Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 92 I 189



92 I 189

32. Urteil vom 3. Oktober 1966 i.S. Gebrüder X. gegen Y. und
Justizkommission des Kantons Zug. Regeste

    Art. 4 BV, Art. 174 SchKG.

    Die Frage, ob der Berufungsrichter Tatsachen, die erst nach dem
erstinstanzlichen Konkurserkenntnis eingetreten sind, berücksichtigen
dürfe, wird in der Rechtsprechung der Kantone teils verneint, teils
(unter Einschränkungen) bejaht. Weder die eine noch die andere Lösung
ist willkürlich.

Auszug aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Das Kantonsgerichtspräsidium Zug eröffnete am 22. Juli 1966
auf Begehren von sechs Gläubigern, deren Forderungen sich insgesamt
auf Fr. 4439.65 beliefen, über die Kollektivgesellschaft Gebrüder X. den
Konkurs. Die Schuldnerin erklärte die Berufung an die Justizkommission
des Kantons Zug. Sie legte im Berufungsverfahren eine Bestätigung des
Betreibungsamtes ein, wonach sie dem Amt am 28., 29. und 30. Juli 1966
insgesamt Fr. 37 610.-- einzahlte, wodurch sämtliche im Jahre 1966
offenen Betreibungen (also auch die der Gläubiger, die den Konkurs
verlangt hatten) gedeckt worden seien. Die Justizkommission hat die
Berufung am 1. August 1966 abgewiesen. Sie hat dazu ausgeführt, nach
ihrer Rechtsprechung seien Noven im Berufungsverfahren zulässig, falls
der Schuldner infolge besonderer Umstände, die er nicht zu vertreten
habe, die rechtzeitige Tilgung der Betreibungsforderungen versäumt habe
und die Durchführung des Konkurses als ungewöhnliche Härte erscheine.
Diese Voraussetzungen seien hier nicht erfüllt, weil die Schuldnerin sich
mit "erstaunlicher Sorglosigkeit" über die Vorladungen und Mahnungen des
Konkursrichters hinweggesetzt habe. Der Tod der Ehefrau des Gesellschafters
Josef X. vermöge dieses Verhalten nicht zu entschuldigen.

    Die Kollektivgesellschaft Gebrüder X. führt staatsrechtliche Beschwerde
wegen Verletzung des Art. 4 BV mit dem Antrag, es sei der Entscheid der
Justizkommission aufzuheben.

Erwägung 2

    2.- Gemäss Art. 174 Abs. 1 SchKG kann gegen die Konkurseröffnung (oder
die Abweisung des Begehrens) binnen zehn Tagen seit der Mitteilung bei der
oberen (kantonalen) Gerichtsinstanz Berufung eingelegt werden. Das SchKG
bestimmt nicht, oder zumindest nicht ausdrücklich, ob der Berufungsrichter
Tatsachen, die nach dem erstinstanzlichen Entscheid eingetreten sind,
berücksichtigen dürfe oder nicht. Die Rechtsprechung der Kantone
beantwortet diese Frage uneinheitlich: während die Gerichte zahlreicher
Kantone solche Noven allgemein ausschliessen, lassen andere sie zu,
namentlich wenn ernstlich damit zu rechnen ist, dass der Schuldner seinen
Verpflichtungen in der Folge wieder aus eigenen Mitteln wird nachkommen
können und die verspätete Zahlung ausserdem entschuldbar ist. Das
Bundesgericht kann die hierüber ergangenen Entscheidungen der kantonalen
Berufungsinstanzen nur auf Beschwerde wegen Verletzung verfassungsmässiger
Rechte der Bürger (Art. 84 Abs. 1 lit. a OG) hin überprüfen, wobei es
nur ausnahmsweise (vgl. BGE 36 I 386 Erw. 2, 46 I 366) mit der Beschwerde
wegen Verletzung des Art. 2 Üb. Best. BV angegangen werden kann, während
es sich in der Regel (und so auch hier) nur über eine Verletzung des
Art. 4 BV auszusprechen hat. Die Rechtseinheit hat sich daher auf diesem
Gebiete nicht verwirklichen lassen (vgl. FRITZSCHE, Schuldbetreibung,
Konkurs und Sanierung, Bd. II, S. 14; FAVRE, Schuldbetreibungs- und
Konkursrecht, S. 245).

    Das Bundesgericht hat wiederholt erkannt, dass weder der allgemeine
Ausschluss von Noven (BGE 57 I 366 Erw. 2) noch die Zulassung bestimmter
Noven (BGE 91 I 2) als willkürlich zu bezeichnen sind. Die Justizkommission
wäre somit nicht in Willkür verfallen, wenn sie die Berücksichtigung
der erst nach dem erstinstanzlichen Konkurserkenntnis eingetretenen
Tilgung von vornherein ausgeschlossen hätte. Sie ist indessen nicht
so weit gegangen, sondern hat sich auch im vorliegenden Falle an ihre
ständige - gleichfalls nicht willkürliche - Praxis gehalten, wonach die
im Berufungsverfahren erfolgte Tilgung zu berücksichtigen ist, sofern die
Verspätung der Zahlung durch besondere, vom Schuldner nicht zu vertretende
Umstände entsch uldigt wird und die Durchführung des Konkurses zudem mit
einer ungewöhnlichen Härte verbunden wäre. Diese Voraussetzungen treten
kumulativ und nicht alternativ nebeneinander: die Berücksichtigung des
Novums enfällt, wenn auch nur eines der genannten Erfordernisse nicht
erfüllt ist. Die Justizkommission hat im vorliegenden Falle mit Fug
erkannt, dass die verspätete Zahlung nicht entschuldbar war. Sollte
der Gesellschafter Josef X. wirklich, wie in der Beschwerde behauptet
wird, nach dem Tode seiner Ehefrau im Oktober 1965 in einen "Zustand
depressiver Apathie und Gleichgültigkeit" versunken sein, so hätte doch
der Gesellschafter Hans X. zum Rechten sehen und - gegebenenfalls unter
Zuziehung eines aussenstehenden Buchhalters - das Nötigste zur Ordnung
der Geschäfte vorkehren können. Fehlt es aber an der Voraussetzung der
entschuldbaren Säumnis, dann war nach der - nicht willkürlichen - Praxis
der Justizkommission die im Berufungsverfahren erfolgte Tilgung schon aus
diesem Grunde nicht zu berücksichtigen. Eine Prüfung der Frage, ob die
Durchführung des Konkurses zu ungewöhnlichen Härten führen würde, erübrigte
sich demnach. Der Justizkommission kann deshalb keine Rechtsverweigerung
vorgeworfen werden, wenn sie diesen Punkt nicht näher untersuchte.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird abgewiesen.