragen, die Klage des Klägers 2 abzuweisen,
eventuell in einem nach richterlichem Ermessen zu bestimmenden Umfange
zu schützen.

    Die Beklagte 1 beantragt, die Widerklage gegen den Kläger 2 zu
schützen, eventuell die Sache zur Ergänzung der Akten und zu neuem
Entscheid an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Da sich der Unfall am 28. November 1962 ereignet hat, beurteilen
sich die streitigen Ansprüche nach den Vorschriften der Artikel 58 ff. SVG
betreffend Haftpflicht und Versicherung, die am 1. Januar 1960 in Kraft
getreten sind (VVV vom 20. November 1959, Art. 61 Abs. 1). Das Verhalten
der am Unfall beteiligten Fahrzeugführer ist dagegen nach den im Zeitpunkt
des Unfalls noch geltenden Verkehrsregeln des MFG zu beurteilen.

Erwägung 2

    2.- (Prozessuale Fragen).

Erwägung 3

    3.- Art. 60 Abs. 1 SVG bestimmt: "Sind bei einem Unfall,
an dem ein Motorfahrzeug beteiligt ist, mehrere für den Schaden
eines Dritten verantwortlich, so haften sie, unter Vorbehalt von
Abs. 3, solidarisch". Diese Vorschrift gilt für das Zusammenwirken
verschiedenartiger Verursacher (Halter, Führer, Radfahrer,
Eisenbahn, Werkeigentümer usw.), wie für die Schädigung durch mehrere
Fahrzeuge. Solidarität setzt voraus, dass die Haftung eines jeden
Beteiligten bereits feststeht. Der Halter ist dann "verantwortlich"
und somit solidarisch haftpflichtig, wenn sich die Betriebsgefahr des
Fahrzeuges im Sinne von Art. 58 Abs. 1 SVG verwirklicht hat und er weder
Entlastung (Art. 59 Abs. 1 SVG) noch Befreiung (Art. 59 Abs. 2 und 3, 75
Abs. 1 SVG) beanspruchen kann. Liegt ein Herabsetzungsgrund vor, so hat
er neben andern Ersatzpflichtigen nur im Umfange des reduzierten Betrages
für den verursachten Schaden solidarisch einzustehen (vgl. OFTINGER,
Haftpflichtrecht, Bd. II/2, 660, 672/73).

    Die Klägerin 1 ist Dritte im Sinne von Art. 60 Abs. 1 SVG. Sie
konnte daher nach ihrer Wahl die beiden Fahrzeughalter sowie die
aus Verschulden haftende Lenkerin, die Beklagte 2, auf Schadenersatz
belangen. Ausserdem war sie von Gesetzes wegen befugt, die Beklagte 1 als
Haftpflichtversicherer des nach Art. 58 Abs. 4 SVG für das Verschulden
seiner Ehefrau, der Beklagten 2, verantwortlichen Halters Othmar Hegner
in Anspruch zu nehmen (Art. 65 Abs. 1 SVG).

Erwägung 4

    4.- Die Beklagte 1 hat der Klägerin 1 gestützt auf die Vereinbarung
vom 9./17. Mai 1968 Fr. 67'271.10 nebst Zins als Schadenersatz bezahlt. Zu
prüfen ist, ob durch diese Zahlung die Schadenersatzforderung der Klägerin
1 auf die Beklagte 1 übergegangen ist.

    Nach Art. 72 VVG geht bei der Schadensversicherung der Ersatzanspruch,
der den Anspruchsberechtigten gegenüber einem Dritten aus unerlaubter
Handlung zusteht, auf den Versicherer über, soweit er Entschädigung
geleistet hat. Da die Haftpflichtversicherung nach ihrer Stellung im Gesetz
eine Unterart der Schadensversicherung ist, trifft Art. 72 VVG auch auf
sie zu. Sie weist allerdings die Besonderheit auf, dass sie nicht einen den
Versicherten unmittelbar treffenden Schaden zu decken bestimmt ist, sondern
die Belastung zum Gegenstand hat, die den Versicherten infolge seiner
Haftung für den Schaden eines Dritten trifft; Art. 72 VVG ist dagegen
auf den Tatbestand zugeschnitten, dass der Geschädigte selbst versichert
ist. Nach allgemein anerkannter Auffassung ist aber trotzdem in analoger
Anwendung von Art. 72 VVG auch bei der Haftpflichtversicherung ein Übergang
der Rückgriffsrechte vom Versicherten anzunehmen. Der übergehende Anspruch
ist dabei, der Besonderheit der Haftpflichtversicherung entsprechend, der
Ausgleichsanspruch des haftpflichtigen Versicherten nach Art. 50 und 51
OR gegenüber Mithaftpflichtigen. Diese Lösung ist deshalb gerechtfertigt,
weil sonst eine Bereicherung des versicherten Haftpflichtigen einträte,
da er einerseits infolge der Zahlungen des Haftpflichtversicherers von
der Ersatzleistung an den Geschädigten befreit wäre, anderseits aber
gleichwohl auf die Mithaftpflichtigen Rückgriff nehmen könnte; dies stünde
aber im Widerspruch mit dem Grundsatz des Versicherungsrechts, dass die
Schadenversicherung nicht zu einer Bereicherung des Versicherten führen
dürfe (vgl. BGE 79 II 408, 69 II 417, 63 II 153 Erw. 6, 62 II 181/82,
65 II 200; OFTINGER, aaO, Bd. I S. 408 ff. und Bd. II/2 S. 778). Die
Beklagte 1 ist somit im Umfang der geleisteten Zahlung in die Rechte der
geschädigten Klägerin 1 eingetreten. Da die Ansprüche der Klägerin 1 nach
dem Versicherungsvertrag ihres Ehemannes, des Klägers 2, von der Deckung
ausgeschlossen sind (vgl. Art. 63 Abs. 3 lit. d SVG), kann der Kläger 2
der Rückgriffsklage der Beklagten 1 nicht die Einrede der Deckungspflicht
seines Versicherers entgegenhalten.

Erwägung 5

    5.- Das Kantonsgericht hat vor der Durchführung der internen
Auseinandersetzung geprüft, ob der Kläger 2 im Aussenverhältnis nach
Art. 60 Abs. 1 SVG überhaupt "verantwortlich" sei. Es ist dabei zum
Schluss gelangt, dass den Kläger 2 am Zusammenstoss kein Verschulden
treffe, der Beklagten 2 dagegen "eine Fehlbewertung der gesamten
Verkehrssituation" vorzuwerfen sei, was ein erhebliches, nicht aber ein
grobes, die Kausalhaftung ausschliessendes Drittverschulden im Sinne von
Art. 59 Abs. 1 SVG sei. Der Kläger 2 hätte sich daher - so folgert das
Kantonsgericht - der Solidarhaftung nicht entziehen können, wenn er von
der Klägerin 1 unmittelbar auf Schadenersatz belangt worden wäre. Das
Kantonsgericht hat sodann unter Berücksichtigung der Betriebsgefahren
und der Verschuldenslage den Kläger 2 zu 20%, die Beklagte 1 zu 80%
als ersatzpflichtig erklärt.

    Der Kläger 2 rügt, die Vorinstanz habe Art. 59 Abs. 1 und 60 Abs. 1
und 2 SVG verletzt, weil sie das verkehrswidrige Verhalten der Beklagten
2 nicht als "grobes Verschulden" gewertet und ihn, den Kläger 2, von der
Solidarhaftung nicht befreit habe.

    Art. 60 Abs. 2 SVG ordnet die interne Auseinandersetzung unter mehreren
Ersatzpflichtigen. Satz 1 der Vorschrift bestimmt, dass der Schaden auf
die beteiligten Haftpflichtigen unter Würdigung aller Verhältnisse zu
verteilen sei. "Haften nur Motorfahrzeughalter, so tragen sie - nach
Satz 2 - den Schaden zu gleichen Teilen, wenn nicht besondere Umstände,
namentlich das Verschulden, eine andere Verteilung rechtfertigen." Satz
2 von Art. 60 Abs. 2 regelt somit den Ausgleich unter Haltern, Satz
1 dagegen den Ausgleich zwischen Haltern und andern Ersatzpflichtigen
(vgl. OFTINGER, aaO, Bd. II/2, Fussnote 939, S. 675). Da die Beklagte 1
als Haftpflichtversicherung in die Rechte des Halters Hegner eingetreten
ist, beurteilt sich die vorliegende Rückgriffsklage nach Art. 60 Abs. 2
Satz 2.

    Zu prüfen ist, ob sich der Halter im Rahmen einer Rückgriffsklage
nach Art. 60 Abs. 2 SVG darauf berufen kann, dass ihm gegenüber dem
Geschädigten ein Entlastungsgrund zugestanden hätte. Die Wendungen
"Haftpflichtige" und "haften" in Art. 60 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 SVG
nehmen Bezug auf die solidarische Verantwortung gegenüber Dritten nach
Art. 60 Abs. 1 SVG. Die Rückgriffsordnung des Art. 60 Abs. 2 SVG setzt
somit nach Satz 1 und 2 Haftung eines jeden einzelnen im Aussenverhältnis
voraus. Der Halter muss daher (auch im Innenverhältnis) für einen Schaden
nicht einstehen, wenn er Entlastung (Art. 59 Abs. 1 SVG) oder Befreiung
(Art. 59 Abs. 2 oder 3 und 75 Abs. 1 SVG) beanspruchen kann (vgl. OFTINGER,
aaO Bd. II/2, S. 672/73). Diese Regelung rechtfertigt sich insofern,
als der Halter bei der internen Auseinandersetzung mit Haltern oder
andern Ersatzpflichtigen weder besser nochschlechtergestelltwerdendarf,
alswennervomGeschädigten unmittelbar belangt worden wäre. Gelingt ihm der
Entlastungs- oder Befreiungsbeweis, so wird die interne Auseinandersetzung
gegenstandslos (vgl. OFTINGER, aaO Bd. II/2 S. 652/53).

Erwägung 6

    6.- Nach Art. 59 Abs. 1 SVG gilt der Kausalzusammenhang zwischen
dem Betrieb eines Motorfahrzeuges und dem Schaden als unterbrochen,
wenn der Halter beweist, dass der Unfall durch höhere Gewalt oder grobes
Verschulden des Geschädigten oder eines Dritten verursacht wurde, ohne dass
ihn selbst oder Personen, für die er verantwortlich ist, ein Verschulden
trifft und ohne dass fehlerhafte Beschaffenheit des Fahrzeuges zum Unfall
beigetragen hat.

    a) Zunächst fragt sich, ob der Beklagten 2 grobe Fahrlässigkeit
vorgeworfen werden kann. Das ist dann der Fall, wenn sie Sorgfaltspflichten
verletzt hat, die sich jedem verständigen Menschen in der gleichen Lage
aufdrängen mussten (vgl. BGE 93 II 352 und dort erwähnte Entscheide).

    aa) Nach Art. 48 Abs. 3 MFV darf "auf der Strasse ein Fahrzeug nur dann
gewendet werden, wenn dies ohne Störung des Verkehrs geschehen kann". Diese
Bestimmung trifft analog auf den vorliegenden Fall zu. Die Beklagte 2
durfte das ursprünglich am Strassenrand angehaltene Fahrzeug erst in
den Verkehr einschalten, wenn sie sich davon überzeugt hatte, dass die
Strasse frei war. Sie hatte daher nach Art. 25 Abs. 1 MFG auf den Verkehr
auf der Fahrbahn Rücksicht zu nehmen und vorzusorgen, dass herannahende
Fahrzeuge nicht behindert oder gefährdet würden (vgl. BGE 83 IV 33). Sie
war verpflichtet, beim Abbiegen den Richtungsanzeiger zu stellen und
sich darüber zu vergewissern, dass sie niemand die Fahrbahn versperrte
(gl. BGE 76 IV 59, 78 IV 184). Zudem musste sie vor der Durchführung
ihres Vorhabens in Rechnung stellen, dass die gegenüberliegende Einfahrt
zum Parkplatz keine Strassenkreuzung (Einmündung) im Sinne von Art. 26
Abs. 3 MFG war und dort daher überholt werden durfte.

    Die Vorinstanz stellt mit dem in der Strafuntersuchung beigezogenen
Experten fest, dass vom ursprünglichen Standort des Fahrzeugs der
Beklagten 2 - richtige Aufmerksamkeit vorausgesetzt - die Lichtkegel
heranfahrender Fahrzeuge auf eine Entfernung von über 250 m, d.h. über die
westlich zurückliegende Kuppe hinaus wahrnehmbar gewesen seien und dass
die unmittelbare Sicht 170 m betragen habe. Die Beklagte hat nach ihrer
eigenen Darstellung auf der Kuppe vorerst den Lichtstrahl der Scheinwerfer
des vom Kläger 2 gesteuerten Fahrzeuges gesehen. Sie hatte daher zu
entscheiden, ob sie die Strasse noch rechtzeitig überqueren konnte. Ob
dazu 5-7 Sek. genügten, wie der Gutachter errechnete, oder ob nach der
Auffassung der Beklagten 115-17 Sek. erforderlich waren, ist unerheblich.
Auch kann sich die Beklagte 1 nicht darauf berufen, dass die Beklagte 2
nach Auffassung des Kantonsgerichts nicht damit rechnete, dass auf der
fraglichen Strasse Geschwindigkeiten von 100 km gefahren werden. Denn
es ist erfahrungsgemäss schwierig, nachts die Geschwindigkeit und die
Entfernung eines herannahenden Fahrzeuges zuverlässig zu schätzen. Die
Beklagte 2 musste daher umso grössere Vorsicht walten lassen, als sie
nicht wusste, wieviel Zeit sie zum Überqueren der Strasse benötigte
(vgl. BGE 82 II 538, 79 II 310). Die Strasse ist nach Feststellung
des Kantonsgerichts 9 m breit, gut ausgebaut, übersichtlich und nachts
zweckmässig beleuchtet. Die vom Kläger 2 im Zeitpunkt des Unfalls vom
Kantonsgericht mit dem Experten angenommene Geschwindigkeit zwischen
100 bis 110 km war daher nach den Umständen nicht übersetzt. Im übrigen
könnte die Beklagte 1 aber hier nichts für sich ableiten, wenn der Kläger
2 tatsächlich zu schnell gefahren wäre. Denn der Führer muss diejenige
Geschwindigkeit in Rechnung stellen, die ein anderes Fahrzeug tatsächlich
hat, nicht jene, die es haben sollte (vgl. BGE 83 IV 35, 82 II 538).

    bb)Die Beklagte 1 hält an der Auffassung fest, der Zusammenstoss
sei darauf zurückzuführen, dass der Kläger 2 im Bereich der Kuppe ein
Überholungsmanöver nicht rechzeitig abgeschlossen und mit seinem Wagen -
in seiner Fahrrichtung gesehen - über die Strassenmitte hinausgeraten
sei. Das Kantonsgericht vertritt mit dem Experten die Ansicht, es sei
für den Zusammenstoss nicht kausal, ob der Kläger 2 vor oder auf der
Kuppe ein verkehrswidriges Überholmanöver durchgeführt habe. Aus den
Bremsspuren ergebe sich, dass sich der Kläger 2 bei Reaktionsbeginn
zweifellos auf der rechten Fahrbahnhälfte befunden habe. Verlängere man
die Bremsspur der zwei linken Räder seines Fahrzeugs nach rückwärts,
so schneide diese Verlängerung nach 11 m die Strassenmitte. Gehe man nun
von 1/2 Sekunden Reaktionszeit bei 100 km Geschwindigkeit aus, so habe
der Kläger 2 in dieser Zeit 17 m durchfahren. Dabei sei unberücksichtigt,
dass die Reifen eines Fahrzeugs erst nach einer gewissen Bremsstrecke zu
zeichnen beginnen. Der Reaktionsbeginn liege daher noch weiter zurück. Es
dürfe daher mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass sich der
Kläger 2 bei Reaktionsbeginn noch in seiner Fahrbahnhälfte befunden
habe, möglicherweise eher gegen die Strassenmitte, weil er vorher das
stillstehende Fahrzeug der Beklagten 2 zu überholen beabsichtigte. Diese
über den natürlichen Kausalzusammenhang getroffenen Feststellungen sind
tatsächlicher Art und daher für das Bundesgericht verbindlich (vgl. BGE
86 II 187 und dort erwähnte Entscheide, 93 II 89 Erw. 6).

    cc) Die Vorinstanz hat der Beklagten 1 den Beweis dafür auferlegt,
dass die Beklagte 2 vor dem Abbiegen den Blinker gestellt habe. Die
Beklagte 1 beanstandet diese Beweislastverteilung als bundesrechtswidrig.

    Auf diese Rüge käme nur dann etwas an, wenn zu entscheiden wäre,
welche Partei die Folgen der Beweislosigkeit der streitigen Tatsache
zu tragen habe. Wo aber, wie im vorliegenden Fall, die Vorinstanz auf
Grund der Strafuntersuchungsakten, mithin auf dem Wege der Beweiswürdigung
ermittelte, dass die Beklagte 2 beim Abbiegen die Richtungsänderung nicht
angezeigt hatte, ist die Frage der Beweislast gegenstandslos (vgl. BGE
90 II 217 Erw. 3, 81 II 155, KUMMER, N. 23 zu Art. 8 ZGB). Damit bleibt
es bei der beanstandeten Feststellung, dass die Beklagte 2 den Wagen für
den Kläger 2 überraschend in den Verkehr eingeschaltet hat.

    dd) Mit Recht hat die Vorinstanz auf Grund der festgestellten
Verhältnisse erklärt, es sei unerheblich, ob die Beklagte 2 den Wagen zu
spät oder zu langsam in Bewegung gesetzt habe, oder ob sie, was nicht
sehr wahrscheinlich sei, am Orte des Zusammenstosses stehen geblieben
sei. Massgebend ist nur, dass sie dem Kläger 2 die Fahrbahn versperrte
und ihm das Vortrittsrecht abschnitt. Dass die Beklagte 2 angeblich die
Geschwindigkeit des Klägers 2 nicht richtig einschätzte, entlastet sie
nicht. Sie durfte es nicht darauf ankommen lassen, dass es ihr nicht
gelingen könnte, die Strasse rechtzeitig zu überqueren. Die falsche
Beurteilung der Verkehrslage darf indessen der Beklagten 2 nicht als grobe
Fahrlässigkeit zur Last gelegt werden. Daran ändert nichts, dass sie vor
dem Einbiegen in die Strasse den Blinker nicht einschaltete. Zwar hätte
sie durch diese Vorsichtsmassnahme den Kläger 2 zu grösserer Vorsicht und
zur Mässigung der Geschwindigkeit veranlasst. Das schliesst aber nicht aus,
dass sie auch unter diesen Umständen die Entfernung und die Geschwindigkeit
des herannahenden Fahrzeuges nicht richtig eingeschätzt und ihr Vorhaben
zu spät verwirklicht hätte, was die Hauptursache des Unfalles war. Die
Fahrlässigkeit der Beklagten 2 war somit erheblich, jedoch nicht grob.

    b) Den Kläger 2 trifft kein Verschulden. Er hatte keine Veranlassung,
auf der breiten und übersichtlichen Strasse mit mässiger Geschwindigkeit
zu fahren und musste insbesondere nicht damit rechnen, dass die Beklagte
2 überraschend in die Fahrbahn einbiegen werde. Zudem ergeben sich aus
den Feststellungen des angefochtenen Urteils keine Anhaltspunkte dafür,
dass fehlerhafte Beschaffenheit des vom Kläger 2 gelenkten Fahrzeuges
auf den Unfall eingewirkt hat.

Erwägung 7

    7.- Da sich der Kläger 2 nicht entlasten kann, ist der Schaden nach
Art. 60 Abs. 2 Satz 2 zu verteilen. Diese Vorschrift beruht auf der
Vermutung, dass die Betriebsgefahr der am Unfall beteiligten Fahrzeuge
gleich gross ist, weshalb der Schaden von den Haltern zu "gleichen Teilen"
getragen werden muss, wenn nicht "besondere Umstände, namentlich das
Verschulden, eine andere Verteilung rechtfertigen". Jeder Halter muss
demnach das Verschulden der Gegenpartei beweisen; dass ihn kein Verschulden
treffe, hat er nicht zu beweisen; sein Verschulden wird - im Gegensatz
zur Haftung im Aussenverhältnis - nicht vermutet (vgl. BGE 94 II 181
Erw. 4, OFTINGER, aaO Bd. II/2 S. 655). Die Rechtslage ist gleich wie
in Art. 61 Abs. 1 SVG. der sinngemäss gleich lautet und sich ebenfalls
mit der Schadensverteilung zwischen Haltern befasst (vgl. OFTINGER,
aaO Bd. II/2 S. 675).

    Die Beklagte 1 beanstandet, die Vorinstanz habe Art. 60 Abs. 2 SVG
verletzt, weil sie das Verschulden der Beklagten 2 doppelt in Rechnung
gestellt und damit die Betriebsgefahren der Fahrzeuge in den Hingergrund
gerückt habe.

    Diese Rüge ist unbegründet. Die Beklagte 1 übersieht, dass die
Beklagte 2 ein ausschliessliches und erhebliches Verschulden trifft,
ihr verkehrswidriges Verhalten somit die Hauptursache des Unfalles
ist. Den konkreten Betriebsgefahren kommt daher als "besondere Umstände"
(vgl. BGE 94 II 177 Erw. 2) im Rahmen der Gesamtverursachung nur eine
untergeordnete Bedeutung zu. Infolgedessen kann nicht gesagt werden,
die Vorinstanz habe das ihr zustehende Ermessen bei der Aufteilung des
Schadens im Verhältnis von 20% (Kläger 2) zu 80% (Beklagte 1) verletzt.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht: Die Berufungen werden, soweit darauf
eingetreten wird, abgewiesen und das Urteil des Kantonsgerichts St. Gallen
vom 9. Juli 1968 wird bestätigt.