Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 95 II 255



95 II 255

33. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 22. Mai 1969
i.S. Deutsche Bundesbahn gegen Furer. Regeste

    Eisenbahnhaftpflicht.

    1.  Voraussetzungen, unter denen ein Verschulden Dritter die
Bahnunternehmung nach Art. 1 EHG von ihrer Haftpflicht befreit. Mangelhafte
Beaufsichtigung des verunfallten Kleinkindes durch seine Eltern? (Erw. 4).

    2.  Dem Richter ist nicht gestattet, den rechtzeitig eingeklagten
Anspruch auf Entschädigung für künftige Erwerbseinbusse (Art. 3 EHG)
wegen der Schwierigkeiten der Abschätzung dieses Schadens zur Zeit
abzuweisen und den Kläger auf eine neue Klage zu verweisen, sondern er
hat den Anspruch festzusetzen, allenfalls unter Vorbehalt der Abänderung
des Urteils nach Art. 10 EHG (Erw. 6).

    3.  Bei der Abschätzung der künftigen Erwerbseinbusse eines
verunfallten Kindes darf nicht kurzerhand auf die medizinisch-theoretische
Wertung des Invaliditätsgrades abgestellt werden. Vielmehr sind alle
Umstände (insbesondere auch die beruflichen Aussichten des Kindes) zu
berücksichtigen (Erw. 7).

    4.  Die Frist von zwei Jahren seit der Eröffnung des Urteils, die
Art. 14 Abs. 1 Satz 2 EHG für Begehren auf Abänderung des Urteils im
Sinne von Art. 10 EHG festsetzt, ist entgegen dem Wortlaut des Gesetzes
nicht eine Verjährungsfrist, sondern wie die Fristen von Art. 36 Abs. 3
ElG und Art. 46 Abs. 2 OR eine Verwirkungsfrist (Erw. 9, 10).

    Verfahren. Bundesrechtlicher Anspruch auf materielle Prüfung prozessual
ordnungsgemäss aufgestellter Rechtsbehauptungen (Erw. 8).

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    A.- Bei der Station Wilchingen-Hallau der Deutschen Bundesbahn,
die auf dem Gebiet des Kantons Schaffhausen liegt, kreuzt die Strasse
Wilchingen-Hallau auf einem mit Schranken gesicherten Niveauübergang
die zwei Geleise der Eisenbahn. Am 12. Oktober 1964 wurden dort gegen 17
Uhr bei geschlossenen Schranken Güterwagen verschoben. Die Geschwister
Silvia und Andreas Furer, geb. 6. Januar 1960 bezw. 27. September 1961,
deren Eltern ungefähr 30 m vom Bahnübergang entfernt wohnten, krochen
unter der Abschrankung durch, um die Geleise zu überqueren. Das Mädchen
kam knapp vor einer heranrollenden Wagengruppe durch. Der Knabe wurde
dagegen von einem Güterwagen erfasst und so schwer verletzt, dass ihm
der rechte Vorderarm unterhalb des Ellenbogens abgenommen werden musste.

    B.- Am 28. Oktober 1965 belangte der Verunfallte die Deutsche
Bundesbahn beim Kantonsgericht Schaffhausen auf Schadenersatz und
Genugtuung. Im Laufe des Verfahrens bezifferte er seine Forderung
auf insgesamt Fr. 215 570.55 (Arzt- und Spitalkosten Fr. 1140.55,
Prothesenkosten Fr. 41 890.--, Nachteile der teilweisen Arbeitsunfähigkeit
Fr. 162 540.--, Genugtuung Fr. 10 000.--). Die Beklagte beantragte die
Abweisung der Klage.

    Mit Urteil vom 23. Mai 1967 verpflichtete das Kantonsgericht die
Beklagte, dem Kläger Fr. 199 774.55 nebst 5% Zins seit 12. Oktober 1964
zu zahlen. Dieser Betrag setzt sich zusammen aus Fr. 1140.55 Arzt-
und Spitalkosten, Fr. 41 890.-- Prothesenkosten und Fr. 156 744.--
Entschädigung für die Nachteile der teilweisen Arbeitsunfähigkeit. Die
zuletzt genannte Summe ist der nach STAUFER/SCHAETZLE, Barwerttafeln,
2. Aufl., Tafel 3 im Zeitpunkt des Unfalls bestehende Barwert einer
vom vollendeten 20. Altersjahr des Klägers an laufenden Rente von
jährlich Fr. 12 600.--, die das Kantonsgericht dem Kläger auf Grund
der Annahme zubilligte, er sei zu 70% invalid und hätte ohne diese
Invalidität vom erwähnten Alter an jährlich Fr. 18 000.-- verdient. Die
Genugtuungsforderung des Klägers wurde abgewiesen.

    C.- Die Beklagte appellierte gegen dieses Urteil an das Obergericht
des Kantons Schaffhausen. Sie beantragte dem Sinne nach, die Klage
sei abzuweisen; eventuell sei für die Nachteile der teilweisen
Arbeitsunfähigkeit nicht eine Kapitalentschädigung, sondern eine Rente
zu sprechen, deren erste Rate frühestens beim Eintritt des Klägers ins
Erwerbsleben fällig werde. In ihrem Vortrag vor Obergericht bestritt sie
ihre Haftung wie vor Kantonsgericht mit der Begründung, der Unfall sei
durch das Verschulden Dritter, nämlich durch mangelhafte Beaufsichtigung
des Klägers durch seine Eltern (namentlich durch seine Mutter) verursacht
worden. Für den Fall der grundsätzlichen Gutheissung der Klage machte sie
geltend, die Prothesenkosten seien nicht zu kapitalisieren, sondern von
Fall zu Fall zu zahlen, und die Frage der Entschädigung für Erwerbsausfall
müsse heute offen bleiben; erst bei Eintritt des Klägers ins Erwerbsleben
sei zu untersuchen, wieweit das Fehlen des rechten Vorderarmes einer
vollen Erwerbstätigkeit des Klägers hinderlich sei.

    Das Obergericht erkannte am 14. Juni 1968:

    "1. Die Beklagte wird verpflichtet, den Kläger für Arzt- und
Spitalkosten mit Fr. 1'140.55 nebst Zins zu 5 % seit 12. Oktober 1964
zu entschädigen.

    2. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger sämtliche Kosten
zu ersetzen, die ihm entstanden sind und noch entstehen werden im
Zusammenhang mit Anschaffung, Anpassung und Reparatur der erforderlichen
und fachärztlich verordneten Armprothesen.

    3. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger von dessen 20. Altersjahr
an bis zum vollendeten 65. Altersjahr eine Entschädigungsrente von
Fr. 12'600.-- pro Jahr in monatlich vorauszahlbaren Raten auszurichten.

    Diese Rente wird zugesprochen unter der Einräumung eines
Rektifikationsvorbehaltes im Sinne von Art. 10 EHG für den Fall, dass die
heutige Schätzung des Verdienstausfalles sich in der Folge, spätestens
beim Eintritt des Klägers ins Erwerbsleben, als unrichtig erweisen sollte."

    D.- Gegen das Urteil des Obergerichts hat die Beklagte die Berufung
an das Bundesgericht erklärt. Sie verlangt der Sache nach in erster
Linie die Abweisung der Klage und stellt für den Fall, dass ihre Haftung
grundsätzlich bejaht werden sollte, den Antrag, es sei festzustellen,
dass die künftige Erwerbseinbusse nicht dem medizinischen Invaliditätsgrad
von 70% entspreche; "Ziff. 3 des Dispositivs des angefochtenen Urteils
sei daher aufzuheben, soweit darin die Beklagte zur Zahlung einer jetzt
schon bezifferten Jahresrente verurteilt wird".

    Der Kläger beantragt die Abweisung der Berufung.

    Das Bundesgericht hebt Dispositiv Ziff. 3 des angefochtenen Urteils
auf und weist die Sache zu neuer Entscheidung im Sinne der Erwägungen an
die Vorinstanz zurück. Im übrigen weist es die Berufung ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- Gemäss Art. 1 EHG haftet der Inhaber der Eisenbahnunternehmung,
wenn beim Betrieb der Eisenbahn ein Mensch getötet oder verletzt wird,
für den daraus entstandenen Schaden, sofern er nicht beweist, dass
der Unfall durch höhere Gewalt, durch Verschulden Dritter oder durch
Verschulden des Getöteten oder Verletzten verursacht ist. Höhere Gewalt
scheidet im vorliegenden Falle als Unfallursache von vornherein aus;
ebenso ein Selbstverschulden des Klägers, weil dieser als dreijähriges
Kind noch nicht fähig war, die Folgen seines unvorsichtigen Verhaltens zu
erkennen. Die Beklagte beruft sich denn auch nur auf den Entlastungsgrund
des Drittverschuldens.

    a) Nach Rechtsprechung und Lehre schliessen ein Selbst- oder ein
Drittverschulden die Haftung der Bahnunternehmung nur dann aus, wenn sie
so schwer sind und das Unfallgeschehen so intensiv beeinflusst haben, dass
daneben die Betriebsgefahr der Bahn als adäquate Ursache des Unfalls nicht
mehr in Betracht kommt (BGE 72 II 203/04, 81 II 163 mit weitern Hinweisen,
87 II 308, 93 II 130). Bei Kinderunfällen besteht Einigkeit darüber, dass
nicht jede Verletzung der durch Art. 333 Abs. 1 ZGB dem Familienhaupt
auferlegten Pflicht zur Beaufsichtigung unmündiger Hausgenossen ein die
Haftpflicht der Bahnunternehmung ausschliessendes Drittverschulden bedeutet
(BGE 72 II 204, 81 II 163). Kinder dürfen in ihrer Bewegungsfreiheit
nicht allzusehr gehemmt werden. Von einem gewissen Alter an besteht eine
Pflicht zu ihrer ständigen Überwachung nicht mehr. Das übliche und durch
die Umstände gebotene Mass von Sorgfalt in der Beaufsichtigung richtet
sich ausserdem nach den örtlichen, sozialen und persönlichen Verhältnissen
(vgl. hiezu OFTINGER, Schweiz. Haftpflichtrecht, 2. A., II/1 S. 268 ff.).

    b) Auf Grund der tatsächlichen Feststellungen, die das Obergericht
durch Verweisung auf das erstinstanzliche Urteil getroffen hat und die
gemäss Art. 63 Abs. 2 OG für das Bundesgericht verbindlich sind, kann,
wie das Obergericht zutreffend ausführt, nicht angenommen werden, den
Eltern des Klägers falle eine so schwere Verletzung ihrer Aufsichtspflicht
zur Last und diese Pflichtverletzung habe das Unfallgeschehen so stark
beeinflusst, dass die Betriebsgefahr der Bahn daneben nicht mehr als
adäquate Ursache des Unfalls gelten könnte. Es steht fest, dass die Mutter
des Klägers diesen, wenn er allein war, jeweils in ihrer unmittelbaren Nähe
behielt. Er durfte jedoch mit seinem 43/4 jährigen Schwesterchen Silvia,
das den Kindergarten besuchte, ausserhalb des Hauses spielen. Am Nachmittag
des Unfalltags befand er sich zunächst bei der Mutter in der Küche. Nach
16 Uhr holte diese mit dem Kläger das Mädchen Silvia im Kindergarten
ab. Hierauf erlaubte sie den beiden Kindern, zum Mädchen Ruth Fricker zu
gehen. Sie selbst begab sich in den Garten. Es ist nun durchaus nichts
Aussergewöhnliches, wenn sich Kinder, die noch nicht schulpflichtig sind,
aber den Kindergarten besuchen, ohne besondere Aufsicht ausserhalb des
elterlichen Hauses aufhalten, sei es, dass sie den Weg zum Kindergarten
und zurück allein zurücklegen, sei es, dass sie mit andern Kindern spielen
oder für die Mutter in der Nähe kleine Besorgungen machen. Namentlich in
ländlichen Verhältnissen und in einfachen Arbeiterfamilien, wo die Mutter
den Haushalt und die Kinder besorgen und daneben gegebenenfalls noch
Heimarbeit übernehmen muss, wie es für die Mutter des Klägers zutraf, ist
das nicht zu beanstanden, sofern die Kinder vor den Gefahren des Verkehrs
gewarnt und ihrem Verständnis entsprechend über das richtige Verhalten
auf der Strasse belehrt worden sind, und sofern keine Anhaltspunkte für
eine ausgesprochene Unfolgsamkeit oder Unvorsichtigkeit vorliegen. Unter
diesen Voraussetzungen erscheint es auch nicht als besonders tadelnswert,
wenn solchen Kindern jüngere Geschwister, die allein das Haus nicht
verlassen dürfen, zu kleinern Gängen oder zum Spielen ausserhalb des
Hauses anvertraut werden.

    Frau Furer hat ihre Kinder nach den vom Obergericht übernommenen
Feststellungen des Kantonsgerichts über die Gefahren des Verkehrs belehrt,
wenn sie auf die Strasse gingen. Sie hat ihnen freilich nicht ausdrücklich
verboten, die Bahngeleise bei geschlossenen Schranken zu überschreiten. Mit
dieser Gefahr hätte sie indessen nur dann ernstlich rechnen müssen,
wenn das Mädchen Silvia dazu Anlass gegeben hätte oder wenn z.B. das
Bahnpersonal den Eltern entsprechende Beobachtungen mitgeteilt hätte,
was nicht geschehen ist. Die Schranken reichten in geschlossenem Zustand
bis etwa 25 cm an den Boden heran, und es war nicht zu erwarten, dass ein
an den Eisenbahnverkehr gewöhntes Kind - die Familie Fuhrer wohnte nur
ca. 30 m vom Niveauübergang entfernt - darunter durchkriechen werde. Auf
der Südseite des Bahnübergangs befindet sich freilich eine fest angebrachte
Röhrenkonstruktion, die das östliche Ende des Bahnsteigs gegen die Strasse
abschliesst. Dort konnte ein Kind leichter durchschlüpfen, weil die untere
waagrechte Röhre 55 cm über dem Boden verläuft. Es konnte jedoch nicht
abgeklärt werden, auf welchem Wege die beiden Kinder auf die Geleise
gelangt waren. Die Beklagte rechnete wohl ebensowenig wie die Eltern des
Klägers damit, dass der seitliche Abschluss für kleine Kinder eine Gefahr
bedeute. Wären die beiden Geschwister dort durchgeschlüpft, so könnte
ihr - ähnlich wie den Schweiz. Bundesbahnen im Falle 81 II 163 E. 2 -
der Vorwurf nicht erspart werden, sie habe den Unfall mitverschuldet,
indem sie diesen gefährlichen Zustand duldete. Sie hat diese Gefahr
übrigens erkannt; denn wenige Tage nach dem Unfall wurde beim erwähnten
Abschluss ein engmaschiges Drahtnetz angebracht.

    Liegt ein Verschulden der Eltern des Klägers, das den adäquaten
Kausalzusammenhang zwischen der Betriebsgefahr der Bahn und dem Unfall zu
unterbrechen vermöchte, nicht vor, so haftet die Beklagte dem Kläger für
den aus dem Unfall entstandenen Schaden, und zwar hat sie diesen Schaden
voll zu ersetzen. Eine allfällige Pflichtverletzung der Eltern könnte nur
als Mitursache des Unfalls gewürdigt werden, und ein bloss mitursächliches
Drittverschulden ist nicht bloss ungeeignet, die Bahn von ihrer Haftung
zu befreien, sondern bildet auch keinen Grund für eine Ermässigung ihrer
Ersatzpflicht (BGE 81 II 165; OFTINGER aaO I S. 249 Ziff. 7).

Erwägung 5

    5.- Die Höhe der zu ersetzenden Arzt- und Spitalkosten (Disp. 1 des
obergerichtlichen Urteils) steht ausser Streit.

    Die Bestimmung des Obergerichtsurteils über die Prothesenkosten
(Disp. 2) entspricht der Auffassung, welche die Beklagte vor Obergericht
für den Fall der Bejahung ihrer Haftpflicht vertreten hat. Der Kläger
ficht diese Bestimmung nicht an, obwohl sie ihm den Ersatz der fraglichen
Kosten entgegen Art. 9 EHG weder in Form einer Kapitalsumme (vgl. hiezu
BGE 89 II 23/24) noch in Form einer jährlichen Rente noch in Form einer
Verbindung von Kapital und Rente zuspricht.

    Streitig ist vor Bundesgericht hinsichtlich der Festsetzung des
Schadenersatzes nur noch, in welchem Umfang und in welcher Weise der
Kläger für Nachteile teilweiser Arbeitsunfähigkeit zu entschädigen sei
(Disp. 3 des Obergerichtsurteils).

Erwägung 6

    6.- Die Beklagte macht vor Bundesgericht wie vor Obergericht geltend,
die Frage des Ersatzes für Erwerbsausfall müsse vorläufig offen bleiben,
weil die Beeinträchtigung des Klägers in seiner Erwerbsfähigkeit heute
noch nicht mit genügender Sicherheit abgeschätzt werden könne; diese Frage
sei "in jenem Zeitpunkt periodisch zu beantworten, in welchem der Kläger
tatsächlich in das Erwerbsleben eintritt".

    Diese Auffassung ist schon deshalb abzulehnen, weil die
Schadenersatzklagen aus EHG gemäss Art. 14 Abs. 1 dieses Gesetzes innert
zwei Jahren vom Tage des Unfalls an verjähren. Wenn somit die Forderung des
Klägers auf Entschädigung für die Nachteile teilweiser Arbeitsunfähigkeit
zur Zeit abgewiesen würde, könnte er sie allenfalls später wegen der
inzwischen eingetretenen Verjährung nicht mehr einklagen (vgl. BGE 84 II
207 ff.). Es ginge nicht an, den Kläger, der rechtzeitig geklagt hat,
auf Art. 14 Abs. 2 EHG zu verweisen, wonach die Verjährung nach den
Bestimmungen des OR unterbrochen werden kann. Wie aus dem im Bundesrecht
verankerten Anspruch auf Rechtsschutz sowie aus allgemeinen Grundsätzen
des Schadenersatzrechts folgt (BGE 86 II 45 b), ist es dem Richter nicht
gestattet, die Abwicklung des Prozesses und die Beurteilung zu verzögern
oder die Klage zur Zeit abzuweisen und den Kläger zu veranlassen, sie
später nochmals anzubringen. Der Schaden muss vielmehr selbst dann,
wenn sein Umfang von künftigen Ereignissen abhängt und daher noch nicht
mit Sicherheit ermittelt werden kann, mit Rücksicht auf den gewöhnlichen
Lauf der Dinge und die vom Geschädigten getroffenen Massnahmen (Art. 42
Abs. 2 OR) abgeschätzt werden (BGE 86 II 45 b mit Hinweisen; vgl. auch
BGE 77 II 299). Können die Folgen einer Körperverletzung im Zeitpunkte der
Urteilsfällung nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden, so
darf der Richter gemäss Art. 10 EHG (oder gegebenenfalls Art. 46 Abs. 2 OR,
Art. 36 Abs. 3 ElG) ausnahmsweise (vgl. Art. 10 EHG und OFTINGER, aaO I
S. 197) eine Abänderung des Urteils vorbehalten. Er darf jedoch die Klage
auch in einem solchen Falle nicht einfach zur Zeit abweisen, sondern hat
über den gestellten Anspruch zu befinden und ihn unter dem Vorbehalt der
Abänderung festzusetzen (was STARK in ZSR 1967 II 81 Fussnote 180 freilich
für gewisse Fälle als unpraktisch bezeichnet, ohne jedoch die rechtliche
Begründung des Entscheides BGE 86 II 45 zu widerlegen, während GILLIARD in
ZSR 1967 II 238 ff., ohne diesen Entscheid zu besprechen, eine Revision
des Art. 46 Abs. 2 OR vorschlägt). Der vor Erlass von Art. 46 Abs. 2 des
geltenden OR ergangene, von OFTINGER (aaO I S 200) gebilligte Entscheid BGE
24 II 430 (nicht 230) Erw. 4, der dem Gericht erlaubte, zunächst nur den
liquiden Teil des eingeklagten Gesamtschadens zu beurteilen und dem Kläger
für den noch illiquiden Teil eine spätere Klage vorzubehalten, ist in
dieser Beziehung durch BGE 86 II 44 ff. (besonders S. 48) überholt. Soweit
die Beklagte verlangt, Art und Höhe der Entschädigung für Erwerbsausfall
seien heute noch nicht festzusetzen, ist die Berufung also unbegründet.

Erwägung 7

    7.- Die Beklagte behauptet ausserdem, die dem Kläger zugesprochene
Entschädigung für Nachteile teilweiser Arbeitsunfähigkeit sei zu hoch,
weil nicht angenommen werden könne, der Kläger werde wegen des Verlusts
des rechten Vorderarms eine Erwerbseinbusse von 70% erleiden; die
Erwerbseinbusse entspreche nicht der Invalidität nach Gliedertaxe.

    Der vom Kantonsgericht beigezogene Sachverständige, Prof. Dr. M. R.
Francillon, Leiter der Orthopädischen Klinik Balgrist in Zürich, nahm
in seinem Gutachten vom 8. März 1965 an, mit Rücksicht auf die vielen
Möglichkeiten, die dem Kläger als einem geistig gesunden, gut entwickelten
und aufgeweckten Knaben trotz seiner Invalidität noch offen stehen, sei es
angebracht, bei der Abschätzung der Erwerbseinbusse ohne Berücksichtigung
des Berufs auf die sog. medizinisch-theoretischen Wertungen abzustellen,
die eine Invalidität von etwa 70% ergäben; die Berufsfrage möge bei einem
Kinde dann berücksichtigt werden, wenn es sich z.B. um einen Sohn handle,
der den väterlichen Betrieb hätte übernehmen sollen und hiezu wegen der
Amputation nicht mehr imstande sei; ein solcher Fall liege nicht vor.

    Diese Auffassung leuchtet nicht ein. Der Sachverständige
erklärt selbst, es sei etwas ganz anderes, ob z.B. ein Dachdecker
oder ein Bankprokurist eine Verletzung erleide, wie sie dem Kläger
widerfuhr. Ausserdem habe ein Kind unter der Voraussetzung der frühzeitigen
Versorgung mit einer geeigneten Prothese eine viel grössere Fähigkeit zur
Umstellung als der Erwachsene. Diesen Ausführungen hätte es entsprochen,
wenn der Sachverständige bei der Abschätzung der künftigen Erwerbseinbusse
des Klägers nicht kurzerhand auf die medizinischtheoretischen Wertungen
abgestellt, sondern geprüft hätte, welche Berufsarten für den Kläger
angesichts seiner körperlichen und geistigen Verfassung am ehesten in Frage
kommen und wie sich seine Verstümmelung bei diesen Berufen voraussichtlich
auswirken wird.

    Abgesehen davon, dass sich die Schlussfolgerung des Sachverständigen
mit seinen eigenen Ausführungen nicht wohl verträgt, ist die Auffassung,
bei der Abschätzung der künftigen Erwerbseinbusse des Klägers sei einfach
auf die medizinischtheoretische Wertung seiner Invalidität abzustellen,
aus rechtlichen Gründen abzulehnen.

    a) Nach Art. 3 EHG gibt eine Körperverletzung dem Geschädigten Anspruch
auf Ersatz der Kosten und auf Entschädigung für die Nachteile gänzlicher
oder teilweiser Arbeitsunfähigkeit. Überdies kann der Richter bei einer
Verstümmelung oder Entstellung, durch welche das Fortkommen des Verletzten
erschwert wird, auch dafür eine Entschädigung zusprechen. In Lehre und
Rechtsprechung ist man sich darüber einig, dass Körperverletzungen an sich
keinen Schaden im Sinne des Gesetzes darstellen. Ersatz ist vielmehr für
die wirtschaftlichen Nachteile zu leisten, welche die Verletzung für den
Verletzten mit sich bringt (BGE 91 II 426).

    b) Wenn ein Kind eine Körperverletzung erleidet, die einen
bleibenden körperlichen Nachteil zur Folge hat, so ist seine dereinstige
Erwerbseinbusse sehr schwierig abzuschätzen. Das soll indessen nicht daran
hindern, diese Schätzung unter Berücksichtigung aller in Betracht kommenden
Umstände vorzunehmen. Dabei darf sich die noch verbleibende Ungewissheit
nicht zu Ungunsten des Klägers auswirken. Sie muss vielmehr vom Beklagten,
der für das schädigende Ereignis einzustehen hat, in Kauf genommen werden
(BGE 81 II 518).

    c) Das Ausmass der Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit darf jedoch
nicht ohne weiteres dem Grad der sog. medizinischtheoretischen Invalidität,
der in den "Gliedertaxen" zum Ausdruck kommt, gleichgesetzt werden (BGE
72 II 206, 77 II 298/99), zumal nicht bei einem Kinde. Kinder sind, wie
auch der Sachverständige hervorgehoben hat, viel anpassungsfähiger als
Erwachsene. Je jünger ein Kind ist, wenn es eine Verstümmelung erleidet,
um so leichter wird es sich den Gegebenheiten anpassen und versuchen, die
Beeinträchtigung so gut als möglich zu überwinden. Das gilt namentlich für
Kinder, die noch die ganze Schul- und Lehrzeit vor sich haben, wie es für
den Kläger zutrifft. Die Ausbildung kann entsprechend dem körperlichen
Mangel geleitet und der Beruf so gewählt werden, dass der Mangel die
Erwerbsfähigkeit möglichst wenig beeinträchtigt (BGE 71 II 206/07, 70
II 140/41). Sehr förderlich sind dabei die Massnahmen beruflicher Art
(Berufsberatung, berufliche Ausbildung usw.) sowie die medizinischen
Massnahmen, auf welche die Invaliden nach Art. 8 ff. des Bundesgesetzes
über die Invalidenversicherung vom 19. Juni 1959 Anspruch haben.

    Aus diesen Gründen sah sich das Bundesgericht wiederholt veranlasst,
kantonale Entscheidungen abzuändern, weil sie die Beeinträchtigung
der Erwerbsfähigkeit zu hoch eingeschätzt hatten. In BGE 72 II 198
ff. wurde z.B. nur eine Verminderung von 25% angenommen, obwohl der
damalige Kläger, ein Knabe, dem der rechte Fuss hatte abgenommen werden
müssen, nach medizinisch-theoretischer Wertung zu 60% invalid war und die
Vorinstanz eine Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit von 40% angenommen
hatte. In BGE 77 II 296 ff. wurde die Entschädigung für Körperschaden
eines erwachsenen Klägers um rund Fr. 9500.-- herabgesetzt mit der
Begründung, die medizinisch-theoretische Invalidität habe praktisch
nur eine geringe Erwerbseinbusse zur Folge. In BGE 70 II 140/41 wurde
bemerkt, ein dreijähriges Mädchen werde sich "dans une large mesure" an
die Unfallfolgen gewöhnen, was neben andern Gründen zu einer Abänderung
des kantonalen Urteils zugunsten des Beklagten führte.

Erwägung 8

    8.- Das Obergericht kam auf Grund ähnlicher Erwägungen zum Schluss,
der Entscheid des Kantonsgerichts, das mit dem Sachverständigen eine
Erwerbseinbusse von 70% annahm, führe "mit allergrösster Wahrscheinlichkeit
zu einer - u.U. massiven - Bereicherung des Klägers". Es fand jedoch
mehrheitlich, diesen Bedenken könne aus prozessualen Gründen nicht
unmittelbar - bei der Festsetzung der Entschädigung - Rechnung getragen
werden, weil die Beklagte es unterlassen habe, "einen Eventualantrag im
Quantitativ" zu stellen und gegen das Gutachten Francillon Einwendungen
zu erheben. Daher stehe einzig der Ausweg offen, vom Amtes wegen einen
Abänderungsvorbehalt zugunsten beider Parteien im Sinne von Art. 10 EHG
ins Urteil aufzunehmen...

    (Ausführungen darüber, dass die Anträge, welche die Beklagte im
kantonalen Verfahren stellte, den Antrag auf Herabsetzung der Entschädigung
für die Nachteile teilweiser Erwerbsunfähigkeit in sich schlossen und dass
die Beklagte im kantonalen Verfahren darlegte, weshalb die Beeinträchtigung
der Erwerbsfähigkeit in Fällen wie dem vorliegenden nicht einfach der
medizinisch-theoretischen Invalidität gleichgesetzt werden dürfe).

    Hat die Beklagte mit ihren kantonalen Rechtsbegehren wenigstens
implicite auch die Herabsetzung der Erwerbsausfallentschädigung verlangt
und Ausführungen gemacht, die zur Begründung dieses Begehrens dienen
können, so war die Vorinstanz, nachdem sie die Haftung der Beklagten
grundsätzlich bejaht hatte, von Bundesrechts wegen verpflichtet, den
erstinstanzlichen Entscheid über die Höhe der Erwerbsausfallentschädigung
zu überprüfen. Der kantonale Richter verletzt nämlich Bundesrecht, wenn
er sich in einem Prozess über Ansprüche aus dem Bundeszivilrecht mit
prozessual ordnungsgemäss aufgestellten Rechtsbehauptungen der Parteien
nicht materiell auseinandersetzt (vgl. KUMMER, Das Klagerecht und die
materielle Rechtskraft im schweiz. Recht, S. 60, sowie GULDENER und VOYAME,
ZSR 1961 II S. 23 ff., 70).

Erwägung 9

    9.- Wie schon bemerkt, fand die Mehrheit des Obergerichts, der
Unsicherheit über das Mass der künftigen Erwerbseinbusse des Klägers könne
nur durch einen Abänderungsvorbehalt im Sinne von Art. 10 EHG Rechnung
getragen werden. Sie vertrat dabei die Meinung, die nach Art. 14 Abs. 1 EHG
für die Abänderungsbegehren geltende Frist sei nach dem klaren Wortlaut des
Gesetzes eine Verjährungsfrist; die Verjährung könne nach den Regeln des
OR unterbrochen werden, bis der Kläger ins erwerbsfähige Alter eintrete.

    Art. 14 EHG lautet:

    "Die durch dieses Gesetz begründeten Schadenersatzklagen verjähren in
zwei Jahren, welche von dem Tage des Unfalles an gerechnet werden. Dieselbe
Verjährungsfrist gilt für die aus Art. 10 sich ergebenden Begehren auf
Erhöhung oder Herabsetzung der Schadenersatzsumme; sie läuft vom Tage
der Eröffnung des Urteils an.

    Für den Stillstand, die Hinderung und die Unterbrechung der Verjährung
gelten die Bestimmungen des Obligationenrechtes."

    Diese Bestimmung bezeichnet die Frist für Abänderungsbegehren im
Sinne von Art. 10 EHG in der Tat als Verjährungsfrist. Sie deckt sich
in dieser Hinsicht mit Art. 13 des nicht mehr geltenden Bundesgesetzes
betr. die Haftpflicht aus Fabrikbetrieb vom 25. Brachmonat 1881 (FHG),
der offenbar als Vorbild diente. Die genannte Bezeichnung ist jedoch für
die rechtliche Würdigung der in Frage stehenden Frist nicht entscheidend;
denn die schweizerischen Gesetze verwenden den Ausdruck Verjährung nicht
immer im gleichen Sinne, sondern sprechen oft von Verjährung, wo es sich
der Sache nach eindeutig um Verwirkung handelt (vgl. BGE 65 II 102 ff. und
76 II 241 f. lit. c, wonach das z.B. für Art. 127 und 137/38 ZGB und für
den Randtitel zu Art. 251 OR zutrifft; vgl. auch BGE 86 I 64/65). Daher
ist jeweils unter Berücksichtigung des ganzen Inhalts der betreffenden
Bestimmung und des Zusammenhangs, in dem sie steht, sowie ihres Zwecks zu
prüfen, ob man es mit einer Verjährungs- oder mit einer Verwirkungsfrist
zu tun habe.

    Der erste Satz von Art. 14 Abs. 1 EHG betrifft die durch dieses
Gesetz begründeten "Schadenersatzklagen". Damit sind offensichtlich
die Schadenersatzansprüche im Sinne von Art. 1 ff. EHG gemeint. Indem
Art. 14 EHG in Abs. 1 Satz 1 vorsieht, dass die Schadenersatzansprüche
aus EHG in zwei Jahren vom Tage des Unfalls an verjähren, und in Abs. 2
für den Stillstand, die Hinderung und die Unterbrechung der Verjährung
auf die Bestimmungen des OR verweist, ordnet er unzweifelhaft an, dass
die genannten Ansprüche der Verjährung im eigentlichen Sinne dieses
Wortes unterliegen.

    Die aus Art. 10 EHG sich ergebenden Begehren auf Erhöhung oder
Herabsetzung der Schadenersatzsumme, von denen der zweite Satz von
Art. 14 Abs. 1 EHG handelt, haben, wie aus Art. 10 EHG hervorgeht, eine
Abänderung des Urteils zum Gegenstand. Eine solche kann nur der Richter
vornehmen. Die Erhöhungs- oder Herabsetzungsbegehren sind daher beim
Gericht anzubringen. Aufeinem andern Weg kann der Anspruch auf Erhöhung
oder Herabsetzung der Entschädigung nicht durchgesetzt werden. Bei diesem
Anspruch handelt es sich selbst dann, wenn er auf eine Erhöhung der
Entschädigung gerichtet ist, im Unterschied zu den in Art. 14 Abs. 1 Satz
1 behandelten Schadenersatzansprüchen nicht um eine Forderung, sondern
der Anspruch geht auf eine richterliche Anordnung, die eine zusätzliche
Forderung erst entstehen oder eine unter dem Vorbehalt der Abänderung
festgesetzte Forderung teilweise wegfallen lässt. Eine solche Anordnung
des Richters kann, wie aus Art. 10 EHG zu schliessen ist, nur einmal
verlangt werden. Das folgt schon daraus, dass ein Abänderungsvorbehalt nur
ausnahmsweise ins Urteil aufgenommen werden soll und dass Art. 10 Abs. 1
EHG von der Abänderung des Urteils in der Einzahl spricht ("die Abänderung
des Urteils vorbehalten", "réserver une revision ultérieure du jugement",
"riservare nella sentenza un aumento dell'indennità"). Das Gesetz ist
unverkennbar bestrebt, die für beide Parteien nachteilige Ungewissheit
über die Schadenersatzfolgen des Unfalles nicht zu lange dauern zu lassen
(vgl. BGE 84 II 210 mit Hinweisen). Die Entstehungsgeschichte von Art. 14
EHG (Art. 11 des bundesrätlichen Entwurfs vom 1. März 1901, BBl 1901 I
690 ff.) bestätigt das. Der von Müri in der nationalrätlichen Kommission
gestellte und von Zürcher im Rate selbst wiederaufgenommene Antrag,
die Bestimmung über die Verjährung der Abänderungsbegehren zu streichen,
wurde nämlich von der Kommissionsmehrheit und vom Rate abgelehnt, weil
im Interesse der Rechtssicherheit und mit Rücksicht auf die ökonomischen
Folgen für beide Teile nach zwei Jahren am Urteil nicht mehr gerüttelt
werden dürfe (vgl. die Wiedergabe des Standpunktes der Kommissionsmehrheit
im Votum von Müri, Sten.Bull. 1902 S. 433, sowie die gegen den Antrag
Müri/Zürcher gerichteten Voten von Bühlmann und Müller, aaO S. 434). Im
Ständerat führte der Berichterstatter Richard zur Begründung der Bestimmung
über die Verjährung der Abänderungsbegehren u.a. aus, man dürfe die
Tür zu einer Abänderung des frühern Urteils nicht während unbestimmter
Zeit offen lassen; es liege im öffentlichen Interesse, dass die Prozesse
ohne zu starke Verzögerung endgültig abgeschlossen werden und dass "les
responsabilités ne demeurent pas indéfiniment suspendues sur la tête des
intéressés" (Sten. Bull. 1904 S. 98). Das zeigt, dass dem Gesetzgeber
trotz der Verwendung des Ausdrucks "Verjährung" im Grunde genommen eine
Klagebefristung vorschwebte.

    Schon aus diesen Gründen ist anzunehmen, dass Art. 14 Abs. 1 EHG für
die Abänderungsbegehren im Sinne von Art. 10 EHG nicht eine Verjährung im
Sinne des OR vorsieht, die wiederholt unterbrochen werden könnte, sondern
dass das Gesetz für solche Begehren in Wirklichkeit eine Verwirkungsfrist
aufstellt, was bedeutet, dass das Recht, eine Abänderung des Urteils zu
verlangen, endgültig erlischt, wenn es nicht innert der festgesetzten
Frist durch Einreichung einer Klage ausgeübt wird, und dass das einmal
ausgeübte Klagerecht nicht später, nach Ablauf der gesetzlichen Frist,
noch ein zweites Mal ausgeübt werden kann. Das Gesetz erlaubt dem Richter
nicht, im Entscheid über ein Abänderungsbegehren wiederum die Abänderung
vorzubehalten.

    lo.-Bei der Auslegung von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 EHG sind im
übrigen auch die sonstigen Bestimmungen des Bundesrechts über die
Fristen für Begehren auf Erhöhung oder Herabsetzung des Schadenersatzes
heranzuziehen. Das EHG ist zwar ein selbständiges Gesetz, das in seinem
Anwendungsbereich den andern Sondergesetzen über die Haftpflicht und
dem OR grundsätzlich vorgeht. Das gilt wenigstens insoweit, als es eine
bestimmte Frage klar regelt (vgl. BGE 84 II 210). Wo es dagegen eine
von vornherein nur einer Deutung fähige Regelung vermissen lässt, wie
es nach dem Gesagten mit Bezug auf Art. 14 Abs. 1 Satz 2 zutrifft, ist
es angezeigt, bei der Auslegung die entsprechenden Vorschriften anderer
Gesetze sowie die Rechtsprechung und Lehre dazu mitzuberücksichtigen, um
sachlich nicht gerechtfertigte Widerspüche mit der Regelung der gleichen
Frage in andern Gesetzen tunlichst zu vermeiden.

    a) Art. 13 FHG bestimmte, die in Art. 12 für die Schadenersatzansprüche
aus FHG festgesetzte "Verjährungsfrist" von einem Jahr finde "auch auf
die in Art. 8 vorgesehenen Fälle für Rektifizierung der Urteilssprüche
Anwendung". In BGE 19 S. 422/23 Erw. 4, wo darüber zu entscheiden war,
ob die Frist des Art. 12 FHG nach den Bestimmungen des OR über die
Verjährung unterbrochen werden könne, führte das Bundesgericht aus: "Auch
wenn die Frist des Art. 13 cit. nur durch Klageerhebung unterbrochen
werden kann, so beweist dies doch nichts für die Unterbrechung der
in Art. 12 normierten Verjährung. Denn in den Fällen des Art. 13
handelt es sich eben speziell um Rektifikation eines Urteils, welche
nur durch den Richter geschehen kann, nicht um die Geltendmachung der
ursprünglichen Schadenersatzforderung". Unter Hinweis auf dieses Urteil,
das den Unterschied zwischen den Fristen der Art. 12 und 13 FHG deutlich
hervorhebt, vertrat V. E. SCHERER (Die Haftpflicht des Unternehmers,
2. A. 1908, S. 201) die Auffassung, die Frist des Art. 13 FHG sei eine
Ausschlussfrist, auf welche die Vorschriften des OR über die Verjährung
nicht anwendbar seien. In BGE 32 II 627 Erw. 3, wo diese Frage nicht zu
entscheiden war, erklärte das Bundesgericht unter Anführung von BGE 29
II 422 (richtig: 19 S. 422), es sei "zum mindesten sehr zweifelhaft",
ob eine Verlängerung der Frist des Art. 13 durch Unterbrechung möglich
sei, d.h. "ob man es mit einer Verjährungs- oder nicht vielmehr mit einer
Verwirkungsfrist zu tun hat".

    b) Das ElG vom 24. Juni 1902 erlaubt dem Richter im ersten Satze
von Art. 36 Abs. 3, im Urteil ausnahmsweise eine spätere Berichtigung
vorzubehalten, und bestimmt im darauf folgenden Satze: "Ein bezügliches
Begehren muss längstens innert Jahresfrist nach Ausfällung des Urteils
gestellt werden". Damit wird klarerweise eine Verwirkungsfrist aufgestellt.

    c) Art. 46 Abs. 2 OR, wonach der Richter "bis auf zwei Jahre, vom
Tage des Urteils an gerechnet, dessen Abänderung vorbehalten" kann,
stellt für die Abänderungsbegehren ebenfalls eine Verwirkungsfrist auf,
die nur durch Klage gewahrt werden kann (vgl. BGE 86 II 46/47, 55 II
322/23; vgl. ferner BECKER, 2. A., N. 7, und OSER/SCHÖNENBERGER N. 20
zu Art. 46 OR; H. KNECHT, Die Abänderungsklagen, Zürcher Diss. 1954,
S. 83/84; v. BÜREN, Schweiz. OR, Allg. Teil, 1964, S. 274).

    Die in Erwägung 9 hievor begründete Auffassung, dass die Frist von
Art. 14 Abs. 1 Satz 2 EHG in Wirklichkeit eine Verwirkungsfrist ist,
steht also mit der Regelung, die für die entsprechenden Fristen anderer
Gesetze gilt (bzw. galt), im Einklang. Ein sachlicher Grund für eine
verschiedene Behandlung dieser Fristen besteht nicht. Das Schrifttum
bezeichnet denn auch die erwähnte Frist einhellig als Verwirkungsfrist
(OFTINGER aaO I S. 199 mit Fussnote 258, wo BGE 32 II 627 statt 34 II 627
zitiert sein sollte; KNECHT aaO S. 84; NABHOLZ, Verjährung und Verwirkung
als Rechtsuntergangsgründe infolge Zeitablaufs, Zürcher Diss. 1958,
S. 219; STARK, ZSR 1967 II 82).

Erwägung 11

    11.- ... (Rückweisung zur Ergänzung des Tatbestandes und
zur Neubeurteilung des Anspruchs auf Entschädigung für künftige
Erwerbseinbusse).