Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 92 IV 7



92 IV 7

3. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 25. Februar 1966
i.S. T. und ihres Vormundes W. gegen Jugendanwaltschaft der Stadt Bern.
Regeste

    Art. 191 Ziff. 1 und 2 StGB.

    Der Unzucht mit Kindern kann sich auch schuldig machen, wer selber
noch ein Kind ist.

Sachverhalt

    A.- Die 1949 geborene, bei Pflegeeltern aufgewachsene T.  liess sich
1963 und 1964 verschiedentlich von Knaben, die ebenfalls noch nicht
16-jährig waren, bereitwillig ausziehen und unzüchtig betasten. Mit
einzelnen von ihnen tauschte sie Zungenküsse und beging abwechslungsweise
mit dem einen und andern beischlafsähnliche und andere unzüchtige
Handlungen. Schliesslich kam es zwischen ihr und einem der Knaben auch
zum Beischlaf.

    B.- Die Jugendanwaltschaft der Stadt Bern erklärte T. am 18. September
1965 der wiederholten Unzucht mit Kindern gemäss Art. 191 Ziff. 1 und 2
StGB schuldig. Sie beschloss, T. gestützt auf Art. 91 Ziff. 1 StGB in ein
Erziehungsheim einzuweisen. Einen dagegen erhobenen Rekurs der Fehlbaren
und ihres Vormundes wies der Regierungsrat des Kantons Bern am 26. Oktober
1965 ab.

    C.- Hiegegen führen T. und ihr Vormund Nichtigkeitsbeschwerde mit
dem Antrag auf Freisprechung oder Anordnung einer milderen Massnahme.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

    Unbestritten ist, dass die von den kantonalen Behörden der T. zur Last
gelegten Handlungen den Tatbestand der Unzucht mit Kindern nach Art. 191
Ziff. 1 und 2 StGB erfüllen. Dass T. die unzüchtigen Handlungen mit Wissen
und Willen beging, hat der Regierungsrat für den Kassationshof verbindlich
festgestellt, indem er hiezu ausführte, aus ihren eigenen Aussagen gehe
hervor, dass sie sich mit den Knaben oft verabredete und diese u.a. auch zu
Hause aufsuchte, damit unzüchtige Handlungen vorgenommen werden konnten,
während sie ihrer Pflegemutter erklärte, sie beabsichtige, eine Kameradin
zu treffen. Aus diesem planmässigen Vorgehen und selbständigen Handeln
lasse sich schliessen, dass T. nicht das Opfer der Knaben geworden sei,
sondern von sich aus die Gelegenheit gesucht habe, Unzucht um ihrer
Befriedigung willen zu treiben.

    Die Beschwerdeführer stellen dies nicht in Abrede. Sie halten
aber unter Berufung auf BGE 69 IV 175 dafür, Art. 191 StGB sei auf die
sittlichen Entgleisungen der T. mit den (gleich verantwortlichen) Knaben
nicht anwendbar. Das Bundesgericht sei allerdings von der erwähnten
Rechtsprechung in BGE 82 IV 156 abgewichen, indem es erklärt habe, dass
auch Unzuchtshandlungen zwischen Kindern unter 16 Jahren von Art. 191
StGB erfasst werden. Indessen rechtfertige sich gerade im Lichte der
jüngsten Entwicklung, diese Rechtsprechung nochmals zu überprüfen. Alle
Jugendpsychologen wiesen auf die Tatsache hin, dass in der physischen
und psychischen Entwicklung der Kinder und Jugendlichen in den letzten 30
Jahren wesentliche Veränderungen eingetreten seien. Die Geschlechtsreife
trete sowohl bei Mädchen und Knaben ungefähr 2 Jahre früher ein als
noch vor 20 Jahren. Die geistige und seelische Entwicklung halte aber
mit der viel früher eintretenden körperlichen Reife nicht Schritt. Die
Sexualnot sei dementsprechend gegenüber früher vorverlegt und der
Drang zu geschlechtlicher Betätigung trete bereits in einem Zeitpunkt
ein, da die jungen Menschen diesem Drang keinen genügenden Widerstand
entgegenzusetzen vermöchten. Dementsprechend gehe es nicht an, die
Jugendlichen für unzüchtige Handlungen oder gar den Geschlechtsverkehr
in derselben Weise verantwortlich zu machen, wie ältere Leute, die mit
Kindern unter 16 Jahren geschlechtliche Beziehungen unterhielten.

    Allein, die Erkenntnis ist nicht neu, dass bei Jugendlichen die
geistige und charakterliche Entwicklung und Reifung häufig hinter der
körperlichen zurückbleiben, wie es auch eine Erfahrungstatsache ist,
dass es Fälle gibt, in denen bei Mädchen oder Knaben die Pubertät mit
allen damit verbundenen innern und äussern Entwicklungsschwierigkeiten
schon vor der im Gesetz berücksichtigten Altersstufe einsetzt. "Vorverlegte
Sexualnot", wie sie die Beschwerdeführer geltend machen, ist kein Freibrief
und kann es umsoweniger sein, als Art. 191 StGB Kinder unter 16 Jahren
schlechthin, und zwar auch gegen ihre eigenen Schwächen, schützen will
(BGE 72 IV 67, 73 IV 155, 78 IV 81, 82 IV 157; vgl. ferner 86 IV 213).

    Zu Unrecht wenden die Beschwerdeführer ein, den Jugendlichen
würden damit unzüchtige Handlungen in derselben Weise angelastet wie
Erwachsenen. Das trifft schon deshalb nicht zu, weil auch bei gleichen
Straftatbeständen die Massnahmen des Jugendstrafrechtes ganz andere und
bedeutend mildere sind als diejenigen für Erwachsene; sie sind vor allem
darauf ausgerichtet, erzieherisch und fürsorgerisch auf den jugendlichen
Fehlbaren zu wirken (vgl. THORMANN-OVERBECK, Vorbem. 6 zu Art. 82
ff. StGB).

    Ebensowenig hilft den Beschwerdeführern die Berufung auf BGE 82 IV 157
(unten), worin gesagt wurde, dass nicht jede unzüchtige Handlung, der sich
Kinder im Schutzalter hingeben, strafbar sei, da es sich dabei häufig
um kindliche Spielereien oder Unarten handle, gegen die einzuschreiten
wohl Sache der Erzieher und allenfalls der Vormundschaftsbehörde, nicht
aber des Strafrichters sei. Die Unzuchtshandlungen, die der T. zur Last
gelegt werden, gehen über solche Spielereien oder Unarten hinaus. Das
gilt nicht nur für den Beischlaf und die wiederholten beischlafsähnlichen
Handlungen (vgl. BGE 82 IV 158 oben), sondern trifft ebenso auf die
übrigen unzüchtigen Handlungen zu, die - wie auch die Zungenküsse -
nach den gesamten Umständen nicht einen harmlosen Verstoss gegen das
Sittlichkeitsgefühl darstellen (vgl. BGE 76 IV 276/277).