Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 93 IV 3



93 IV 3

2. Urteil des Kassationshofes vom 19. Mai 1967 i.S. Roulier gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich. Regeste

    1.  Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 StGB. Die Bestrafung durch ein
Militärstrafgericht wegen eines nach Militärstrafrecht strafbaren, in
der Probezeit begangenen vorsätzlichen Verbrechens oder Vergehens zieht
die Anordnung des Strafvollzugs nach sich (Erw. 1).

    Art.8 StGB ändert daran nichts (Erw. 2).

    2.  Art. 41 Ziff. 3 Abs. 2 StGB. Eine Gefängnisstrafe von 45 Tagen
liegt weit über dem Mass, bei dem allenfalls noch von einem besonders
leichten Fall gesprochen werden kann. Das gilt auch für militärgerichtliche
Strafen (Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- a) Am 29. November 1961 verurteilte das Bezirksgericht Zürich den
am 2. Mai 1940 geborenen Beschwerdeführer wegen wiederholten Diebstahls im
Gesamtbetrag von Fr. 363.-- sowie wiederholten und fortgesetzten Betrugs
im Gesamtbetrag von Fr. 1170.-- zu vier Monaten Gefängnis. Es schob
den Vollzug auf unter Auferlegung einer dreijährigen Probezeit. Dies in
der Erwartung, dass der noch junge Angeklagte sich unter dem Eindruck
des Strafverfahrens künftig wohlverhalten werde, und in Anbetracht der
Erfahrung, dass der Vollzug der Strafe eher von nachteiligem Einfluss
auf wenig gefestigte Charaktere wie den des Angeklagten wäre.

    b) Am 13. Februar 1962 auferlegte ihm der Präfekt des Distrikts
Lausanne eine Busse von Fr. 200.--, weil er während vier Tagen ein
Motorfahrzeug geführt hatte, ohne im Besitz eines gültigen Führerausweises
zu sein.

    Roulier wurde am 20. Februar 1962 in Lausanne unter Vormundschaft
gestellt. Er unterzog sich ihr freiwillig, musste aber im Juli 1962
administrativ in eine Anstalt eingewiesen werden, wo er bis Ende Juli
1963 verblieb. Die Nichtbezahlung der Busse hatte ferner ihre Umwandlung
in 20 Tage Haft zur Folge.

    Das Bezirksgericht Zürich sah mit Beschluss vom 3. Oktober 1962 davon
ab, den Vollzug der von ihm am 29. November 1961 bedingt aufgeschobenen
Gefängnisstrafe anzuordnen; es verlängerte statt dessen die Probezeit
um ein Jahr. Massgebend war dabei, dass der Erfolg der administrativ
verfügten Arbeitserziehung nicht durch die Anordnung des Strafvollzugs,
wegen einer nicht sehr schweren Täuschung des richterlichen Vertrauens,
in Frage gestellt werden sollte.

    c) Am 12. Mai 1964 neuerdings administrativ in die
Arbeitserziehungsanstalt eingewiesen, entzog sich Roulier der Einlieferung
durch die Flucht nach Frankreich. Er hielt sich dort während 11 Monaten
auf, obschon er keinen militärischen Auslandsurlaub besass und ohne seine
neue Adresse den zuständigen schweizerischen Militärbehörden zu melden. Er
versäumte den Wiederholungskurs, die Inspektion und das obligatorische
Schiessen.

    Das Divisionsgericht I verurteilte ihn am 9. September 1965 wegen
Nichtbefolgung von Dienstvorschriften und Dienstversäumnis zu einer auf
eine Probezeit von drei Jahren bedingt aufgeschobenen Gefängnisstrafe
von 45 Tagen. Grund für die Gewährung des bedingten Strafvollzugs war
hauptsächlich der Eindruck, dass Roulier sich aufgefangen habe.

    B.- Auf Meldung der militärgerichtlichen Verurteilung beschloss
das Bezirksgericht Zürich am 27. Oktober 1965 den Vollzug der von ihm
ausgesprochenen Strafe von 4 Monaten Gefängnis, weil Roulier in der
Probezeit eine neue vorsätzliche Straftat verübt habe, die nicht als
leichter Fall im Sinne von Art. 41 Ziff. 3 Abs. 2 StGB angesehen werden
könne.

    Das Obergericht des Kantons Zürich wies am 5. August 1966 den von
Roulier hiegegen erhobenen Rekurs ab.

    C.- Gegen diesen Entscheid führt Roulier Nichtigkeitsbeschwerde mit
dem Antrag, von der Anordnung des Vollzugs sei abzusehen.

    D.- Auf die Aussichtslosigkeit der Beschwerde aufmerksam gemacht, hat
Roulier beim Regierungsrat des Kantons Zürich zuhanden des Kantonsrats
ein Begnadigungsgesuch eingereicht. Die zürcherische Justizdirektion
hat die Behandlung des Gesuchs bis zum Vorliegen des Entscheids des
Kassationshofes ausgesetzt.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 StGB lässt der Richter eine bedingt
aufgeschobene Strafe vollziehen, wenn der Verurteilte während der Probezeit
vorsätzlich ein Verbrechen oder Vergehen begeht. Vergehen sind die mit
Gefängnis als Höchststrafe bedrohten Handlungen (Art. 9 Abs. 2 StGB). In
gleicher Weise bestimmt das Militärstrafrecht den Begriff des Vergehens
(Art. 9 bis Abs. 2 MStG). Dabei macht es keinen Unterschied, ob je nach
dem anzuwendenden Recht gemeinrechtliche oder rein militärische Tatbestände
in Frage stehen, wie es auch nicht darauf ankommt, ob die Strafe von einem
bürgerlichen oder militärischen Strafgericht auszufällen war. Das Gesetz
kennt nur einen einheitlichen Begriff des Vergehens (BGE 68 IV 163).

    Nichtbefolgung von Dienstvorschriften (Art. 72 Abs. 1 MStG) und
Dienstversäumnis (Art. 82 Abs. 1 MStG) sind Vorsatztaten (Art. 15 Abs. 1
und 2 MStG); sie sind mit Gefängnis bis zu sechs Monaten bedroht, somit
Vergehen. Im vorliegenden Fall sind sie vom Divisionsgericht auch als
solche geahndet worden. Fest steht ferner, dass sie der Beschwerdeführer
während der Probezeit begangen hat.

    Die Voraussetzungen für den Widerruf des bedingten Strafaufschubs
sind somit erfüllt.

Erwägung 2

    2.- Vergeblich beruft sich der Beschwerdeführer auf Art. 8 StGB,
wonach dieses Gesetz nicht anwendbar ist auf Personen, die nach
dem Militärstrafrecht zu beurteilen sind. Die Abgrenzung, die diese
Bestimmung zwischen dem persönlichen Geltungsbereich des bürgerlichen
und demjenigen des Militärstrafrechts (Art. 2 ff. MStG) trifft, ändert
nichts daran, dass - von blossen Disziplinarfehlern abgesehen (BGE 68
IV 163) - auch rein militärische Taten wie hier (deren Verfolgung und
Beurteilung ausschliesslich der Militärgerichtsbarkeit unterstellt ist)
in gleicher Weise als Vergehen zu gelten haben, wenn in einem bürgerlichen
Strafverfahren darüber zu entscheiden ist, ob ihretwegen eine vordem
bedingt aufgeschobene Strafe des bürgerlichen Strafrechts nach Art. 41
Ziff. 3 StGB zu vollziehen sei.

Erwägung 3

    3.- Die vorsätzliche Verübung eines Verbrechens oder Vergehens zieht
den Widerruf des bedingten Strafaufschubs zwingend nach sich, sofern kein
besonders leichter Fall vorliegt (BGE 83 IV 134), für welchen die Anordnung
des Strafvollzugs in das Ermessen des Richters gelegt ist (Art. 41
Ziff. 3 Abs. 2 StGB). Die Verfehlungen, derentwegen der Beschwerdeführer
zu 45 Tagen Gefängnis verurteilt wurde, sind nicht als besonders leicht
zu werten. Hiegegen spricht schon die Höhe der ausgesprochenen Strafe,
die weit das Mass übersteigt, bei dem auch unter Berücksichtigung
aussergewöhnlicher Umstände allenfalls noch von einem besonders leichten
Fall gesprochen werden kann (BGE 86 IV 90; 88 IV 10). Würde gleichwohl ein
leichter Fall angenommen, so würde damit jenes Urteil in Zweifel gezogen,
dessen materielle Richtigkeit indessen nach ständiger Rechtsprechung
im Vollzugsverfahren nicht mehr zur Diskussion steht (BGE 74 IV 17,
80 IV 215). Dass es sich um ein militärgerichtliches Urteil handelt,
vermag nichts zu ändern. Zwar werden für militärische Vergehen in der
Regel strengere Strafen ausgesprochen als für bürgerliche Straftaten,
doch liegt dies in der Natur der Sache. Ebensowenig ist von Bedeutung,
dass für die neuen Verfehlungen abermals der bedingte Strafvollzug
gewährt wurde; sie erscheinen deswegen noch keineswegs als besonders
leicht (BGE 86 IV 90). Vielmehr verwehren wie die objektiven so auch die
subjektiven Umstände die Annahme, es handle sich bloss um geringfügige
Verfehlungen. Insbesondere verschuldensmässig sind sie nicht leicht
zu nehmen, zumal wenn berücksichtigt wird, dass der Beschwerdeführer
schon vorher bei der Verlängerung der Probezeit verwarnt worden war, es
also nicht die ersten Verfehlungen waren, die er während der Probezeit
begangen hatte. Dass Roulier sich inzwischen aufgefangen hat, sich
verehelichte und für ein Kind zu sorgen hat, kann, wie die Vorinstanz
mit Recht bemerkt, die vom Divisionsgericht beurteilten Vergehen nicht
zu einem besonders leichten Fall machen. Solche Umstände mögen allenfalls
in einem Begnadigungsverfahren ins Gewicht fallen. Doch ist darüber hier
nicht zu entscheiden.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.