Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 92 I 176



92 I 176

29. Urteil vom 11. Mai 1966 i.S. Emser Werke AG gegen Kanton Graubünden.
Regeste

    Nachträgliche Enteignung.

    Anwendbarkeit des Art. 41 EntG und der dort vorgesehenen
Säumnisfolgen; Änderung der Rechtsprechung (Erw. 1, 2, 3). Der Bundesrat
ist ermächtigt, einen Werkunternehmer im Weigerungsfalle zur Einleitung
des Enteignungsverfahrens zu zwingen (Erw. 4). Dieser Grundsatz greift
auch beim Bau einer Nationalstrasse Platz (Erw. 5). Rechtsstellung des
Geschädigten (Erw. 6).

Sachverhalt

    A.- Beim Bau der Nationalstrasse N 13 im Raume Ems-Bonaduz-Tamins wurde
der Landerwerb im Landumlegungsverfahren durchgeführt. Die Emser Werke AG
hatte dabei von ihrer Liegenschaft "Isla", auf der ein Wohnhaus steht,
unüberbautes Land abzutreten; es wurde ihr dafür entsprechender Ersatz
zugeteilt. Die Zuteilungen sind in Rechtskraft erwachsen. Die N 13 wurde im
Bereiche der Liegenschaft "Isla" am 7. Dezember 1964 dem Betrieb übergeben.

    B.- Am 15. Juni 1965 machte die Emser Werke AG gegenüber dem Tiefbauamt
des Kantons Graubünden geltend, ihr Haus habe an Wert eingebüsst, da
es nun an vier Seiten von Strassen umgeben sei und die Bewohner Tag
und Nacht vom Lärm und Scheinwerferlicht gestört würden. Die Einbusse
werde auf 45 000 bis 55 000 Franken geschätzt, in welchem Umfang Ersatz
verlangt werde. Das Tiefbauamt antwortete am 20. Oktober 1965, dass es zur
Zeit nicht in der Lage sei, das Begehren präjudizierlich zu behandeln;
es ziehe vor, dass die Emser Werke AG ihre Forderung bei der Eidg.
Schätzungskommission VII gemäss Art. 41 Abs. 1 lit. c EntG anmelde. Dies
geschah am 5. November 1965.

    C.- Der Präsident der Eidg. Schätzungskommission ist auf das Begehren
nicht eingetreten. Der Begründung ist zu entnehmen:

    Die behauptete Schädigung der Liegenschaft sei schon zur Zeit der
Planauflage im Jahre 1962 erkennbar gewesen. Die Emser Werke AG könne
sich daher nicht auf den Restitutionsgrund des Art. 41 Abs. 1 lit. c
EntG berufen. Aber selbst wenn ein solcher Grund vorläge, wäre die
Eingabefrist, die am 7. Dezember 1964 mit der Übergabe der Strasse an
den Verkehr zu laufen begonnen habe, verpasst. In jedem Falle hätte die
Eigentümerin nicht 300 Tage zuwarten dürfen, bis sie ihre Ansprüche geltend
machte. Sie vermöge denn auch nicht nachzuweisen, dass sie während dieser
Zeit durch Vergleichsverhandlungen von der nachträglichen Eingabe beim
Präsidenten der Schätzungskommission abgehalten worden sei.

    D.- Diesen Entscheid hat die Emser Werke AG an das Bundesgericht
weitergezogen. Sie macht geltend, erst Ende Mai/Anfangs Juni 1965
habe man sich Rechenschaft geben können, wie sich der Verkehr auf der
Nationalstrasse auf die Liegenschaft auswirke. Schon am 12. April 1965 habe
sie jedoch einen Anwalt beigezogen und in der Folge sei sie immer mit dem
Kanton in Fühlung geblieben. Eine Verwirkung sei daher nicht eingetreten.

    E.- Der Kanton Graubünden beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen. Der
Landerwerb sei nicht, wie sich aus dem Rekurs zu ergeben scheine, im
Enteignungs-, sondern im Landumlegungsverfahren erfolgt. Die Immissionen
seien schon seit der Planauflage voraussehbar gewesen. Zumindest hätten
die behaupteten Lärm- und Lichteinwirkungen innert der Notfrist des
Art. 41 Abs. 2 EntG, d.h. 30 Tage nach dem 7. Dezember 1964, geltend
gemacht werden müssen.

    Der Präsident der Schätzungskommission beantragt ebenfalls, die
Beschwerde sei abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Anwendung des Art. 41 EntG erfordert ein vorausgegangenes
Enteignungsverfahren. Dies ergibt sich schon aus der Stellung des Art. 41
im Gesetz und aus dessen Wortlaut. Die Art. 35-41 EntG stehen unter
dem zusammenfassenden Titel "VI. Einsprachen und Forderungen". Art. 35
handelt von der Eingabefrist der Einsprachen, Art. 36 von der allfälliger
Forderungen. Die Art. 39 bis 41 ordnen die Säumnisfolgen. Art. 41
EntG umschreibt insbesondere die Zulässigkeit nachträglicher
Entschädigungsforderungen. Dies zeigt, dass in Art. 41 nur die Folgen der
versäumten Forderungseingabe in einem Enteignungsverfahren geregelt werden
wollten. Auch der Wortlaut des Art. 41 EntG knüpft mit den Ausdrücken
"Ablauf der Eingabefrist" und "Durchführung des Schätzungsverfahrens"
an das vorausgegangene Verfahren an.

Erwägung 2

    2.- Das Bundesgericht hat aus den genannten Gründen die Anwendung des
Art. 41 EntG zunächst allein von einem vorgängigen Enteignungsverfahren
abhängig gemacht (BGE 67 I 172 ff.). Es hat darüber hinaus in BGE 88 I
194 ff. erkannt, dass auch derjenige nach Art. 41 EntG vorgehen könne,
dessen Grundstück von der Planauflage nicht berührt worden sei, weil das
Unternehmen in der betreffenden Gegend gar nicht auf den zwangsweisen
Erwerb von Rechten angewiesen war; es genüge, dass das Unternehmen das
Enteignungsrecht für das Werk als solches erhalten und dass es davon für
andere Teile des Werks Gebrauch gemacht habe. Der genannte Entscheid wirft
ferner die Frage auf, ob Art. 41 EntG nicht zudem "analog" anwendbar sei,
falls ein Enteignungsverfahren zwar durchgeführt, dabei aber demjenigen,
der nachträglich Entschädigungsansprüche erhebt, keine Eingabefrist
angesetzt worden sei (S. 198/99).

    An der Betrachtungsweise dieses Urteils kann nicht festgehalten werden.
Der Geschädigte wird nur säumig, wenn ihm Gelegenheit geboten worden ist,
seine Forderungen rechtzeitig anzumelden. Diese Gelegenheit besass er nicht
schon, wenn irgendwo für das betreffende Werk eine Enteignung durchgeführt
wurde, sondern nur, wenn eine öffentliche Auflage in der Gemeinde der
gelegenen Sache erfolgte oder ihm eine persönliche Anzeige zuging. Es
besteht kein Anlass, einen Geschädigten, der nicht in diesem Sinne säumig
geworden ist, mit den Nachteilen zu belasten, denen die Durchsetzung
der Forderungen nach Art. 41 EntG begegnet. In diesem Sinne hat auch
der Bundesrat entschieden (Verwaltungsentscheide der Bundesbehörden [VE]
1948/50 Nr. 180).

Erwägung 3

    3.- Zwar hat im vorliegenden Fall eine Planauflage stattgefunden,
doch handelte es sich dabei um die Projektauflage nach Art. 26 des
Bundesgesetzes über die Nationalstrassen vom 8. März 1960. Während einer
solchen können Einsprachen gegen das Ausführungsprojekt oder die darin
enthaltenen Baulinien (Art. 27) angemeldet werden. Forderungen sind
dagegen nach Art. 39 Abs. 2 des erwähnten Gesetzes in einem besonders
einzuleitenden Enteignungsverfahren anzumelden.

    Im Bereich der Liegenschaft "Isla" wurde ein Landumlegungsverfahren
durchgeführt. Es fehlt daher an einem Enteignungsverfahren, in dem
die Emser Werke AG hätte säumig werden können und auf welches die
Säumnisvorschriften des Art. 41 EntG anzuwenden wären. Die Beschwerde
ist daher grundsätzlich abzuweisen.

Erwägung 4

    4.- Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Emser Werke AG
des Rechtsschutzes entbehre. Wohl ist ihr der direkte Weg zur
Schätzungskommission versperrt; denn diese ist - ausser im Säumnisfalle
des Art. 41 EntG - nicht befugt, den Werkunternehmer zur Einleitung des
Enteignungsverfahrens zu zwingen (BGE 67 I 172/3, 88 I 196). Einzig
der Werkeigentümer, dem das Enteignungsrecht verliehen worden ist,
kann ein Enteignungsverfahren anhängig machen (Art. 2 und 3 EntG). Das
Gesetz sagt zwar nicht, was zu geschehen habe, wenn ein im Besitze
des Enteignungsrechts befindlicher Unternehmer sich weigert, das
Verfahren einzuleiten. Das heisst aber nicht, dass insofern eine Lücke
bestehe. Vielmehr gilt die Ordnung, die sich aus Art. 102 Ziff. 2 BV
ergibt; denn das Enteignungsgesetz ist ein Administrativgesetz des Bundes,
dessen Beachtung der Aufsicht des Bundesrates untersteht. Dieser ist
somit ermächtigt, einen Werkunternehmer nötigenfalls zur Einleitung des
Expropriationsverfahrens zu veranlassen (BGE 67 I 172 unten, 88 I 196;
VE 1948/50 Nr. 180).

Erwägung 5

    5.- Diese Grundsätze greifen auch Platz, falls es, wie im vorliegenden
Fall, um den Bau einer Nationalstrasse geht. Das Bundesgesetz über
die Nationalstrassen sieht vor, dass der Landerwerb, abgesehen vom
freihändigen Kauf, nicht bloss auf dem Wege der Enteignung, sondern
auch durch Landumlegung erfolgen kann. Was zu geschehen habe, wenn
der Schaden - wie hier behauptet - durch den Landabtausch nicht voll
gedeckt wird, sagt das Gesetz selber nicht. Hingegen können Art. 21 und
23 der Vollziehungsverordnung des Bundesrates vom 23. März 1964 nach ihrem
Wortlaut dahin ausgelegt werden, dass bei Wahl des Landumlegungsverfahrens
zur Deckung auf diesem Wege nicht erfassbaren Schadens zusätzlich ein
Enteignungsverfahren eingeleitet werden soll. Diese Auslegung ist sinnvoll;
denn die Landumlegung enthält, soweit sie die Überführung bestimmter
Parzellen in die Hände des Gemeinwesens bezweckt, einen eigentlichen
Expropriationsvorgang (MEIER-HAYOZ, Kommentar zum Sachenrecht, 1. Teilband
Systematischer Teil, 4. Aufl., S. 175 N. 232 c). Ein Enteignungsverfahren
kann sich auch bei im übrigen freihändigem Landerwerb zum Schutze von
Nachbarrechten als notwendig erweisen.

    Der Wortlaut des Art. 32 BG über die Nationalstrassen lässt den
Schluss zu, dass es Sache der Kantone ist, das Enteignungsverfahren
anzuordnen. Am 30. Mai 1961 hat der Grosse Rat des Kantons Graubünden die
Verordnung über den Vollzug des Bundesgesetzes über die Nationalstrassen
erlassen. Diese verfügt in Art. 17 Abs. 2, dass der Kleine Rat die für den
Landerwerb anwendbare Erwerbsart bestimme. Offenbar bedeutet dies auch,
dass der Kleine Rat die Ermächtigung erteilt, das Enteignungsverfahren
durchzuführen. Er wird daher - in Nachachtung von Art. 23 der
eidgenössischen Vollzugsverordnung - das Enteignungsverfahren zu verfügen
haben, wenn behauptet wird, das Landumlegungsverfahren habe berechtigten
Ersatzansprüchen eines Grundeigentümers nicht genügt. Sollte sich der
Kleine Rat weigern, das Verfahren einzuleiten, so steht den Geschädigten
nach dem in Erwägung 4 Gesagten die Beschwerde an den Bundesrat offen.

Erwägung 6

    6.- Geht man hievon aus, so hat die Emser Werke AG einen Anspruch, dass
der Kleine Rat im vorliegenden Streitfall das Enteignungsverfahren eröffne,
allenfalls einen begründeten, an den Bundesrat weiterziehbaren Entscheid
erlasse. Da sie nicht säumig ist (vgl. Erw. 3), geniesst sie die vollen
Rechte eines Geschädigten im Enteignungsverfahren; insbesondere entfallen
ihr gegenüber die Verwirkungseinreden des Art. 41 EntG. Dadurch, dass
der Kleine Rat auf Ersuchen der Emser Werke AG das Enteignungsverfahren
eröffnet, anerkennt er deren Forderung weder grundsätzlich noch der Höhe
nach (vgl. hiezu VE 1948/50 Nr. 180 letzter Absatz).

Erwägung 7

    7.- Muss zwar die Beschwerde im Sinne der Erwägungen abgewiesen
werden, so besteht trotzdem kein Anlass, der Beschwerdeführerin Kosten
aufzuerlegen. Indem sie sich seinerzeit an die Verwaltung wandte, hat
sie grundsätzlich den richtigen Weg beschritten.

Entscheid:

                 Demnach erkennt das Bundesgericht:

    1.- Die Beschwerde wird im Sinne der Erwägungen abgewiesen.

    2.- Es werden keine Kosten erhoben.