Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 92 I 18



92 I 18

5. Auszug aus dem Urteil vom 15. April 1966 i.S. N. gegen Kanton Solothurn
und Kantonale Rekurskommission Solothurn. Regeste

    Art. 4 BV; kantonales Prozessrecht.

    Berechnung der Rechtsmittelfrist, wenn der angefochtene Entscheid
dem Inhaber eines Postfachs mit eingeschriebener Sendung zugestellt und
die Eingangsanzeige an einem Samstag in das Postfach gelegt wird.

Sachverhalt

    Das Finanzdepartement des Kantons Solothurn wies am 4. Mai 1965 eine
Einsprache, die Notar X. in Y. in einer Nachsteuersache für N. erhoben
hatte, ab. Der eingeschriebene Brief, der den Entscheid enthielt, wurde am
Freitag, den 7. Mai 1965 der Post übergeben. Er gelangte am frühen Samstag
Morgen in das Postamt Y., das unverzüglich eine Eingangsanzeige in das
Postfach des Notars X. legte. Da dessen Notariatskanzlei an Samstagen
geschlossen ist, wurde das Postfach an jenem Tag nicht geleert. Eine
Angestellte der Notariatskanzlei entnahm am Montag, den 10. Mai 1965,
die Eingangsanzeige dem Postfach und liess sich die Sendung aushändigen.

    Notar X. erhob am 9. Juni 1965 gegen den Einspracheentscheid Rekurs
an die Kantonale Rekurskommission Solothurn. Diese ist mit Entscheid
vom 10. Januar 1966 auf das Rechtsmittel nicht eingetreten, weil die
dreissigtägige Rekursfrist am Samstag, den 8. Mai 1965, und nicht erst
am darauf folgenden Montag zu laufen begonnen habe und sie deshalb bei
Einreichung des Rekurses am 9. Juni 1965 verstrichen gewesen sei.

    Notar X. führt namens des N. gegen den Entscheid der Rekurskommission
staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung des Art. 4 BV. Das
Bundesgericht hat die Beschwerde abgewiesen, soweit es darauf eingetreten
ist.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Das solothurnische Gesetz über den Fristenlauf an Samstagen
vom 29. September 1963 stellt in § 1 den Samstag "hinsichtlich aller
gesetzlichen Fristen des kantonalen und kommunalen Rechts sowie der kraft
kantonalen und kommunalen Rechts von Behörden angesetzten Fristen" einem
anerkannten Feiertag gleich. Die Rekurskommission hat unter Hinweis auf
die Beratungen des Kantonsrates (KRV 1963 S. 330 ff.) erkannt, dass der
kantonale Gesetzgeber sich das gleichnamige Bundesgesetz vom 21. Juni
1963 zum Vorbild nahm, das den Samstag nur bezüglich des Ablaufs, nicht
aber hinsichtlich des Beginns einer Frist einem Feiertag gleichstellt
(BBl 1962 II S. 983; ASA Bd. 32 S. 330), so dass der Fristenlauf nach
kantonalem wie nach eidgenössischem Recht an einem Samstag einsetzen
könne. Der Beschwerdeführer hat diese Betrachtungsweise - mit Recht -
nicht beanstandet.

    b) Nach § 99 Abs. 1 des kantonalen Gesetzes über die direkte Staats-
und Gemeindesteuer (StG) vom 29. Januar 1961 ist der Einspracheentscheid
dem Steuerpflichtigen "durch eingeschriebenen Brief zu eröffnen". Ein
Rekurs ist laut § 100 Abs. 2 StG "schriftlich innert 30 Tagen, von der
Zustellung des Entscheides der Vorinstanz an gerechnet", bei der kantonalen
Rekurskommission einzureichen. Das kantonale Recht umschreibt den Begriff
der "Zustellung" nicht näher und spricht sich insbesondere nicht darüber
aus, wann ein eingeschriebener Brief, der an einen Postfachinhaber
gerichtet ist, als "zugestellt" gilt. Die Rekurskommission hat sich in
dieser Hinsicht der Rechtsprechung des Bundesgerichts angeschlossen,
wonach eine eingeschriebene Sendung als an dem Tage zugestellt gilt, an
welchem die Eingangsanzeige in das Postfach gelegt wird, vorausgesetzt,
dass dies vor Schalterschluss geschieht und der Adressat so die Möglichkeit
erhält, die Sendung noch am betreffenden Tage abzuholen (BGE 46 I 63;
55 III 170; 61 II 134; 74 I 15/16, 88/89; 78 I 325 Erw. 2; 83 III 96;
ASA Bd. 32 S. 329 Erw. 1). In BGE 78 I 325 und 83 III 96 wurde mit Bezug
auf den Schalterschluss einschränkend festgestellt, massgebend seien die
ordentlichen Öffnungszeiten, die zur Bedienung geschäftlicher Unternehmen
vorgesehen sind; ausserordentliche Öffnungszeiten, mit denen etwa nachts
oder an Feiertagen die Abholung dringlicher Sendungen ermöglicht wird,
seien nicht in Betracht zu ziehen. Das Bundesgericht ist dabei jedoch
nie so weit gegangen, die allgemeine Öffnung der Postschalter am Samstag
Vormittag als ausserordentliche Öffnungszeit aufzufassen.

    Das Bundesgericht hat sich, soweit die bundesrechtlichen Fristen des
SchKG, des OG und der BStP in Frage standen, mit freier Prüfungsbefugnis
für diese Auslegung entschieden. Der Beschwerdeführer tut nicht dar,
dass die hier anwendbaren kantonalen Vorschriften von den betreffenden
bundesrechtlichen Bestimmungen abwichen. Stimmen diese Normen aber
überein, dann ist nicht einzusehen, inwiefern die Lösung. welche
das Bundesgericht bei freier Prüfung als richtig befunden hat, in
ihrer Anwendung auf das kantonale Recht unrichtig, ja darüber hinaus
schlechthin unhaltbar, mit keinen sachlichen Gründen zu vertreten und
damit willkürlich sein könnte. Die Behauptung des Beschwerdeführers, die
Praxis der Rekurskommission (und mithin auch des Bundesgerichts) schaffe
für viele Unternehmen, die zum freien Samstag übergegangen seien, eine
"vollständige Rechtsunklarheit", vermag daran nichts zu ändern. Wird das
Postfach am Samstag nicht geleert, dann lässt sich zwar nicht ohne weiteres
ersehen, seit wann die Eingangsanzeigen, die sich am Montag Morgen darin
vorfinden, im Fach liegen. Es wird jedoch vielfach möglich sein, anhand
des Aufgabestempels den Einlegungstag zu ermitteln. In Zweifelsfällen
ist dem Postfachinhaber zuzumuten, hierüber einen Bericht der Poststelle
einzuholen. Eine Gefährdung der Rechtssicherheit ist darum in dieser
Hinsicht nicht ernstlich zu befürchten.

    Der Einwand der rechtungsgleichen Behandlung geht ebenfalls
fehl. Richtig ist, dass eingeschriebene Sendungen einem Unternehmen, das
am Samstag geschlossen ist und kein Postfach hält, an diesem Tage nicht
ausgehändigt werden können; die Zustellung kann vielmehr erst am Montag
erfolgen. Ein solches Unternehmen ist damit mit Bezug auf den Fristenlauf
anders gestellt als der Postfachinhaber. Diese Verschiedenheit liesse
sich bei Anwendung der Betrachtungsweise des Beschwerdeführers beheben:
auch einem Postfachinhaber gegenüber gälte die am Samstag eingetroffene
Sendung als erst am Montag zugestellt. Es bliebe indessen dabei, dass alle
Privatpersonen ohne Postfach und alle Unternehmen in der gleichen Lage, die
am Samstag den Betrieb aufrecht erhalten, an diesem Tage eingeschriebene
Sendungen entgegenzunehmen hätten, so dass für sie die durch die Zustellung
ausgelösten Fristen nicht erst am Montag zu laufen begännen. Die sich aus
der Verschiedenheit der tatsächlichen Verhältnisse ergebenden Unterschiede
wären mithin nicht behoben; es würden vielmehr lediglich alte Unterschiede
durch neue ersetzt. Eine restlose Gleichstellung der Rechtssuchenden liesse
sich in diesem Punkte nur erreichen, wenn der Samstag auch bezüglich des
Fristbeginns wie ein Feiertag behandelt würde. Diese Lösung zu treffen,
bleibt jedoch dem Gesetzgeber vorbehalten, der nach dem in Erw. 3 a
Gesagten (aus hier nicht zur Diskussion stehenden, wichtigen Gründen)
davon abgesehen hat.

    Der Beschwerdeführer weist ferner darauf hin, dass die dreitägigen
Rechtsmittelfristen der solothurnischen ZPO und StPO nach der im
angefochtenen Entscheid vertretenen Praxis in gewissen Fällen auf einen
Tag zusammenschrumpfen würden. Er will damit offenbar eine Verletzung des
unmittelbar aus Art. 4 BV fliessenden Anspruchs auf gehörige Rechtswahrung
geltend machen. Es ist indessen festzuhalten, dass es hier nicht um
die erwähnten Fristen des Zivil- und Strafprozessrechts geht, sondern
um die dreissigtägige Rekursfrist des § 100 Abs. 2 StG. Diese ist so
lange bemessen, dass sie auch bei Anwendung der Betrachtungsweise der
Rekurskommission zur Wahrung der Rechte des Steuerpflichtigen vollauf
ausreicht.