Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 93 IV 96



93 IV 96

24. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 6. Oktober 1967
i.S. Briner gegen Statthalteramt des Bezirkes Meilen. Regeste

    Art. 32 Abs. 1 SVG, Art. 4 Abs. 5 VRV.

    Der Führer, der innerorts über eine Strecke von 500 m mit einer
Geschwindigkeit von 40 km/Std fährt, wobei sich eine Kolonne von mehreren
Fahrzeugen hinter ihm bildet, behindert den gleichmässigen Verkehrsfluss
nicht.

Sachverhalt

    A.- Jakob Briner fuhr am Samstag, den 11. Juni 1966, um 21.15 Uhr mit
seinem Personenwagen auf der Seestrasse von Erlenbach durch Herrliberg
gegen Meilen. Auf der 500 m langen Innerortsstrecke vom Strandcafé
bis zum Hotel Raben in Herrliberg, wo die Höchstgeschwindigkeit auf 60
km/Std begrenzt ist, bewegte er sich bei regem Gegenverkehr mit einer
Geschwindigkeit von 30-40 km/Std. Hinter ihm bildete sich eine Kolonne
von mehreren Fahrzeugen.

    B.- Gestützt auf eine Anzeige der Kantonspolizei fällte das
Statthalteramt Meilen gegen Jakob Briner mit Strafverfügung vom 12. Juli
1966 wegen Übertretung von Art. 4 Abs. 5 VRV eine Busse von Fr. 30.-
aus. Briner verlangte gerichtliche Beurteilung, worauf der Einzelrichter
in Strafsachen des Bezirksgerichtes Meilen die Busse am 6. Dezember 1966
bestätigte. Die dagegen erhobene kantonale Nichtigkeitsbeschwerde wurde
vom Obergericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 1. Juni 1967 abgewiesen.

    C.- Der Gebüsste führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das
Urteil des Obergerichts aufzuheben und die Sache zur Freisprechung an
die Vorinstanz zurückzuweisen.

    Das Statthalteramt Meilen verzichtet auf Gegenbemerkungen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 32 Abs. 1 SVG ist die Geschwindigkeit stets
den Umständen, namentlich den Strassen und Verkehrsverhältnissen
anzupassen. Das heisst, dass der Fahrzeugführer nicht zu schnell, aber
auch, dass er ohne zwingende Gründe nicht so langsam fahren darf, dass sein
Fahrzeug einen gleichmässigen Verkehrsfluss hindert (Art. 4 Abs. 5 VRV).

    Nach der Feststellung des Einzelrichters in Strafsachen, die vom
Obergericht als nicht willkürlich und nicht aktenwidrig bezeichnet wird,
ist der Beschwerdeführer auf der fraglichen Innerortsstrecke in Herrliberg
mit einer Geschwindigkeit von 30-40 km/Std gefahren. Gemäss seinen
Ausführungen in der Beschwerde will er in Wirklichkeit eine Geschwindigkeit
von 50 km/Std gehabt haben, gibt sich aber Rechenschaft, dass die
Feststellung der kantonalen Behörden den Kassationshof gemäss Art. 277bis
Abs. 1 BStP bindet. Eine genauere Bezifferung der Geschwindigkeit war
offenbar nicht möglich. Bei der rechtlichen Beurteilung des Tatbestandes
ist somit anzunehmen, der Beschwerdeführer sei mit einer Geschwindigkeit
von 40 km/Std gefahren, da eine tiefere nicht nachgewiesen ist.

Erwägung 2

    2.- ...

Erwägung 3

    3.- Zu entscheiden ist daher, ob der Beschwerdeführer mit der
Geschwindigkeit von 40 km/Std so langsam gefahren ist, dass er dadurch
den gleichmässigen Verkehrsfluss im Sinne von Art. 4 Abs. 5 VRV behinderte.

    Der Beschwerdeführer erhebt den Einwand, auf der nur 500 m langen
Strecke habe der Tatbestand von Art. 4 Abs. 5 VRV überhaupt nicht
erfüllt werden können. Entgegen der Auffassung des Obergerichts ist
dieser Standpunkt nicht schon durch den Entscheid des Bundesgerichts
vom 21. Februar 1964 (BGE 90 IV 28) widerlegt. Jenem Urteil lagen
die besondern Verhältnisse bei einem mit Lichtsignalen versehenen
Fussgängerstreifen zugrunde, wobei das Gericht feststellte, dass ein
Fahrzeugführer bei grünem Licht nicht so langsam auf den Streifen zufahren
darf, dass er sich nach dem Wechsel von Gelb auf Rot noch darauf befindet.
Hier hingegen handelt es sich um eine offene Strecke, für die nicht die
gleichen Regeln gelten. Nach der Erfahrung steht ausser Zweifel, dass
der Verkehrsfluss auch auf einer nur 500 m langen Strecke durch einen
"Schleicher" empfindlich gestört werden kann. Je nach den Umständen kann
auch eine Geschwindigkeit von 40 km/Std diese Folge haben. Dies wird
insbesondere der Fall sein auf stark befahrenen Ausserortsstrecken, auf
denen wegen des regen Gegenverkehrs oder Unübersichtlichkeit der Strasse
nicht überholt werden kann. Wer bei solchen Verhältnissen über Land
"bummelt" und dadurch die nachfolgenden Fahrzeuge zu gleicher Langsamkeit
zwingt, verletzt Art. 4 Abs. 5 VRV.

    Anders verhält es sich jedoch innerorts, wo die Geschwindigkeit
nach Art. 32 Abs. 2 SVG 60 km/Std ohnehin nicht übersteigen darf. Gewiss
verstösst es gegen die gute Verkehrssitte und wird von den nachfolgenden
Fahrzeugführern mit Recht als ärgerlich empfunden, wenn vor ihnen ein
Fahrer auf freier Strecke von der zulässigen 60 km-Geschwindigkeit nur mit
ca. 40 km Gebrauch macht. Indem der Beschwerdeführer unter den gegebenen
Umständen nur mit 40 km/Std gefahren ist, hat er es daher an der dem
Verkehr geschuldeten Rücksicht und Disziplin fehlen lassen. Allein nicht
jede Disziplinwidrigkeit ist strafbar. Wenn nach Art. 32 Abs. 2 SVG in
den Ortschaften keinesfalls mit mehr als 60 km/Std gefahren werden darf,
so heisst das nicht, dass bei günstigen Verkehrsbedingungen mit dieser
Geschwindigkeit gefahren werden müsse. Der Fahrer verfügt notwendigerweise
über einen gewissen Spielraum. Der Unterschied zwischen der zulässigen
Höchstgeschwindigkeit von 60 km/Std und der Geschwindigkeit von 40 km/Std
ist nicht so gross, dass letztere als strafwürdig erscheinen müsste, auf
jeden Fall dann nicht, wenn sie auf eine Strecke von 500 m beschränkt
bleibt. Zur Bildung langer Kolonnen führt sie auf diese Entfernung
regelmässig nicht. Im vorliegenden Fall hatte der Beschwerdeführer
nach dem Polizeirapport eine Kolonne von "mehreren" Fahrzeugen hinter
sich. Leichtere Stauungen kommen aber im Innerortsverkehr aus den
verschiedensten Gründen laufend vor und müssen, so unerwünscht sie
sind, in Kauf genommen werden. Von einer Hinderung des gleichmässigen
Verkehrsflusses im Sinne von Art. 4 Abs. 5 VRV kann deswegen noch nicht
die Rede sein. In diesem Zusammenhang ist auch die Geschwindigkeit
der nicht schienengebundenen öffentlichen Verkehrsmittel, der Auto-und
Trolleybusse, von denen innerorts vielfach der Verkehrsfluss abhängt, zu
berücksichtigen. Nach der Auskunft der Verkehrsbetriebe der Stadt Zürich
sind die Führer solcher Fahrzeuge aus technischen Gründen angewiesen, in
Zürich innerorts auf ebener Strecke mit höchstens 50 km/Std, bei Gefälle
mit höchstens 40 km/Std zu fahren. In Lausanne wird nach der eingeholten
Auskunft der städtischen Verkehrsbetriebe im Zentrum selten mit mehr als 30
bis 35, höchstens mit 40 km/Std gefahren, ausserhalb des Zentrums bei sehr
günstigen Verhältnissen höchstens mit 55 km/Std. Diese Zahlen bestätigen,
dass Führer von privaten Fahrzeugen, die innerorts auf einige hundert
Meter mit immerhin 40 km/Std rollen, sich dadurch nicht strafbar machen
können. Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben und die Sache zur
Freisprechung des Beschwerdeführers an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil der I.
Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich vom 1. Juni 1967 aufgehoben
und die Sache zur Freisprechung des Beschwerdeführers an die Vorinstanz
zurückgewiesen.