Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 95 II 283



95 II 283

37. Urteil der II. Zivilabteilung vom 10. Juli 1969 i.S. Rufli und
Bänziger gegen Politische Gemeinde St. Gallen. Regeste

    Art. 141 Abs. 1 lit. b OG. Die Revisionsfrist beginnt bereits dann
zu laufen, wenn beim Gesuchsteller ein auf sicheren Grundlagen fussendes
Wissen über die neue erhebliche Tatsache vorhanden ist, und nicht erst,
wenn er diese sicher beweisen kann.

Sachverhalt

    A.- Die Politische Gemeinde St. Gallen hatte gegenüber Frau Klara
Ehrbar gemäss Vertrag vom 21. August 1958 ein im Grundbuch vorgemerktes
Vorkaufsrecht an der Parzelle Grundbuch St. Fiden Nr. 2926. Am 14. Oktober
1958 verkaufte Frau Ehrbar das Grundstück dem Alois Osterwalder.
Am 12. November 1958 teilte die Politische Gemeinde St. Gallen der
Verkäuferin mit, sie übe das Vorkaufsrecht aus und erwerbe die Parzelle Nr.
2926 zu den Bedingungen des Vertrages vom 14. Oktober 1958. Frau Ehrbar
widersetzte sich diesem Begehren.

    Am 11. Oktober 1962 hiess das Kantonsgericht St. Gallen im
Berufungsverfahren die von der Vorkaufsberechtigten gegen Frau Ehrbar
eingereichte Klage auf Zusprechung des Eigentums an der Parzelle Nr. 2926
gut.

    Am 16. Mai 1963 wies das Bundesgericht die von Frau Ehrbar erklärte
Berufung ab und bestätigte das kantonsgerichtliche Urteil.

    B.- Am 19. Dezember 1963 verkaufte Frau Ehrbar der Corvag-Bau AG
die Parzelle Grundbuch St. Fiden Nr. 764. Einige Monate später liess sie
der Käuferin durch ihren Anwalt mitteilen, sie halte den Vertrag wegen
Uebervorteilung nicht und verlange die Rückübertragung der Liegenschaft.

    Nachdem Frau Ehrbar im August 1964 bevormundet worden war, reichte
sie - vertreten durch ihren Vormund, Johann Egger - beim Bezirksgericht
St. Gallen gegen die Corvag-Bau AG und gegen die Kredit und Anlagen AG
(der die Liegenschaft am 15. September 1964 weiterverkauft worden war)
Klage auf Ungültigerklärung der Kaufverträge vom 19. Dezember 1963 und
15. September 1964 und auf Rückübertragung der Liegenschaft ein. In diesem
Prozess wurde über den Geisteszustand der Klägerin bei Dr. med. Bachmann
ein Gutachten eingeholt, das am 7. Oktober 1966 erstattet wurde. Der
Experte kam zum Schluss, die Imbezillität der Explorandin sei derart
ausgeprägt, dass sie überhaupt nie als urteils- und handlungsfähig hätte
betrachtet werden dürfen.

    Im Urteil vom 18. April 1967 stellte das Bezirksgericht dann
u.a. fest, der Kaufvertrag vom 19. Dezember 1963 sei wegen fehlender
Handlungsfähigkeit der Verkäuferin nichtig.

    C.- Johann Egger hatte sich am 19. Dezember 1966 schriftlich an den
Stadtrat von St. Gallen gewandt, um die Zusicherung zu erhalten, dass die
gestützt auf das Vorkaufsrecht erworbene Parzelle Nr. 2926 einstweilen
weder überbaut noch veräussert werde. Am 19. April 1967 begehrte Egger
im Namen seines Mündels einen Vermittlungsvorstand, im wesentlichen
mit den Rechtsbegehren, die mit der Stadt St. Gallen abgeschlossenen
Rechtsgeschäfte (insbesondere der Vertrag vom 21. August 1958 über das
Vorkaufsrecht) und der Kaufvertrag vom 14. Oktober 1958 mit Osterwalder
seien nichtig zu erklären und Frau Ehrbar als Eigentümerin der verkauften
Parzelle ins Grundbuch einzutragen. Egger suchte beim Waisenamt um die
Erteilung einer Prozessvollmacht in diesem Streite nach.

    D.- Am 16. Dezember 1967 starb Frau Ehrbar. Als gesetzliche Erben
hinterliess sie ihre Halbgeschwister Albert Rufli und Heidy Ruth
Bänziger-Rufli. Diese reichten am 6. März 1969 ein Revisionsgesuch ein
und beantragten, das Urteil des Bundesgerichts vom 16. Mai 1963 sei
aufzuheben und die Gesuchsteller als Eigentümer der Parzelle Nr. 2926 im
Grundbuch einzutragen. E. - Die Politische Gemeinde St. Gallen beantragt
die Abweisung des Gesuchs.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

    1. ...

    2. - Ein Revisionsgesuch muss in den Fällen des Artikels 137 OG binnen
90 Tagen von der Entdeckung des Revisionsgrundes, frühestens jedoch vom
Eingang der schriftlichen Ausfertigung des bundesgerichtlichen Entscheides
oder vom Abschluss des Strafverfahrens an, beim Bundesgericht anhängig
gemacht werden. Im Gesuch ist seine rechtzeitige Geltendmachung darzulegen
(Art. 140 OG).

    Die Gesuchsteller behaupten, die 90-tägige Frist eingehalten
zu haben. Sie führen dazu aus, am 4. Oktober 1968 habe ihr Anwalt
Dr. med. Bachmann um Mitteilung ersucht, ob Frau Ehrbar zur Zeit des
Vertragsschlusses mit der Politischen Gemeinde St. Gallen bzw. mit
Osterwalder urteilsfähig gewesen sei. Mit Schreiben vom 9. Dezember
1968 habe der Experte diese Frage verneint. Erst dadurch hätten sie eine
genügend sichere Kenntnis des Revisionsgrundes erhalten.

    a) Die Revision eines bundesgerichtlichen Urteils ist nach Art. 137
lit. b OG u.a. dann möglich, wenn der Gesuchsteller nachträglich neue
erhebliche Tatsachen erfährt, die er im früheren Verfahren nicht beibringen
konnte. Zweifellos bildet die im Gutachten von Dr. Bachmann festgestellte
mangelnde Urteilsfähigkeit der Frau Ehrbar eine neue erhebliche Tatsache im
Sinne der erwähnten Bestimmung. Wäre dieser Umstand bereits im Prozess um
die Durchsetzung des Vorkaufsrechts dem damaligen Anwalt der Erblasserin
bekannt gewesen, vorgebracht und bewiesen worden, hätte die Klage der
Politischen Gemeinde St. Gallen abgewiesen werden müssen, weil die
Verträge vom 21. August 1958 und 14. Oktober 1958 gemäss Art. 18 ZGB
keine rechtlichen Wirkungen hätten erzeugen können.

    b) Das Schicksal des vorliegenden Revisionsgesuchs hängt deshalb -
abgesehen von der Beweisfrage - davon ab, ob es rechtzeitig, d.h. binnen
90 Tagen seit Entdeckung der neuen erheblichen Tatsache beim Bundesgericht
anhängig gemacht wurde. Der genannte Revisionsgrund ist nicht erst dann
zu bejahen, wenn der Gesuchsteller die neue erhebliche Tatsache sicher
beweisen kann. Denn sonst müsste der weitere Revisionsgrund der neuen
Beweismittel überhaupt ausgeschlossen bleiben, weil alsdann eine erhebliche
Tatsache solange als neu zu gelten hätte, als sie nicht restlos bewiesen
werden kann. Vielmehr muss genügen, dass ein auf sicheren Grundlagen
fussendes Wissen vorhanden ist (vgl. H.P. MARTI, Das Neue Recht der
bernischen Zivilprozessordnung, S. 23). Blosse Vermutungen oder gar
Gerüchte genügen dagegen nicht und vermögen den Lauf der Revisionsfristen
nicht in Gang zu setzen. Gleich wie bei den tatbeständlichen Vorbringen
einer Partei im ordentlichen Prozess, bei denen es sich um vorläufig noch
unbewiesene Behauptungen handelt, müssen begründete Aussichten bestehen,
die neue Tatsache zu beweisen (BIRCHMEIER, Handbuch zum OG, S. 513;
STEIN/JONAS, 19. Auflage, N. I/2 zu § 586 DZPO).

    Im vorliegenden Fall erfuhr der Vormund der Frau Ehrbar aus dem
von Dr. Bachmann am 7. Oktober 1966 verfassten Gutachten, dass die
Explorandin überhaupt nie urteils- und handlungsfähig war. Er durfte
auf die Schlussfolgerung des Experten abstellen, da das Bezirksgericht
St. Gallen im Prozess, der freilich nur Vorgänge aus den Jahren 1963
und 1964 betraf, dieses Gutachten als schlüssig erachtete. Jedenfalls
lassen seine weiteren Schritte erkennen, dass er selbst der Auffassung
war, über genügend sichere Anhaltspunkte zu verfügen, um die bereits
in den Jahren 1958 und 1959 bestehende Handlungsunfähigkeit seines
Mündels geltend zu machen. Er wandte sich nämlich vorerst im Dezember
1966 an den Stadtrat von St. Gallen, um die Zusicherung zu erhalten,
dass die Parzelle Nr. 2926 einstweilen weder überbaut noch veräussert
werde. Einen Tag nach dem bezirksgerichtlichen Urteil vom 18. April 1967
stellte er das Gesuch um einen Vermittlungsvorstand, der die Einleitung des
Verfahrens gegen die Politische Gemeinde St. Gallen ermöglichen sollte. Er
verlangte beim Waisenamt die Ermächtigung zu dieser Prozessführung. Diese
Vorkehrungen hätte er nicht getroffen, wäre er nicht überzeugt gewesen von
der Richtigkeit des Gutachtens Bachmann und damit vom Umstand, sein Mündel
sei beim Abschluss der Verträge mit der Politischen Gemeinde St. Gallen
und mit Osterwalder handlungsunfähig gewesen. Daraus folgt, dass der
Vormund der Frau Ehrbar den Revisionsgrund des Art. 137 lit. b OG schon im
Herbst 1966, spätestens aber mit der Eröffnung des bezirksgerichtlichen
Urteils vom 18. April 1967, kannte. Die in Art. 141 Abs. 1 lit. b OG
vorgeschriebene 90-tägige Frist war deshalb längstens abgelaufen, als
die Rechtsnachfolger der Erblasserin am 6. März 1969 das Revisionsgesuch
anhängig machten. Sie müssen sich die Kenntnis des gesetzlichen Vertreters
der Frau Ehrbar anrechnen lassen (vgl. BIRCHMEIER, Handbuch zum OG, S. 513)
und können sich deshalb nicht darauf berufen, sie hätten den Revisionsgrund
erst durch das Schreiben von Dr. Bachmann vom 9. Dezember 1968 entdeckt.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Auf das Revisionsgesuch wird nicht eingetreten.