Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 93 IV 32



93 IV 32

10. Urteil des Kassationshofes vom 14. April 1967 i.S. Schneider gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich. Regeste

    Art. 32 Abs. 1 und 36 Abs. 2 SVG; Geschwindigkeit und Vortrittsrecht.

    1.  Der Vortrittsberechtigte ist nicht verpflichtet, seine
Geschwindigkeit zum vorneherein zugunsten Nichtberechtigter herabzusetzen
(Erw. 1).

    2.  Bei verdeckter Sicht nach links darf und soll er den Vortritt im
Vertrauen darauf ausüben können, dass der von links kommende Fahrer dem
beschränkten Überblick Rechnung trage (Erw. 2).

    3.  Zur Verminderung einer an sich zulässigen Geschwindigkeit ist
er erst gehalten, wenn bestimmte Anzeichen dafür bestehen, dass ihn ein
Wartepflichtiger in seiner Fahrt behindern könnte (Erw. 3).

    4.  Pflichtgemässes Verhalten eines Fahrers an einer Kreuzung, vor
der ihm bloss die Sicht in die linke Seitenstrasse verdeckt war (Erw. 4).

Sachverhalt

    A.- In Oberglatt vereinigen sich vier Nebenstrassen (Hofstetter-,
Bülacher-, Rümlang- und Bahnhofstrasse) so, dass sie zusammen eine Kreuzung
bilden. Dem Fahrer, der sich auf der Hofstetterstrasse der Verzweigung
nähert, wird die Sicht in die von links einmündende Bülacherstrasse
zunächst durch ein Haus völlig verdeckt; erst etwa 12 m vor der Einmündung
kann er sich Rechenschaft geben, ob von links her ein Fahrzeug nahe, mit
dem er auf der Kreuzung zusammentreffen könnte. Die von rechts einmündende
Bahnhofstrasse kann er dagegen schon aus einer viel grösseren Entfernung
gut überblicken.

    Am 19. November 1965, etwa um 9.30 Uhr, fuhr Schneider mit einem
Personenwagen "Ford-Taunus" auf der Hofstetterstrasse gegen die erwähnte
Verzweigung. Er setzte die Geschwindigkeit auf 40 km/Std herab und wollte
die Kreuzung in Richtung Rümlangstrasse durchfahren. Gleichzeitig näherte
sich von der Bülacherstrasse her mit 25-30 km/Std ein Personenwagen
"Austin", der von Buser gesteuert war. Als Schneider die Verzweigung
erreichte, stiess das Auto Busers von links gegen die Mitte seines
Wagens. Der "Ford-Taunus" wurde nach rechts auf einen Hofplatz abgetrieben,
wo er gegen einen stillstehenden Lieferwagen prallte und eine Fussgängerin,
die zwischen die beiden Fahrzeuge geriet, erheblich verletzte.

    B.- Das Bezirksgericht Dielsdorf hielt Schneider für mitschuldig und
verurteilte ihn wegen fahrlässiger Körperverletzung im Sinne von Art. 125
Abs. 1 StGB zu 300 Franken Busse.

    Das Obergericht des Kantons Zürich bestätigte am 13. Dezember 1966
dieses Urteil im Schuldspruch, setzte aber die Busse auf Fr. 100.--
herab. Es wirft Schneider vor, die Geschwindigkeit insbesondere der
schlechten Sicht nach links nicht angepasst zu haben.

    C.- Schneider führt gegen das Urteil des Obergerichts
Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag auf Freisprechung.

    Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich beantragt, die Beschwerde
abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach ständiger Rechtsprechung (BGE 90 IV 90 Erw. b und
dort angeführte Urteile) darf der Berechtigte den Vortritt an
Strassenverzweigungen nicht mit beliebiger Geschwindigkeit ausüben. Er
hat trotz seines Vortrittsrechtes die Geschwindigkeit den Strassen-
und Verkehrsverhältnissen anzupassen und aufmerksam zu sein. Er darf es
zudem nicht bei der Beobachtung nach rechts bewenden lassen, sondern muss
sich zumindest durch einen raschen Blick auch nach links vergewissern,
dass er freie Fahrt habe. Wenn er dabei sieht oder bei pflichtgemässer
Aufmerksamkeit sehen könnte, dass ihm jemand den Vortritt nicht lassen
will oder nicht mehr lassen kann, darf er ihn nicht erzwingen. Er muss
in solcher Lage vielmehr seinerseits alles Zumutbare vorkehren, um einen
Zusammenstoss zu verhüten (Art. 26 Abs. 2 SVG).

    Dagegen braucht der Berechtigte seine Fahrweise nicht schon zum
vorneherein auf die Möglichkeit einzustellen, dass ein anderer sein
Vortrittsrecht missachten könnte. Selbst bei schlechter Sicht nach
links ist er nicht gehalten, so langsam auf die Verzweigung zu fahren,
dass er nötigenfalls auch die von links nahenden Fahrzeuge durchlassen
könnte. Er hat an Verzweigungen die Geschwindigkeit nur so zu mässigen,
dass er die gleichzeitig von rechts Kommenden vor ihm durchfahren lassen
kann und den von links Nahenden nicht verunmöglicht, ihm den Vortritt zu
gewähren (BGE 84 IV 59 f; 89 IV 100 f.).

Erwägung 2

    2.- An dieser Rechtsprechung ist festzuhalten. Freilich erlauben
Raum und Zeit einem Vortrittsberechtigten oft nicht mehr, der Gefahr
eines Zusammenstosses zu begegnen, wenn für ihn die Sicht nach links
erst im Einmündungsgebiet beginnt. Das allein rechtfertigt jedoch noch
keine Ausnahme. Der Grundsatz, dass der Berechtigte seine Fahrt nicht
zum vorneherein zugunsten Nichtberechtigter zu verlangsamen hat, muss
ohne Rücksicht darauf gelten, ob für ihn die Sicht nach links gut oder
schlecht sei. Das liegt nicht nur im Interesse einer klaren und einfachen
Ausscheidung der gegenseitigen Verpflichtungen, sondern entspricht auch dem
Verkehrsgefühl. Selbst besonders verantwortungsbewusste Fahrer setzen die
Geschwindigkeit an unübersichtlichen Einmündungen von links nicht soweit
herab, dass sie vor einem überraschend aus der Seitenstrasse kommenden
Fahrzeug noch jederzeit anhalten könnten. Das kann auch das Gesetz nicht
verlangen. Solange er keinen Grund zu besonderer Vorsicht hat, darf
und soll daher der Berechtigte den Vortritt im Vertrauen darauf ausüben
können, dass der von links kommende Fahrer dem beschränkten Überblick
Rechnung trage, ihn auf der Verzweigung also nicht überrasche und in der
Fahrt hindere.

    Würde anders entschieden, so wäre das Vortrittsrecht als grundlegende
Verkehrsregel weitgehend entwertet. Der Berechtigte müsste bei verdeckter
Sicht nach links seine Fahrgeschwindigkeit bis auf Schrittempo verlangsamen
und sich in die Verzweigung hineintasten; er hätte gegenüber dem
von links Kommenden praktisch keinen Vorteil mehr. Die sich aus der
Vortrittsregel ergebenden Verantwortlichkeiten würden verzettelt und
die klaren Verpflichtungen des Vortrittsbelasteten (Art. 14 Abs. 1 VRV)
verwischt, womit erfahrungsgemäss das Pflichtbewusstsein der Beteiligten
nur abgestumpft wird. Der verwegene Fahrer könnte dann erst recht versucht
sein, sich auch dort wie ein Vortrittsberechtigter zu gebärden, wo die
Berechtigung einem andern zusteht.

    Diese Folgen zeigen, dass vom Berechtigten nicht verlangt werden kann,
seine Geschwindigkeit im Hinblick auf noch nicht sichtbare Fahrer, die
von links kommen und mit ihm auf der Verzweigung zusammentreffen könnten,
herabzusetzen. Sie machen zudem deutlich, dass eine strikte und einfache
Anwendung der Vortrittsregel nicht nur im Interesse der Flüssigkeit,
sondern auch der Sicherheit des Verkehrs liegt.

Erwägung 3

    3.- Art. 32 Abs. 1 SVG steht dem nicht entgegen. Gewiss hat nach der
allgemeinen Regel über die Geschwindigkeit auch der Vortrittsberechtigte
dort, wo sein Fahrzeug den Verkehr stören könnte, wie vor unübersichtlichen
Stellen oder nicht frei überblickbaren Strassenverzweigungen,
langsam zu fahren und nötigenfalls anzuhalten. Diese Bestimmung kann
dem Vortrittsberechtigten jedoch nicht zum vorneherein die gleiche
Sorgfaltspflicht auferlegen wollen wie dem Vortrittsbelasteten. Gleiche
Anforderungen rechtfertigen sich nur, wenn der Vortrittsberechtigte
seinerseits gleichzeitig mit dem Vortritt von rechts kommender
Fahrzeuge belastet ist oder wenn infolge ungünstiger Strassen- oder
Verkehrsverhältnisse jeder mit Rücksicht auf die erhöhten allgemeinen
Schwierigkeiten besonders vorsichtig fahren muss, wie das z.B. im Falle
Kunz zutraf (BGE 91 IV 142).

    Dagegen stellt eine Kreuzung, vor der ihm bloss die Sicht in die
linke Seitenstrasse verwehrt ist, für den Vortrittsberechtigten weder eine
unübersichtliche Stelle noch eine nicht frei überblickbare Verzweigung im
Sinne von Art. 32 Abs. 1 SVG dar. Diese Unübersichtlichkeit der Kreuzung
geht vielmehr zu Lasten desjenigen, der von links kommt, verpflichtet daher
den Berechtigten sowenig zur Mässigung seiner Fahrweise wie die blosse
Möglichkeit, dass sein Recht missachtet werde; zur Verminderung einer
an sich zulässigen Geschwindigkeit ist er erst gehalten, wenn bestimmte
Anzeichen dafür bestehen, dass ihn ein Wartepflichtiger in seiner Fahrt
behindern könnte. Kann der Berechtigte sich darüber wegen der beschränkten
Sicht nach links erst unmittelbar vor der Verzweigung Rechenschaft geben
und kann er alsdann einen Zusammenstoss nicht mehr vermeiden, so trifft
daher den Vortrittsbelasteten die ganze Verantwortung (BGE 89 IV 101/2).

Erwägung 4

    4.- Nach dem angefochtenen Urteil hatte Schneider freie Sicht auf
die von rechts einmündende Bahnhofstrasse. Dass sich auf dieser Strasse
gleichzeitig ein Fahrzeug der Kreuzung näherte, ist weder von einer Seite
behauptet worden noch festgestellt. Bezirksgericht und Obergericht werfen
dem Beschwerdeführer denn auch nicht vor, er wäre ausserstande gewesen,
einem von rechts zufahrenden Fahrzeug den Vortritt zu lassen, und er
hätte aus diesem Grunde seine Geschwindigkeit mehr als nur auf 40 km/Std
herabsetzen sollen.

    Die kantonalen Instanzen erblicken das Verschulden des
Beschwerdeführers in erster Linie vielmehr darin, dass er seine
Geschwindigkeit nicht der schlechten Sicht nach links angepasst hat;
sie halten dafür, auch Schneider habe auf den unübersichtlichen Teil der
Verzweigung Rücksicht nehmen, folglich so langsam fahren müssen, dass er
nötigenfalls vor der Kreuzung hätte anhalten können. Dieser Auffassung kann
jedoch aus den hievor angeführten Gründen nicht beigepflichtet werden, soll
das Vortrittsrecht nicht weitgehend illusorisch bleiben, ja ins Gegenteil
verkehrt werden. Der Verkehr ist in hohem Masse an einer einfachen und
klaren Anwendung des Vortrittsrechts interessiert. Auf lange Sicht ist
ihm daher zweifellos am besten gedient, wenn mit dieser Grundregel Ernst
gemacht und nicht immer wieder versucht wird, einen Teil der Verantwortung
auf den Vortrittsberechtigten abzuschieben.

    Schneider ist nicht so schnell gefahren, dass er einem gleichzeitig von
links nahenden, die Umstände jedoch berücksichtigenden Fahrer verunmöglicht
hätte, ihm den Vortritt zu lassen. Da er vom linken Strassenrand einen
Abstand von etwa 3 m einhielt, hätte er Buser auch nicht daran gehindert,
sich in die Kreuzung hineinzutasten. Ebensowenig kann ihm vorgeworfen
werden, er habe sich im Augenblick, als er freie Sicht nach links bekam,
fehlerhaft verhalten, die Lage nicht erfasst oder sogar den Vortritt
erzwingen wollen. Aus dem Unfallplan erhellt im Gegenteil, dass er sofort
anzuhalten versuchte, als er den von links kommenden Wagen erblicken
konnte, aber schon nach 4 m Bremsweg von Buser gerammt wurde.

    Dem Beschwerdeführer kann schliesslich auch nicht vorgeworfen werden,
dass er mit Rücksicht auf drei Fussgänger, die sich beim Lieferwagen
aufhielten, langsamer hätte fahren sollen. Es handelte sich dabei um den
Milchhändler und zwei Frauen (eine davon war das Opfer), die ausserhalb der
Verzweigung bei ihm Milch einkauften. Nichts in den Akten deutet darauf
hin, dass sich eine dieser Personen angeschickt hätte, die Strasse zu
überqueren, ganz abgesehen davon, dass sie das auf einem der kaum 10 m
entfernten Fussgängerstreifen hätte tun müssen. Aus den Akten ist auch
sonst nichts ersichtlich, was Schneider hätte veranlassen können, seine
Geschwindigkeit gegen die Kreuzung hin weiter herabzusetzen, als er es
getan hat. Er ist daher freizusprechen.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das angefochtene
Urteil aufgehoben und die Vorinstanz angewiesen, den Beschwerdeführer
freizusprechen.