Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 93 II 282



93 II 282

39. Urteil der I. Zivilabteilung vom 25. November 1967 i.S. Nussbaum
gegen Ernst. Regeste

    Berufung.

    Begriff des ordentlichen Rechtsmittels, Art. 48 Abs. 1 OG
(Erw. 1). Begriff des Endentscheides, Art. 48 Abs. 1 OG (Erw. 2).

    Berufungsfähigkeit wegen vorfrageweiser Anwendung von
Bundesrecht? (Erw. 3).

    Begriff des berufungsfähigen selbständigen Vor- oder
Zwischenentscheides i.S. von Art. 50 OG (Erw. 4).

Sachverhalt

    A.- Hans Ernst betreibt in Räumen, die er von Frau Elisabeth Nussbaum
im Jahre 1959 mit fester Vertragsdauer bis zum 30. Juni 1975 mietete,
eine Konditorei mit Tea-Room.

    Mit Schreiben vom 22. Juli 1966, das Ernst am folgenden Tage zuging,
stellte die Vermieterin fest, dass er bei der Einrichtung des Tea-Rooms
im Jahre 1959 ohne ihr Wissen die Entlüftungsanlage an die Heizung
angeschlossen habe, und verlangte deswegen von ihm für die verflossene
Mietzeit einen zusätzlichen Heizungskostenbeitrag von Fr. 6000.--; für
die Bezahlung dieses Betrages setzte sie ihm eine Frist von 30 Tagen
an, mit der Androhung, dass bei deren Nichteinhaltung der Mietvertrag
aufgelöst sei.

    Ernst beauftragte am 18. August 1966 die Filiale einer schweizerischen
Grossbank, den Betrag von Fr. 6000.-- auf das Postcheckkonto der
Vermieterin zu überweisen. Die Bank nahm diese Überweisung jedoch erst
am 29. August 1966 vor.

    Da die Zahlung bis zum Ablauf der Frist, d.h. bis zum 22. August 1966,
nicht eingegangen war, stellte die Vermieterin mit Schreiben vom 26. August
an den Mieter fest, dass das Mietverhältnis androhungsgemäss aufgelöst sei.

    B.- Auf Begehren der Vermieterin befahl der Einzelrichter im
summarischen Verfahren beim Bezirksgericht Zürich dem Mieter mit Verfügung
vom 21. September 1966, die Mieträumlichkeiten unverzüglich zu räumen
und sie der Vermieterin ordnungsgemäss zu übergeben.

    Das Obergericht des Kantons Zürich, II. Zivilkammer, wies den von
Ernst gegen diese Verfügung erhobenen Rekurs am 31. Januar 1967 ab,
gewährte ihm aber 14 Tage Frist für die Räumung der Mietsache.

    Ernst reichte gegen diesen Entscheid Nichtigkeitsbeschwerde ein. Das
Kassationsgericht des Kantons Zürich kam zum Schlusse, die Frage,
ob der Vermieterin die Berufung auf die Säumnisfolgen auf Grund des
Art. 2 ZGB zu versagen sei, könne nicht als liquid im Sinne des § 292
Ziff. 1 zürch. ZPO gelten, sondern bedürfe einer eingehenden Prüfung im
ordentlichen Verfahren; es fehle somit an einer Voraussetzung für das
summarische Verfahren. Das habe das Obergericht verkannt und dadurch den
Nichtigkeitsgrund des § 344 Ziff. 9 ZPO (Widerspruch mit einer klaren
gesetzlichen Bestimmung) geschaffen. In Anwendung dieser Vorschrift hiess
das Kassationsgericht daher am 24. April 1967 die Nichtigkeitsbeschwerde
gut, schützte im Sinne einer neuen Sachentscheidung (§ 349 ZPO) den Rekurs
des Beschwerdeführers gegen die Ausweisungsverfügung des Einzelrichters
vom 21. September 1966 und hob diese auf.

    C.- Mit der vorliegenden Berufung beantragt Frau Nussbaum dem
Bundesgericht, den Entscheid des Kassationsgerichts aufzuheben, die
kantonale Nichtigkeitsbeschwerde abzuweisen und Ernst unter Androhung
von Zwangsvollstreckung und Ordnungsbusse die unverzügliche Räumung und
Übergabe der Mietsache zu befehlen; eventuell sei das Kassationsgericht
anzuweisen, auf die Nichtigkeitsbeschwerde nicht einzutreten.

    Ernst beantragt, auf die Berufung nicht einzutreten, eventuell sie
abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Nichtigkeitsbeschwerde gemäss § 344 ff. zürch. ZPO hemmt die
Rechtskraft und Vollziehbarkeit der angefochtenen Entscheidung nicht (§ 348
Abs. 2 ZPO), noch hat sie Devolutiveffekt (§ 349 ZPO). Sie ist somit gemäss
ständiger Rechtsprechung nicht ein ordentliches Rechtsmittel im Sinne von
Art. 48 Abs. 1 OG (BGE 39 II 156 oben, 63 II 327 ff., 71 II 184 f., 78 II
189, 85 II 285). Soweit das Kassationsgericht den Nichtigkeitsgrund von
§ 344 Ziff. 9 ZPO bejaht hat, kann daher sein Entscheid von vorneherein
mit der Berufung nicht angefochten werden. Abgesehen hievon wäre es eine
mit der Berufung nicht überprüfbare Frage des kantonalen Prozessrechts,
ob das Kassationsgericht den erwähnten Nichtigkeitsgrund zu Recht oder
zu Unrecht als gegeben betrachtet habe.

    Nun hat aber das Kassationsgericht von der ihm durch § 349 ZPO
eingeräumten Befugnis Gebrauch gemacht, nach der Aufhebung des nichtig
erklärten Entscheides selber ein neues Sachurteil zu fällen. Gegen diesen
Entscheid ist kein ordentliches kantonales Rechtsmittel zulässig. Insoweit
steht daher Art. 48 Abs. 1 OG der Berufung nicht im Wege (BIRCHMEIER,
Bundesrechtspflege, S. 170, zweitletzter Absatz am Ende).

Erwägung 2

    2.- Art. 48 Abs. 1 OG lässt die Berufung jedoch nur zu gegen
Endentscheide. Ein solcher liegt nur vor, wenn der kantonale Richter
den streitigen Anspruch materiell beurteilt oder dessen Beurteilung aus
einem Grunde abgelehnt hat, der die Geltendmachung des gleichen Anspruchs
endgültig ausschliesst (BGE 84 II 230, 398 und dort erwähnte Entscheide;
86 II 123. 88 II 59 Erw. 2).

    Diese weitere Voraussetzung erfüllt der angefochtene Sachentscheid
des Kassationsgerichts nicht. Dieses hat das Ausweisungsbegehren
der Vermieterin abgewiesen, weil der Streit mangels Liquidität des
Ausweisungsanspruches nicht im summarischen Verfahren entschieden
werden könne, sondern im ordentlichen Verfahren auszutragen sei. Der
Ausweisungsanspruch ist also nicht endgültig verneint worden. Die
Berufungsklägerin hat vielmehr die Möglichkeit, ihn in einem andern
Verfahren erneut geltend zu machen. Auf die vorliegende Berufung kann
daher nicht eingetreten werden.

Erwägung 3

    3.- Die Berufung ist übrigens auch noch aus einem weiteren Grunde
nicht zulässig.

    Das Kassationsgericht hat die Zulässigkeit des Befehlsverfahrens nur
deshalb verneint, weil der Anspruch auf Ausweisung des Berufungsbeklagten
nicht im Sinne von § 292 Ziff. 1 ZPO liquid sei. Ob das zutrifft, ist
eine Frage des kantonalen Prozessrechtes, die gemäss Art. 43 Abs. 1 und
Art. 55 Abs. 1 lit. c OG nicht Gegenstand der Berufung sein kann. Dass
der Anspruch, den die Berufungsklägerin geltend macht, aus Art. 265
OR, also aus einer Bestimmung des Bundesrechts, abgeleitet wird, und
das Kassationsgericht geprüft hat, ob ihm möglicherweise Art. 2 ZGB,
also wiederum Bundesrecht, im Wege stehe, ändert nichts. Wie klar dieser
Anspruch im vorliegenden Falle sei, war nur eine Vorfrage. Der kantonale
Richter verstösst aber nicht schon dann gegen Bundesrecht, wenn er bei
der Anwendung kantonalen Rechts eine bundesrechtliche Vorfrage unrichtig
beurteilt. Bundesrecht ist in einem solchen Falle nur verletzt, wenn ihm
das kantonale Recht von Bundesrechts wegen Rechnung tragen muss (BGE 80
II 183, 84 II 132, 85 II 363 f. Erw. 2). Diese Voraussetzung trifft hier
nicht zu. Das Bundesrecht verlangt nicht, das kantonale Recht müsse für
die Durchsetzung klarer Rechtsansprüche, insbesondere solcher aus Art. 265
OR, ein summarisches Verfahren zur Verfügung stellen. Es überlässt es
dem kantonalen Recht, ob es in solchen Fällen das ordentliche oder ein
summarisches Verfahren vorsehen will. Die gleiche Überlegung liegt auch BGE
88 II 59 zugrunde, der ebenfalls einen Streit aus Art. 265 OR betraf, und
ebenso wurde in BGE 83 II 143 Erw. 2 für den Fall der Besitzesschutzklage
entschieden.

Erwägung 4

    4.- Aus den in Erw. 3 dargelegten Gründen kann sich die Berufung auch
nicht auf den von der Berufungsklägerin subsidiär angerufenen Art. 50
OG stützen; denn auch mit der Berufung gegen selbständige Vor- und
Zwischenentscheide kann nur die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden.

    Im vorliegenden Falle wären übrigens die Voraussetzungen des Art. 50
OG offensichtlich nicht erfüllt. Diese Bestimmung trifft nur zu, wenn
der kantonale Richter bloss einzelne der ihm unterbreiteten Fragen
eidgenössischen Rechts beurteilt, die übrigen dagegen vorläufig offen
lässt. Sie will dem Bundesgericht ermöglichen, die vorweg behandelten
Fragen auf Berufung hin seinerseits vorweg zu beurteilen, wenn dadurch
sofort ein Endentscheid herbeigeführt und ein bedeutender Aufwand an Zeit
oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren erspart werden kann. Das
Kassationsgericht hat jedoch nicht die Beurteilung einzelner Fragen
vorweggenommen, sondern einen Entscheid gefällt, der das eingeleitete
Befehlsverfahren abschliesst. Dieses müsste also bei Abweisung der
Berufung nicht über weitere Fragen fortgesetzt werden. Das Eintreten
auf die Berufung und deren Gutheissung hätte somit nicht eine Abkürzung
dieses Verfahrens zur Folge. Was die Berufungsklägerin vermeiden will,
ist die Einleitung eines neuen Verfahrens: Sie will im Berufungsverfahren
entscheiden lassen, ob ihr im summarischen Verfahren geltend gemachter
Anspruch vom angerufenen Richter beurteilt und geschützt werden müsse,
oder ob sie ihn nur im ordentlichen Verfahren allenfalls durchsetzen könne.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Auf die Berufung wird nicht eingetreten.